Aktenzeichen 9 CS 16.2088
Leitsatz
Das Gebot der Rücksichtnahme schützt grundsätzlich nicht vor der Möglichkeit, in andere Grundstücke von benachbarten Häusern aus Einsicht nehmen zu können (vgl. VGH München BeckRS 2014, 51314 mwN). (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
W 4 S 16.929 2016-09-20 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg
Tenor
I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,– Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der Antragsteller wendet sich gegen Erteilung einer Baugenehmigung durch das Landratsamt Aschaffenburg für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit Stellplätzen an den Beigeladenen.
Die Beigeladenen sind Eigentümer der FlNr. …/… Gemarkung S., das im Osten an die S.-gasse und im Süden an die W…straße grenzt. Der Antragsteller ist Eigentümer des westlich gelegenen Grundstücks FlNr. … Gemarkung S., das mit zwei Wohngebäuden bebaut ist. Das südöstlich gelegene (Altbestands-)Gebäude hält dabei in Folge einer Grundstücksteilung im Jahr 1974 an seiner Nordostecke nur einen Abstand von 0,5 m zur Grenze des Grundstücks der Beigeladenen ein.
Mit Unterlagen vom 30. Dezember 2015 beantragten die Beigeladenen die Erteilung einer Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit fünf Wohneinheiten und neun Stellplätzen auf dem Grundstück FlNr. …/… Gemarkung S. Das Landratsamt Aschaffenburg erteilte hierzu mit Bescheid vom 21. Juni 2016 die Baugenehmigung.
Gegen den Baugenehmigungsbescheid hat der Antragsteller mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 25. Juli 2016 Klage (Az. W 4 K 16.754) erheben lassen, über die noch nicht entschieden ist. Mit Schreiben vom 7. September 2016 hat er zudem vorläufigen Rechtsschutz beantragen lassen, den das Verwaltungsgericht Würzburg mit Beschluss vom 20. September 2016 abgelehnt hat. Zur Begründung wurde u. a. ausgeführt, dass sich der Antragsteller nicht auf einen Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht berufen könne und eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften des Bauplanungsrechts nicht erkennbar sei. Es werde gegenüber dem Antragsteller weder der Gebietserhaltungsanspruch noch das Gebot der Rücksichtnahme verletzt. Die Kammer gehe dabei anders als der Antragsteller auch nicht davon aus, dass es infolge der Teilung des Grundstücks zu einer Erstreckung der Abstandsflächen des südöstlichen Gebäudes auf FlNr. … Gemarkung S. auf das Baugrundstück gekommen sei.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde.
Er beantragt,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 20. September 2016 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage des Antragstellers vom 25. Juli 2016 gegen den Bescheid des Landratsamts Aschaffenburg vom 21. Juni 2016 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beigeladenen beantragen ebenfalls,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte verwiesen.
II. Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf die die Prüfung im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt, weil die Klage des Antragstellers voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Die angefochtene Baugenehmigung vom 21. Juni 2016 verstößt – worauf es allein ankommt – nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, die zumindest auch dem Schutz des Antragstellers zu dienen bestimmt sind.
1. Die Frage, ob die Abstandsflächen durch das Bauvorhaben eingehalten werden, ist für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage nicht entscheidungserheblich.
Eine Verletzung von Nachbarrechten, insbesondere eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme durch die angefochtene Baugenehmigung kommt nur insoweit in Betracht, als die gerügte Rechtsverletzung auch Gegenstand des Prüfprogramms im Baugenehmigungsverfahren war. Die angefochtene Baugenehmigung wurde ausweislich des Genehmigungsbescheids im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Artikel 68 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 59 BayBO erteilt. Die Feststellungswirkung der Baugenehmigung ist deshalb auf die in Art. 59 Satz 1 BayBO genannten Kriterien beschränkt. Die Prüfung der Abstandsflächenvorschriften nach Art. 6 BayBO ist darin nicht vorgesehen; eine Abweichung (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) wurde weder beantragt noch erteilt. Eine Verletzung von Nachbarrechten der Antragstellerin durch die angefochtene Baugenehmigung wegen Nichteinhaltung von Abstandsflächen kommt deshalb nicht in Betracht (vgl. BayVGH, B. v. 8.8.2016 – 9 ZB 14.2808 – juris Rn. 9).
Dies gilt auch, soweit der Antragsteller auf eine Prüfung der Abstandsflächen im Rahmen des Rücksichtnahmegebots abstellt. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass alleine eine – unterstellte – Verletzung der Abstandsflächenvorschriften eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots indizieren würde (BayVGH, B. v. 23.3.2016 – 9 ZB 13.1877 – juris Rn. 7 m. w. N.). Soweit das Verwaltungsgericht die Abstandsflächenvorschriften prüft und hierzu Ausführungen macht, sind diese nicht entscheidungserheblich (vgl. BayVGH, B. v. 8.8.2016 – 9 ZB 14.2808 – juris Rn. 9).
2. Der Antragsteller kann sich auch im Übrigen nicht mit Erfolg auf eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme berufen.
Maßgebend für die Frage der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme durch das Bauvorhaben des Beigeladenen gegenüber dem Antragsteller sind die Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, U. v. 20.12.2012 – 4 C 11.11 – juris Rn. 32). Das Verwaltungsgericht ist hierbei im Rahmen einer Würdigung der Gesamtumstände zu dem Ergebnis gekommen, dass das genehmigte Bauvorhaben gegenüber dem Antragsteller nicht rücksichtslos ist. Hiergegen ist auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens nichts zu erinnern.
a) Soweit der Antragsteller eine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens wegen Einsichtnahmemöglichkeit geltend macht, bleibt die Beschwerde erfolglos. Das Gebot der Rücksichtnahme schützt grundsätzlich nicht vor der Möglichkeit, in andere Grundstücke von benachbarten Häusern aus Einsicht nehmen zu können (BayVGH, B. v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 13 m. w. N.). Eine Ausnahmesituation ist hier trotz des geringen Abstandes des genehmigten Wohngebäudes zur Grundstücksgrenze von 3,50 m an der engsten Stelle aufgrund der örtlichen Gegebenheiten, wie sie sich ausweislich der in den Akten befindlichen Bilder, Lagepläne und Luftbilder darstellt, nicht ersichtlich. Der Antragsteller kann sich auch nicht darauf berufen, ihm werde durch das Bauvorhaben die Aussicht nach Osten genommen (vgl. BayVGH, B. v. 17.6.2010 – 15 ZB 09.2132 – juris Rn. 13).
b) Es ist auch nicht von einer erdrückenden Wirkung des genehmigten Mehrfamilienwohngebäudes gegenüber dem Antragsteller auszugehen. Eine solche erdrückende Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Bauvolumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BayVGH, B. v. 8.8.2016 – 9 ZB 14.2808 – juris Rn. 6). Dies ist hier ausweislich der vorliegenden Baupläne und Bilder nicht der Fall. Beim Vergleich des Bauvolumens ist dabei nicht allein auf die Abmessungen des geplanten Wohngebäudes im Verhältnis zu den einzelnen Gebäuden des Antragstellers abzustellen, sondern der gesamte Gebäudekomplex auf dem Grundstück des Antragstellers zu berücksichtigen. Abgesehen davon sind über eine Sichtbeeinträchtigung und mögliche Verschattung hinaus aber mit dem Bauvorhaben keine Beeinträchtigungen verbunden, wie sie regelmäßig mit baulichen Anlagen und deren Nutzung einhergehen (vgl. BayVGH, B. v. 3.5.2011 – 15 ZB 11.286 – juris Rn. 13). Zudem befindet sich das genehmigte Bauvorhaben nur im Osten des Grundstücks des Antragstellers, während im Westen und Norden jeweils eine (annähernde) Grenzbebauung besteht, der Süden jedoch frei bleibt. Die örtliche Situation mag daher für den Antragsteller unbefriedigend sein, „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird er von dem Vorhaben der Beigeladenen jedoch nicht.
c) Schließlich ist die vom Antragsteller angeführte Wertminderung seines Grundstücks als Folge der Ausnutzung der einem Dritten erteilten Baugenehmigung kein Maßstab dafür, ob Beeinträchtigungen zumutbar sind oder nicht (BayVGH, B. v. 28.1.2016 – 9 ZB 12.839 – juris Rn. 24 m. w. N.). Ein allgemeiner Rechtssatz, dass der Einzelne einen Anspruch darauf hat, vor jeglicher Wertminderung bewahrt zu bleiben, besteht nicht (vgl. BayVGH, B. v. 1.3.2016 – 15 CS 16.244 – juris Rn. 24). Anhaltspunkte für eine unzumutbare Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeiten des Grundstücks des Antragstellers sind weder dargelegt noch ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten erstattet erhalten (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i. V. m. Nr. 9.7.1 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).