Baurecht

Baugenehmigung für Lager- und Logistikhalle ohne Errichtung einer Lärmschutzwand – unwirksame Festsetzung eines Sondergebiets

Aktenzeichen  M 11 K 16.3888

Datum:
1.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauNVO BauNVO § 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, § 9 Abs. 3 Nr. 1, § 11
BImSchG BImSchG § 17, § 24

 

Leitsatz

1. Die wirksame Festsetzung eines Sondergebiets nach § 11 BauNVO setzt einen wesentlichen Unterschied zu den Baugebieten nach §§ 2 bis 9 BauNVO voraus. Ein solcher liegt vor, wenn ein Festsetzungsgehalt gewollt ist, der sich keinem der nach §§ 2 bis 9 BauNVO geregelten Gebietstypen zuordnen und der sich deshalb sachgerecht auch mit einer auf sie gestützten Festsetzung nicht erreichen lässt. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zum Merkmal des wesentlichen Unterschieds gehört, dass eine Sondergebietsfestsetzung nicht zu einer Umgehung des grundsätzlichen Typenzwangs der BauNVO führen darf. Eine Sondergebietsfestsetzung ist demnach unzulässig, wenn sie zu einer Zusammenfassung von verschiedenen Arten von Nutzungen führt, für die die Baugebietsvorschriften der §§ 2 bis 9 BauNVO abschließende Regelungen enthalten. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Mit der Zweckbestimmung eines Gewerbegebiets ist Wohnnutzung – über die in § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen hinaus – grundsätzlich unvereinbar. Jede Art von Mitarbeiterunterkünften oder Mitarbeiterwohnheimen im Gewerbegebiet, die über § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO hinausgehen, sind deshalb unzulässig. (Rn. 38 – 39) (redaktioneller Leitsatz)
4. Aus dem Umstand, dass mit dem Nacht-Immissionsrichtwert der TA Lärm dem Ruhe- und Schlafbedürfnis Rechnung getragen werden soll, folgt, dass eine im Gewerbegebiet vorhandene nächtliche Büronutzung nicht zur Anwendung des Nacht-Immissionsrichtwerts führt. (Rn. 45 – 46) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Landratsamts … vom 16.08.2016, Az. : …, verpflichtet, der Klägerin eine Baugenehmigung gemäß dem Bauantrag vom 14.06.2016 zu erteilen.
II.
Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV.
Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Klage hat Erfolg.
1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung für die Lager- und Logistikhalle gemäß dem Antrag – auf den sich die Klägerin in ihrem Antrag offenkundig bezieht – vom 14. Juni 2016, also ohne dass darin Auflagen enthalten sind, wonach auf den Grundstücken Fl. Nr. … und Fl. Nr. … nachts Immissionsrichtwerte von 50 dB(A) einzuhalten sind und hieraus resultierend, ohne dass die streitgegenständliche Lärmschutzwand errichtet werden muss.
a) Bezüglich des Grundstücks Fl. Nr. … folgt die Rechtswidrigkeit der Auflage, einen Immissionsrichtwert von 50 dB(A) nachts einzuhalten und der damit verbundenen Anforderung der Errichtung einer Schallschutzwand daraus, dass die Festsetzung des Sondergebiets „SO8“ durch den Bebauungsplan unwirksam ist und das Grundstück folglich im Außenbereich liegt.
Das festgesetzte Sondergebiet „Bauunternehmung mit Mitarbeiterunterkünften“ unterscheidet sich nicht wesentlich i.S.d. § 11 Abs. 1 BauNVO von einem Gewerbegebiet nach § 8 BauNVO.
Ein wesentlicher Unterschied i.d.S., bei dem es sich um eine notwendige Voraussetzung für die wirksame Festsetzung eines sonstigen Sondergebiets nach § 11 BauNVO handelt, liegt vor, wenn ein Festsetzungsgehalt gewollt ist, der sich keinem der in den §§ 2 ff. BauNVO geregelten Gebietstypen zuordnen und der sich deshalb sachgerecht auch mit einer auf sie gestützten Festsetzung nicht erreichen lässt (BVerwG, U. v. 29.09.1978 – 74 C 30.76 – juris Rn. 31).
Zwar lässt sich, wie die Gemeinde in der Begründung des Bebauungsplans selbst ausgeführt hat, der gewünschte Inhalt der Festsetzung gerade nicht mit der Festsetzung eines Gewerbegebiets nach § 8 BauNVO erreichen. In Letzterem sind Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter ausnahmsweise zulässig, § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO. Diese könnten zwar gemäß § 1 Abs. 6 Nr. 2 BauNVO als allgemein zulässig festgesetzt werden. Allerdings ergibt sich aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 8 Abs. 3 Nr. 1
BauNVO, dass Wohnungen nur für diesen ausdrücklich genannten Teil der Belegschaft zulässig sind. Wohnungen für Mitarbeiter schlechthin, mithin den Hauptteil der Belegschaft, sind gerade nicht zulässig. Auch die Vorschriften des § 1 Abs. 4 bis 10 BauNVO räumen keine Möglichkeit einer Erweiterung der Wohnnutzung über den in § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO genannten Personenkreis hinaus ein.
Insoweit unterscheidet sich das festgesetzte Gebiet, in dem Unterkünfte für Mitarbeiter insgesamt allgemein zulässig sind, von einem Gewerbegebiet nach § 8 BauNVO. Allerdings gehört zum Merkmal des „wesentlichen Unterschieds“ ebenfalls, dass eine Sondergebietsfestsetzung nicht zu einer Umgehung des grundsätzlichen Typenzwangs der BauNVO, die Ausfluss einer sachgerechten Inhaltsbestimmung des Eigentums ist, führen darf. Den Gemeinden steht mithin kein unbegrenztes „Baugebietserfindungsrecht“ nach § 11 Abs. 1 und 2 BauNVO zu. Eine Sondergebietsfestsetzung ist demnach u.a. unzulässig, wenn sie zu einer Zusammenfassung von verschiedenen Arten von Nutzungen führt, für die die Baugebietsvorschriften der§§ 2 bis 9 BauNVO abschließende Regelungen enthalten. Für die Beurteilung dieser Frage ist demnach auf die sich aus den Baugebietsvorschriften der §§ 2 bis 9 BauNVO ergebenden Wertungen der BauNVO mit ihren abschließenden Regelungen der Baugebiete, unterschieden nach Zweckbestimmung und Zulässigkeit von Vorhaben, abzustellen. (vgl. zu all dem Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 122. EL August 2016, § 11 BauNVO, Rn. 19). Entscheidendes Kriterium, ob sich das festgesetzte Sondergebiet im oben dargestellten Sinne wesentlich von einem Baugebietstyp im Sinne der §§ 2 bis 10 BauNVO unterscheidet, ist dabei die Zwecksetzung des Baugebiets. Zu vergleichen sind die konkreten Festsetzungen des Sondergebiets mit der jeweiligen „abstrakten“ allgemeinen Zweckbestimmung des Baugebietstyps (vgl. BVerwG, U. v. 28.05.2009 – 4 CN 2/08 – juris Rn. 10).
Nach gefestigter Rechtsprechung ist die allgemeine Zweckbestimmung eines Gewerbegebiets die Unterbringung von gewerblichen Betrieben. Dagegen soll in Gewerbegebieten gerade nicht gewohnt werden. Dies ergibt sich zum einen aus dem Verhältnis zu den §§ 2 bis 7 BauNVO. Letztere sind vornehmlich oder zumindest auch zum Wohnen bestimmt, während nach § 8 Abs. 1 BauNVO Gewerbegebiete vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben dienen. Zum anderen folgt dies aus § 8 Abs. 3 Nr. 1 bzw. § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO, nach denen Wohnungen nur in untergeordneter Größe und nur für einen genau bestimmten Personenkreis, gleichsam als notwendige Ergänzung der gewerblichen Nutzung ausnahmsweise zugelassen werden können (vgl. BVerwG, U. v. 29.04.1992 – 4 C 43/89 – juris Rn. 19; BayVGH, U. v. 16.02.2015 – 1 B 13.648 – juris Rn. 25).
Mit dieser Zweckbestimmung eines Gewerbegebiets ist Wohnnutzung – über die in § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen – grundsätzlich unvereinbar. In der Rechtsprechung wird daher jede Art von Mitarbeiterunterkünften oder Mitarbeiterwohnheimen, die über § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO hinausgehen, als unzulässig angesehen (vgl. nur Leitsatz des BayVGH, U. v. 16.02.2015 – 1 B 13.648 – juris). Die Festsetzung des Sondergebiets erfolgte hier zudem gerade deshalb, weil es sich bei dem Bauunternehmen, das angesiedelt werden sollte, um einen nicht mehr mischgebietsverträglichen, sondern nur noch im Gewerbegebiet (oder Industriegebiet) zulässigen Betrieb handelt und dort Mitarbeiterunterkünfte bzw. – wohnheime unzulässig sind (vgl. Begründung zum Bebauungsplan, S. 9 unten). Da vorliegend nach den Wertungen der BauNVO unvereinbare Nutzungen miteinander kombiniert wurden, ist die für diesen Bereich festgesetzte Art der baulichen Nutzung unwirksam. Dies führt dazu, dass der Bebauungsplan hinsichtlich dieser Teilfläche insgesamt unwirksam ist, weil insoweit nur ein Planungstorso ohne sinnvolle städtebauliche Ordnung übrig bliebe.
Daraus folgt nach den Feststellungen des Gerichts im Rahmen des Augenscheins, dass das bisher unbebaute Grundstück Fl. Nr. … dem Außenbereich zuzuordnen ist. Es grenzt nur an zwei Seiten, nämlich in Richtung des Grundstücks der Klägerin und in Richtung des Grundstücks Fl. Nr. … an prägende Bebauung an. In nördlicher und westlicher Richtung ist keinerlei Bebauung vorhanden. Topographische Besonderheiten bestehen nicht. Folglich liegt das Grundstück außerhalb eines Bebauungszusammenhangs.
Aufgrund der Lage des Grundstücks im Außenbereich kann die Einhaltung des Grenzwerts der Nr. 6.1 b) TA Lärm für Gewerbegebiete von nachts 50 dB(A) sowie die hierauf abzielende Errichtung einer Schallschutzmauer bezogen auf dieses Grundstück von der Klägerin nicht verlangt werden.
b) Bezüglich des Grundstücks Fl. Nr. … folgt die Rechtswidrigkeit der Auflage, einen Immissionsrichtwert von 50 dB(A) nachts einzuhalten, daraus, dass auf diesem Grundstück derzeit keine schutzbedürftige Nutzung zur Nachtzeit vorhanden und mit einer solchen auch in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.
Dabei kann offen bleiben, ob die Festsetzung des Gewerbegebiets „GE 8“ im Bebauungsplan, in dem sich das Grundstück Fl. Nr. … befindet, als solche wirksam ist bzw. wie sich die Unwirksamkeit der Festsetzung „SO 8“ auswirkt, da selbst im Falle der Unwirksamkeit der Festsetzung „GE 8“ nach den im Augenschein getroffenen Feststellungen für das o.g. Grundstück jedenfalls aufgrund der Eigenart der näheren Umgebung von einer Lage in einem faktischen Gewerbegebiet und daher bezogen auf Lärmimmissionen von einem entsprechendem Schutzanspruch auszugehen ist.
Auf dem Grundstück Fl. Nr. … befinden sich keine Wohnungen gemäß § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen bzw. Betriebsinhaber oder Betriebsleiter. Auch die dortige Büronutzung ist nur zur Tagzeit genehmigt.
Nr. 6.1 b) TA Lärm schreibt für Gewerbegebiete Immissionsgrenzwerte von tags 65 dB(A) und nachts 50 dB(A) vor. Die Differenzierung zwischen den Tag- und Nachtwerten findet ihre Rechtfertigung, ebenso wie in den sonstigen Baugebieten, im gesteigerten Ruhe- und Schlafbedürfnis der Anwohner zur Nachtzeit (vgl. Feldhaus/Tegeder, TA Lärm, Kommentar Nr. 6.1, Rn. 25). Zwar gilt in Industriegebieten (§ 9 BauNVO) gemäß Nr. 6.1 a) TA Lärm tagsüber wie nachts derselbe Grenzwert von 70 dB(A), obwohl auch hier gemäß § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO ausnahmsweise Wohnungen für den identischen Personenkreis wie in § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO zulässig sind. Dies ist jedoch kein Beleg dafür, dass die o.g. Differenzierung andere Gründe als das Ruhe- und Schlafbedürfnis der Anwohner hat. Vielmehr ist die fehlende Differenzierung in Industriegebieten allein deren Zweckbestimmung geschuldet, nämlich vorwiegend der Unterbringung solcher Industriebetriebe zu dienen, die in den anderen Baugebieten unzulässig sind, also solcher, die insbesondere in Abgrenzung zu § 8 BauNVO die Schwelle der erheblichen Belästigung überschreiten. Gerade um derartige Betriebe, die überall sonst unzulässig sind, zumindest im einzigen eigens hierfür geschaffenen Gebietstyp zu privilegieren, mutet der Verordnungsgeber dem in § 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO genannten Personenkreis, ausnahmsweise tagsüber wie nachts das gleiche Maß an Immissionseinwirkungen zu.
Aus dem Umstand, dass mit dem Nacht-Immissionsrichtwert dem Ruhe- und Schlafbedürfnis Rechnung getragen werden soll, folgt, dass eine im Gewerbegebiet vorhandene nächtliche Büronutzung – gegenwärtig ist sie ohnehin nur für die Tagzeit genehmigt – nicht zur Anwendung des Nacht-Immissionsrichtwerts führt, auch wenn eine solche Büronutzung im Gewerbegebiet allgemein zulässig ist (vgl. Feldhaus/Tegeder, a.a.o.).
Der Umstand, dass auf dem Grundstück Fl. Nr. … die in § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO genannten Wohnnutzungen zwar nicht vorhanden sind aber ausnahmsweise zulässig wären, führt ebenfalls nicht zur Anwendung des Nacht-Immissionsrichtwerts. Jedenfalls dann, wenn die Errichtung solcher schutzbedürftiger Räume von einer im Ermessen stehenden Ausnahmeentscheidung abhängt, ist insoweit zu fordern, dass sich ein entsprechendes Bauvorhaben konkret abzeichnet (noch enger wohl Feldhaus/Tegeder, a.a.o., Kommentar Nr. 2.3, Rn. 32a). Dafür ist hier nichts ersichtlich. Zwar ist anzuerkennen, dass die Aufnahme von Wohnnutzung dieser Art, auch wenn sie nur ausnahmsweise zulässig ist, doch grundsätzlich in der Zukunft möglich erscheint. Jedenfalls kann in einem solchen Fall aber von der Möglichkeit des Erlasses nachträglicher Anordnungen nach § 17 bzw. § 24 des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchG) Gebrauch gemacht werden, um einem nachträglichem Hinzutreten schutzbedürftiger Nutzung, für die eine Einhaltung des Nachtgrenzwerts von 50 dB(A) nach Nr. 6.1 b) TA Lärm angezeigt ist, Rechnung zu tragen, wodurch ein angemessener Interessenausgleich erzielt werden kann.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung folgt aus § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m.§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen