Baurecht

Baugenehmigung für Nutzungsänderung von Lagerräumen in eine Wohnung im Innenbereich

Aktenzeichen  M 1 K 15.3239

Datum:
22.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 29 Abs. 1, § 34 Abs. 1 S. 1
BauNVO BauNVO § 22
BayBO BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Art. 55, Art. 57 Abs. 4 Nr. 1, Art. 68 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Im Rahmen des § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB ist in erster Linie auf solche Maßfaktoren abzustellen, die nach außen wahrnehmbar in Erscheinung treten und anhand derer sich die vorhandenen Gebäude in der näheren Umgebung in Beziehung zueinander setzen lassen. Vorrangig bieten sich deshalb die (absolute) Größe der Gebäude nach Grundfläche, Geschossfläche, Geschosszahl und Höhe und bei offener Bebauung zusätzlich auch ihr Verhältnis zur umgebenden Freifläche als Bezugsgröße zur Ermittlung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung an. (redaktioneller Leitsatz)
2 Bauliche Änderungen eines Gebäudes lösen, selbst wenn sie für die Berechnung der Abstandfläche maßgebliche Bauteile nicht unmittelbar berühren, grundsätzlich dann eine abstandflächenrechtliche Neubeurteilung für das gesamte Gebäude aus, wenn sich im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung oder des nachbarlichen „Wohnfriedens“ ergeben können. Entsprechendes gilt für Nutzungsänderungen. Zum Wohnfrieden gehört insbesondere der Schutz der Privatsphäre vor unerwünschten Einblicksmöglichkeiten und vor dem unerwünschten Mithören in der Nachbarschaft. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Landratsamts Erding vom 13. Juli 2015 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die unter dem … Juli 2014 beantragte Baugenehmigung zu erteilen.
II.
Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.
Der Bescheid des Landratsamts Erding vom 13. Juli 2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten; sie hat Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die beantragte Nutzungsänderung bedarf nach Art. 55 Abs. 1 BayBO der Baugenehmigung. Insbesondere besteht für die Umnutzung der als Lager genehmigten Räume in eine Wohnung keine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 Abs. 4 Nr. 1 BayBO, weil für die neue Nutzung andere öffentlich-rechtliche Anforderungen als für die bisherige Nutzung in Betracht kommen, so insbesondere hinsichtlich Stellplätzen und Brandschutz. Die erforderliche Baugenehmigung ist nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Im Rahmen des vereinfachten Genehmigungsverfahrens prüft die Bauaufsichtsbehörde unter anderem nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 Baugesetzbuch (BauGB) (1.). Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BayBO darf die Bauaufsichtsbehörde den Bauantrag auch ablehnen, wenn das Bauvorhaben gegen sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt. Ein Verstoß gegen Abstandsflächenvorschriften steht dem Vorhaben hier nicht entgegen (2.).
1. Das Vorhaben ist bauplanungsrechtlich zulässig.
Nach § 29 Abs. 1 BauGB gelten für Vorhaben, die die Nutzungsänderung von Anlagen zum Inhalt haben, die §§ 30 bis 37 BauGB.
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile dann zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist.
Als maßgebliche nähere Umgebung sieht die Kammer auf der Grundlage des Augenscheins vom 22. März 2016 die Bebauung nördlich und südlich der …-straße an. Zwar liegt dem streitgegenständlichen, zurückversetzten Nebengebäude auf der Südseite der …-straße eine mindestens 3 m hohe, mit Bäumen und Hecke bewachsene Böschung gegenüber, was zusammen mit der straßenmäßigen Erschließungssituation der Gebäude südlich der …-straße über die …-straße für eine getrennte Betrachtung der Bebauung nördlich und südlich der …-straße sprechen würde. Das Vorhabengrundstück mit Wohnhaus und Nebengebäude ist aber hinsichtlich der Bestimmung der näheren Umgebung als Einheit zu sehen, weil auch bei der hier maßgeblichen Frage des Einfügens hinsichtlich der Grundfläche auf den gesamten Gebäudebestand abzustellen ist. Das Wohnhaus stellt sich jedoch als zugehörig zu der einheitlichen Platzsituation dar, die von dem Parkplatz auf den Grundstücken FlNr. 229 und 679 (hier nur der westliche Teil) und der umliegenden Bebauung gebildet wird. Dieser „Platz“ ist relativ eben und nimmt nicht an der umgebenden, stark bewegten topographischen Situation teil. Die …-straße liegt von dem Platz aus gesehen kaum erhöht. Die Kammer misst ihr überdies aufgrund ihrer nicht allzu großen Breite von circa 6 m und ihrer mäßigen Befahrenheit keine trennende Wirkung bei. Zu der den „Platz“ umgebenden Bebauung gehören einerseits das Wohngebäude auf dem Vorhabengrundstück, andererseits auch das nahe an die …-straße herangerückte, massive Gebäude auf dem Grundstück FlNr. 679 (…betrieb). Von dem Platz aus gesehen existiert zu den Gebäuden kein nennenswerter Geländesprung und herrscht der Eindruck einer einheitlichen Bebauung vor. Gegenüber dem Wohnhaus auf dem Vorhabengrundstück ist die Böschung auf der Südseite der …-straße auch weit niedriger; von diesem aus sind zudem die Gebäude südlich der …-straße gut sichtbar. Betrachtet man hiervon ausgehend die städtebauliche Prägung des Vorhabengrundstücks in einer Gesamtschau, wird dieses durch die Bebauung südlich der …-straße mitgeprägt und wirkt auch seinerseits auf diese.
1.1. Das Vorhaben fügt sich hinsichtlich seiner Art in die so definierte nähere Umgebung ein. In dieser herrscht Wohnnutzung vor. Das ist zwischen den Parteien nicht streitig.
1.2. Das Vorhaben fügt sich auch nach dem Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein.
Im Rahmen des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist in erster Linie auf solche Maßfaktoren abzustellen, die nach außen wahrnehmbar in Erscheinung treten und anhand derer sich die vorhandenen Gebäude in der näheren Umgebung in Beziehung zueinander setzen lassen. Vorrangig bieten sich deshalb die (absolute) Größe der Gebäude nach Grundfläche, Geschossfläche, Geschosszahl und Höhe und bei offener Bebauung zusätzlich auch ihr Verhältnis zur umgebenden Freifläche als Bezugsgröße zur Ermittlung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung an (BVerwG, B. v. 14.3.2013 – 14 B 49.12 – BauR 2013, 1245 – juris Rn. 5). Das Landratsamt bezieht damit zu Recht die Grundfläche in die Betrachtung ein. Hinsichtlich dieser fällt das Vorhaben aber nicht aus dem in der näheren Umgebung vorhandenen Rahmen. Insbesondere die Bebauung südlich der …-straße auf den Grundstücken FlNr. 679 und 681 ist von zwei großen Baukörpern mit dem Vorhaben vergleichbarer – oder diese überschreitender – Grundfläche geprägt.
1.3. Das Vorhaben fügt sich auch hinsichtlich der Bauweise in die nähere Umgebung ein.
Der nördlich und östlich des Nebengebäudes nicht vorhandene Grenzabstand und die damit zusammenhängende Frage der offenen oder geschlossenen Bauweise (§ 22 BaunutzungsverordnungBauNVO) führen nicht zur bauplanungsrechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens. Auch auf den Grundstücken FlNr. 679 und 681 südlich der …-straße sind große Teile der vorhandenen Gebäude an die Grundstücksgrenzen angebaut.
2. Abstandsflächenrechtliche Vorschriften stehen der Zulässigkeit des Vorhabens ebenfalls nicht entgegen. Die geplante Nutzungsänderung löst keine Neubeurteilung für das gesamte Gebäude aus.
Bauliche Änderungen eines Gebäudes lösen, selbst wenn sie für die Berechnung der Abstandfläche maßgebliche Bauteile nicht unmittelbar berühren, grundsätzlich dann eine abstandflächenrechtliche Neubeurteilung für das gesamte Gebäude aus, wenn sich im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung oder des nachbarlichen „Wohnfriedens“ ergeben können. Entsprechendes gilt auch für Nutzungsänderungen (BayVGH, B. v. 27.2.2015 – 15 ZB 13.2384 – juris Rn. 11; B. v. 12.1.2007 – 1 ZB 05.2572 – juris Rn. 12). Zum Wohnfrieden gehört insbesondere der Schutz der Privatsphäre vor unerwünschten Einblicksmöglichkeiten und vor dem unerwünschten Mithören sozialer Lebensäußerungen in der Nachbarschaft (BayVGH, U. v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – BayVBl 2015, 347 – juris Ls. 1 und Rn. 17).
Eine Beeinträchtigung des Wohnfriedens durch die Nutzungsänderung ist hier jedoch nicht zu besorgen. Das streitgegenständliche Gebäude wird von seinem äußeren Erscheinungsbild her nicht verändert. Die Nutzungsänderung wird sich auf die Wohngebäude auf dem östlich gelegenen Grundstück FlNr. 227/5 und dem nördlich gelegenen Grundstück FlNr. 227/2 nicht auswirken. Die geplante Wohnung verfügt nach Osten hin nicht über ein Fenster; auch der Balkon ist an der Ostseite abgemauert. Zudem verläuft die nördlich des vorhandenen Wohnhauses entlang führende Zuwegung rund 3 m niedriger als das nördlich gelegene Grundstück und ist zu diesem hin mit einer Betonwand versehen. Es steht also nicht zu befürchten, dass Lebensäußerungen der neuen Bewohner zu einer Verschlechterung der Wohnbedingungen der Nachbarn führen werden.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 5.000,- festgesetzt (§ 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz – GKG -).

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