Baurecht

Baugenehmigung zum Anbau eines Balkons

Aktenzeichen  AN 3 K 18.02303, AN 3 K 19.01510

Datum:
12.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 22302
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 S. 1, Abs. 6 S. 1, Art. 63
BauNVO § 15

 

Leitsatz

1. Eine Anwendung des 16-Meter Privilegs scheidet nur dann aus, wenn die Abstandsflächentiefe des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO vor mehr als zwei Außenwänden unterschritten wird. Ein derartiges Vorhaben ist danach nur dann zulässig, wenn für jede der Außenwände, vor denen die Abstandsflächentiefe des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO unterschritten wird, eine Abweichung nach Art. 63 BayBO zugelassen wird. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wenn die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind, indiziert das regelmäßig, dass das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt ist. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten der Verfahren.

Gründe

Die zulässigen Klagen sind unbegründet.
Der Kläger kann das streitgegenständliche Vorhaben zum Anbau eines Balkons an das bestehende Wohnhaus nicht abwehren.
Der Kläger wird durch die angefochtene Baugenehmigung vom 23. Oktober 2018 nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung haben Nachbarn nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung der Baugenehmigung weiter voraus, dass der Nachbar durch sie zugleich in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dies ist nur dann der Fall, wenn die zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führende Norm zumindest auch dem Schutz der Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (vgl. BVerwG v. 6.10.1989 – 4 C 40.87).
Eine Rechtsverletzung des Klägers durch die Nichteinhaltung von Abstandsflächenvorschriften ist nicht gegeben, da das Vorhaben die Anforderungen des Art. 6 BayBO, hier insbesondere des Art. 6 Abs. 6 BayBO einhält (dazu 1.). Zudem ist das geplante Vorhaben dem Kläger gegenüber nicht rücksichtslos (dazu 2.).
1. Eine Rechtswidrigkeit und in Folge davon eine Rechtsverletzung des Klägers als Nachbarn ergibt sich nicht aus dem Abstandsflächenrecht, da die Beigeladenen an der hier relevanten Westseite in rechtmäßiger Weise vom 16-Meter-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO Gebrauch machen durften und das Vorhaben damit zu den klägerischen Grundstücken die Abstandsflächen einhält.
Entgegen der Ansicht des Klägers schließt die Tatsache, dass die nördliche Abstandsfläche des Wohngebäudes der Beigeladenen teilweise auf einer öffentlichen Straße liegt (jedoch nicht über die Mitte der Straße hinaus) und die Beigeladenen eine Abweichung für die östliche Abstandsfläche erhalten haben, die Anwendbarkeit des 16-Meter-Privilegs nicht aus.
Nach der Entscheidung des Großen Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 17. April 2000 – Gr. S. 1/1999, 14 B 97.2901, scheidet eine Anwendung des 16-Meter Privilegs nur dann aus, wenn die Abstandsflächentiefe des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO vor mehr als zwei Außenwänden unterschritten wird. Ein derartiges Vorhaben ist danach nur dann zulässig, wenn für jede der Außenwände, vor denen die Abstandsflächentiefe des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO unterschritten wird, eine Abweichung nach Art. 63 BayBO zugelassen wird. Damit wird die Möglichkeit, die Anwendung des sog. 16-Meter Privilegs mit der Erteilung von Abweichungen zu kombinieren, ausgeschlossen.
Eine solche oder eine vergleichbare Fallkonstellation liegt hier jedoch nicht vor. Die Abstandsfläche vor der nördlichen Außenwand des Gebäudes der Beigeladenen wird nicht unterschritten, sondern im vollem Umfang im Sinne von Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO eingehalten, weil sie sich in rechtmäßiger Weise auf einem Teil einer öffentlichen Verkehrsfläche befindet. Diese Möglichkeit sieht das Gesetz in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO ausdrücklich vor. Für eine solche Erstreckung auf öffentliche Verkehrsflächen ist folgerichtig auch keine Abweichung gemäß Art. 63 BayBO erforderlich (BayVGH, B.v. 14. August 2001 – 26 ZS 01.1297; U.v. 13. Februar 2006 – 14 B 04.1331).
Da im vorliegenden Fall für das Gebäude der Beigeladenen lediglich eine Abweichung erteilt wurde, die Abstandsfläche im Süden in vollem Umfang auf dem Grundstück der Beigeladenen liegt und die Abstandsfläche der Nordseite die Straßenmitte nicht überschreitet, durften die Beigeladenen für ihr Vorhaben das 16-Meter Privileg in Anspruch nehmen.
Dessen Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO sind auch erfüllt: Die westliche Außenwand beträgt mit Garage und geplantem Balkon nur ca. 15 Meter und der Mindestabstand von 3 Metern wird laut Abstandsflächenplan eingehalten.
Die Abstandsflächen zu den klägerischen Grundstücken sind somit eingehalten, eine Rechtsverletzung des Klägers liegt nicht vor.
2. Auch eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme liegt nach Ansicht der Kammer nicht vor.
Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hängen die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1/04; BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351).
Wenn jedoch die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind, indiziert das regelmäßig, dass das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt ist. Dieses gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung oder vor Einsichtsmöglichkeiten in sein Grundstück verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst zu bejahen, wenn die Beeinträchtigung unzumutbar ist. (vgl. z.B. BayVGH U. v. 6. Oktober 2012 – 1 CS 12.2036; BayVGH März 2011 – 15 CS 11.9; vom 23.9.2009 – 15 ZB 09.98; auch BVerwG vom 11.1.1999 NVwZ 1999, 879).
Anhaltspunkte für einen unzumutbaren „Einmauerungseffekt“ oder eine abriegelnde Wirkung liegen nicht vor (dazu vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2019 – 15 ZB 18.1525; B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508; B.v. 25.1.2013 – 15 ZB 13.68 und B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222). Insbesondere wird die sich am Balkon anschließende Garage der Beigeladenen durch die Grenzgarage des Klägers vollständig verdeckt, sie ragt sogar ein Stück weit in den Bereich des neu zu errichtenden Balkons. Dieser wird auch nicht in einer Weise errichtet, die einer durchgehende „Einmauerung“ entspricht, sondern laut den Planunterlagen eher in lockerer Bauweise. Die Garage der Beigeladenen liegt auch nicht vollständig oberhalb des natürlichen Geländes, sondern ist teilweise unterkellert, weshalb sie vom klägerischen Grundstück aus optisch nicht in ihrer ganzen Größe zur Geltung kommt.
Die durch das Vorhaben geschaffenen Einsichtmöglichkeiten verletzen den Kläger ebenfalls nicht in seinem Gebot der Rücksichtnahme.
Das Bauplanungsrecht vermittelt keinen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken; die Möglichkeit der Einsichtnahme ist grundsätzlich nicht städtebaulich relevant (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.1989 – 4 B 72.89, BayVGH B.v. 5.4.2019 – 15 ZB 18.1525; B.v. 13.4.2018 – 15 ZB 17.342). In bebauten innerörtlichen Bereichen – wie hier – gehört es zur Normalität, dass von benachbarten Grundstücken bzw. Gebäuden aus Einsicht in andere Grundstücke und Gebäude genommen werden kann. Auch über das Gebot der Rücksichtnahme wird in bebauten Ortslagen daher kein genereller Schutz des Nachbarn vor jeglichen (weiteren) Einsichtsmöglichkeiten vermittelt, allenfalls in besonderen, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls geprägten Ausnahmefällen kann sich unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme etwas anderes ergeben (vgl. BayVGH B.v. 5.4.2019 – 15 ZB 18.1525 m.w.N.).
Die Kammer kann anhand der Planunterlagen keinen solchen Ausnahmefall feststellen.
Zum einen befinden sich an der Westseite des Wohnhauses der Beigeladenen schon seit dessen Errichtung größere Fensterfronten, so dass ein gewisser Einblick auf die klägerischen Grundstücke schon immer möglich war. Zum anderen ist auf Luftbildern zu erkennen, dass zwischen den Grundstücken ein gewisser Baumbestand vorherrscht, der ebenfalls, zumindest für einen längeren Zeitraum im Jahr, Schutz vor Einblicken gewährt.
Es bleibt daher bei dem Grundsatz, dass bei Einhaltung der Abstandsflächen von einer Wahrung des Gebots der Rücksichtnahme ausgegangen werden kann, und der Kläger im innerörtlichen Bereich Einblicke auf sein Grundstück hinnehmen muss.
Nach alledem waren die Klagen mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.

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