Baurecht

Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans (verneint), Grundzüge der Planung, gemeindliches Einvernehmen

Aktenzeichen  W 4 K 20.1116

Datum:
25.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 49726
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Das unter dem Az. W 4 K 19.218 ruhende Verfahren wird wiederaufgenommen und unter dem Az. W 4 K 20.1116 fortgeführt.
II. Die Klage wird abgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
IV. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Nachdem der Klägervertreter mit Schriftsatz vom 28. Juli 2020 dies beantragt hat, war das mit Beschluss der Kammer vom 28. Januar 2020 ruhend gestellte Verfahren wiederaufzunehmen und fortzuführen.
Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO konnte das Gericht über die Verwaltungsstreitsache vorliegend ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Parteien bereits im Rahmen des Augenscheinstermins damit einverstanden erklärt haben.
Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren ist der Bescheid des Landratsamts Aschaffenburg vom 13. Februar 2019, mit dem der Bauantrag des Klägers auf Erteilung einer Baugenehmigung für den Umbau und die Nutzungsänderung des Untergeschosses des Garagengebäudes abgelehnt wurde. Der Kläger begehrt die Aufhebung dieses Bescheids und die Verpflichtung des Beklagten, ihm die beantragte Baugenehmigung zu erteilen. Die aus diesem Grund von ihm erhobene Verpflichtungsklage ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Genehmigung seines Bauantrags vom 6. April 2018. Er wird durch den ablehnenden Bescheid des Landratsamts Aschaffenburg vom 13. Februar 2019 nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Ausgangspunkt der rechtlichen Beurteilung ist Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO. Nach dieser Vorschrift ist bei einem genehmigungspflichtigen Vorhaben, um ein solches handelt es sich bei der vorliegenden Nutzungsänderung unstreitig, die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Im hier durchzuführenden vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO prüft die Bauaufsichtsbehörde u.a. die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB.
Vorliegend steht dem Kläger kein Anspruch auf die begehrte Baugenehmigung zu. Das von ihm beantragte und offenbar bereits teilweise umgesetzte Bauvorhaben ist nämlich gemäß § 30 Abs. 1 BauGB wegen fehlender Festsetzungskonformität bauplanungsrechtlich unzulässig. Der Kläger kann auch keine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB verlangen. Auch seine Einwendungen hinsichtlich des Bebauungsplans greifen nicht durch.
2. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens bestimmt sich nach § 30 Abs. 1 BauGB, da es sich großteils im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans „G* … N* …“ befindet. Nach § 30 Abs. 1 BauGB ist ein Vorhaben im Geltungsbereich eines solchen qualifizierten Bebauungsplans nur dann zulässig, wenn es dessen Festsetzungen nicht widerspricht.
Vorliegend widerspricht das Vorhaben des Klägers allerdings den Festsetzungen des Bebauungsplans „G* … N* …“, denn es steht im Widerspruch zu den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans, wonach für das Garagengebäude Baugrenzen mit „G“ als „Fläche für Garagen, Carports und Nebenanlagen“ festgesetzt sind.
3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch darauf, dass er von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit wird.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern (Nr. 1) oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3) und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Vorliegend kommt die für eine Genehmigungsfähigkeit des klägerischen Vorhabens erforderliche Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB schon deshalb nicht in Betracht, weil durch dieses die Grundzüge der Planung berührt würden.
Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Dies setzt die Feststellung der Grundzüge der Planung voraus sowie die Feststellung, ob diese in bestimmter Weise vom Vorhaben berührt werden (BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09 – NVwZ 2011, 748; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, 137. EL 2020, BauGB § 31 Rn. 35). Die Grundzüge der Planung bilden die den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrundeliegende und in ihnen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption. Dabei kommt es darauf an, ob die fragliche Festsetzung Bestandteil eines Planungskonzepts ist, das das gesamt Plangebiet quasi wie ein roter Faden durchzieht, so dass eine Abweichung zu weitreichenden Folgen führen würde (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB – BauNVO, 9. Aufl. 2018, § 31 BauGB Rn. 14 m.w.N. zur Rechtsprechung). Es scheiden daher im allgemeinen Abweichungen von Festsetzungen aus, die die Grundkonzeption des Bebauungsplans berühren, also vor allem den Gebietscharakter nach der Art der baulichen Nutzung (Söfker, a.a.O.). Eine Wahrung der Grundzüge der Planung kann dagegen angenommen werden, wenn die Festsetzung, von der abgewichen werden soll, entweder gewissermaßen „zufällig“ erfolgt ist oder aber doch – wird von ihr abgewichen – der damit verbundene Eingriff in das Planungsgefüge eingegrenzt, also quasi „isoliert“ werden kann (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB – BauNVO, 9. Aufl. 2018, § 31 BauGB Rn. 14).
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Ausführungen kommt vorliegend die Erteilung einer Befreiung für das Vorhaben des Klägers nicht in Betracht. Die erforderlichen Abweichungen von den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans würden das mit der Planung verfolgte Hauptziel der Gemeinde H* …, wie es in dem Bebauungsplan „G* … N* …“ zum Ausdruck kommt, zunichte machen.
Offensichtlich wollte die Gemeinde einzig und allein eine Bebauung entlang der F* … straße, was durch die Rotstrichelungen im Bebauungsplan auf den Grundstücken Fl.Nrn. …3 und …1 auch zum Ausdruck gekommen ist. Hingegen sieht der Bebauungsplan keinerlei Wohnbebauung in der zweiten Reihe vor. Somit sollte diese, worauf auch der Beklagte zutreffend hinweist, als Grün- und Gartenfläche dienen.
Würde nunmehr eine Befreiung, wie sie der Kläger begehrt, zugelassen, würde dies der planerischen Entscheidung der Gemeinde, die sogenannte zweite Reihe als Ruhebereich vorzusehen, vollkommen zuwiderlaufen. Die für die Legalisierung des Vorhabens erforderliche Befreiung hätte eine weitreichende Vorbildfunktion für vergleichbare Vorhaben im gesamten Baugebiet. Sie würde die Grundzüge der Planung berühren, so dass dem Kläger kein Anspruch auf Erteilung der erforderlichen Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zusteht.
Im Übrigen fehlt es an den tatbestandlichen Befreiungsvoraussetzungen auch deshalb, weil kein Befreiungsgrund i.S.v. § 31 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BauGB vorliegt. Eine Befreiungsmöglichkeit aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit (Nr. 1) ist erkennbar nicht gegeben. Als Befreiungsgründe kommen allenfalls § 31 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 BauGB in Betracht. Danach kann befreit werden, wenn die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3).
Städtebaulich vertretbar sind im Regelfall alle Vorhaben, die i.S.d. Anforderungen des § 1 Abs. 6 und 7 BauGB mit der städtebaulichen Entwicklung und Ordnung i.S.d. § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB vereinbar sind. Eingeschränkt wird diese – tatbestandlich weit gefasste und die Gefahr unkontrolliert beliebiger Entscheidung in sich tragende – Befreiungsmöglichkeit durch das Kriterium der Atypik. Eine Befreiung wegen städtebaulicher Vertretbarkeit muss sich auf eine bodenrechtliche Sonderlage des jeweiligen Grundstücks stützen und kann nicht unter Berufung auf Gründe gewährt werden, die für jedes oder nahezu jedes Grundstück im Planbereich nahezu gleichermaßen zutreffen (vgl. BVerwG, B.v. 8.5.1989 – 4 B 78.89 – juris; Jäde/Dirnberger/Weiß, a.a.O., § 31 BauGB Rn. 22). Vorliegend ist eine solche bodenrechtliche Sonderlage, wie auch der gerichtliche Augenschein bestätigt hat, in keinster Weise ersichtlich. Auch wird vom Kläger mit keinem Wort die erforderliche Atypik aufgezeigt. Eine bodenrechtliche Sondersituation ist somit nicht gegeben und damit ist das Vorhaben des Klägers im Ergebnis auch nicht als städtebaulich vertretbar i.S.v. § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB einzustufen.
Auch eine unbeabsichtigte Härte als Befreiungsgrund i.S.v. § 31 Abs. 2 Nr. 3 BauGB liegt nicht vor. Da es für die Frage, ob eine Härte beabsichtigt ist oder nicht, immer auf die Perspektive oder Willensrichtung des Plangebers ankommt, nicht hingegen auf diejenige des Planbetroffenen, kann durch eine in dessen Risikosphäre liegendes Verhalten eine nicht beabsichtigte Härte niemals hervorgebracht werden (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, a.a.O., § 31 Rn. 26). Deshalb könnte der Kläger das Vorliegen einer solchen Härte auch nicht damit begründen, dass er die dem Bebauungsplan widersprechende Anlage bereits teilweise ausgeführt hat und die Beseitigung für ihn mit wirtschaftlichen Nachteilen verbunden wäre. Dies hat sich der Schwarzbauer vielmehr selbst zuzuschreiben (vgl. BVerwG, B.v. 27.11.1978 – 4 B 120.78 – juris).
Da die für die das Vorhaben des Klägers erforderliche Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans Grundzüge der Planung berühren würde und durch keinen Befreiungsgrund i.S.v. § 31 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BauGB gerechtfertigt wäre, kann offenbleiben, ob die Befreiung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen unvereinbar ist. In jedem Fall sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt, so dass es auch auf die Frage der Ermessensentscheidung nicht mehr ankommt. Es bleibt lediglich darauf hinzuweisen, dass ein Anspruch auf Erteilung einer Befreiung eine Reduzierung des Befreiungsermessens voraussetzt, wofür nichts ersichtlich ist.
4. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägervertreters und insbesondere aus seiner Einwendung, vorliegend sei zu berücksichtigen, dass die Gemeinde H* … ihr Einvernehmen erteilt habe. Somit könne kein Grundzug der Planung berührt sein. Auch wenn die Kammer diese Entscheidung der Gemeinde H* … als sehr merkwürdig einstuft, wird bei dieser Argumentation allerdings verkannt, dass das Einvernehmen der Gemeinde nur für die positive Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde erforderlich ist, nicht aber für die Versagung einer Ausnahme oder Befreiung, denn dadurch wird die Planungshoheit der Gemeinde nicht beeinträchtigt (vgl. BVerwG, U.v. 19.11.1965 – IV C 184/65; VGH Baden-Württemberg, B.v. 30.11.2009 – 8 S 1903/09 – juris). Die Baugenehmigungsbehörde ist auch nicht an die Erteilung des Einvernehmens gebunden mit der Folge, dass sie mit der Erteilung des Einvernehmens zur Zulassung einer Ausnahme bzw. Gewährung einer Befreiung verpflichtet wäre (vgl. BVerwG v. 19.11.1965, a.a.O.). Dies folgt schon daraus, dass das Einvernehmen der Gemeinde lediglich ein Mitwirkungsrecht bei dem Erlass eines Verwaltungsakts durch eine andere Behörde ist, der Gemeinde aber nicht die abschließende Entscheidungskompetenz für einen bestimmten Teilbereich übertragen ist (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 28.5.1963 – 1 C 247.58 – juris).
5. Nach alldem konnte die Klage keinen Erfolg haben und war mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Das Landratsamt steht nunmehr in der Pflicht, unabhängig von der mit Bescheid vom 9. Juni 2017 verfügten Baueinstellung, bauaufsichtlich tätig zu werden, da nur so die oben angesprochene (negative) Vorbildfunktion vermieden werden kann.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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