Baurecht

Berufung auf 16 m-Privileg bei aneinandergebauten Gebäuden

Aktenzeichen  2 CE 19.515

Datum:
6.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 8675
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 6

 

Leitsatz

1. Grundsätzlich kann eine Verkürzung einer Abstandsflächentiefe nur den Nachbarn in seinen Rechten verletzen, dessen Grundstück der betreffenden Außenwand gegenüberliegt. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Beim sog. 16 m-Privileg kann sich der Nachbar auch darauf berufen, dass durch eine Verkürzung der Abstandsflächentiefen an den abgewandten Gebäudeseiten zugleich die gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 6 S. 1 Hs. 1 BayBO entfallen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für das Vorliegen von aneinander gebauten Gebäuden iSd Art. 6 Abs. 6 S. 3 BayBO ist erforderlich, dass diese im Wesentlichen profilgleich an der Grundstücksgrenze aneinandergebaut werden. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Vorschrift des Art. 6 Abs. 6 S. 3 BayBO soll – insbesondere für Doppelhäuser – verhindern, dass mit Hilfe des 16 m-Privilegs Baukörper entstehen, die eine Außenwandlänge von bis zu 32 m aufweisen, jedoch gleichwohl das 16 m-Privileg für sich in Anspruch nehmen können. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 29 E1 18.5763 2019-02-07 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Antragsstellers (§ 146 Abs. 1 VwGO) ist nicht begründet. Die dargelegten Beschwerdegründe rechtfertigen keine Abänderung der erstgerichtlichen Entscheidung (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO).
Es fehlt vorliegend bereits an der Glaubhaftmachung des erforderlichen Anordnungsanspruchs (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Die Voraussetzungen für die Anordnung einer Baueinstellung nach Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO durch die Bauaufsichtsbehörde liegen nach einer einem Eilverfahren wie diesem angemessenen summarischen Prüfung nicht vor (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009,581).
Ein Verstoß gegen das grundsätzlich nachbarschützende Abstandsflächenrecht nach Art. 6 BayBO durch das Bauvorhaben ist nicht zu erwarten. Die Beigeladene kann sich hier auf das sogenannte 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 BayBO berufen.
Hiernach genügt vor zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 m Länge als Tiefe der Abstandsflächen die Hälfte der nach Art. 6 Abs. 5 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch 3 m (Satz 1 Halbs. 1). Wird ein Gebäude mit einer Außenwand an eine Grundstücksgrenze gebaut, gilt Satz 1 nur noch für eine Außenwand; wird ein Gebäude mit zwei Außenwänden an Grundstücksgrenzen gebaut, so ist Satz 1 nicht anzuwenden; Grundstücksgrenzen zu öffentlichen Verkehrsflächen, öffentlichen Grünflächen und öffentlichen Wasserflächen bleiben hierbei unberücksichtigt (Satz 2). Aneinandergebaute Gebäude sind wie ein Gebäude zu behandeln (Satz 3).
Grundsätzlich kann eine Verkürzung einer Abstandsflächentiefe nur den Nachbarn in seinen Rechten verletzen, dessen Grundstück der betreffenden Außenwand gegenüberliegt (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 17.4.2000 – Gr. S. 1/1999 – 14 B 97.2901 – VGH n.F. 53, 89/95 f.; BayVGH, U.v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – BayVBl 2016, 414). Für das sogenannte 16 m-Privileg ist jedoch entschieden, dass sich der Nachbar auch darauf berufen kann, dass durch eine Verkürzung der Abstandsflächentiefen an den abgewandten Gebäudeseiten zugleich die gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 BayBO entfallen (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 17.4.2000 – Gr. S. 1/1999 – 14 B 97.2901 – VGH n.F. 53, 89/96).
1. Vorliegend wird das Gebäude der Beigeladenen nicht im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 2 Halbs. 1 BayBO mit einer Außenwand an eine Grundstücksgrenze gebaut. Denn Voraussetzung hierfür wäre eine oberirdische, ein Gebäude nach außen gegenüber dem Freien abschließende Wand (vgl. Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 4. Auflage 2012, Art. 6 Rn. 30, 91; Dhom in Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Stand: Oktober 2018, Art. 6 Rn. 8). Hier wird jedoch das Gebäude der Beigeladenen nicht mit einer freistehenden Wand an der Grundstücksgrenze zum Nachbargrundstück errichtet, sondern auf einer Länge von ca. 9 m an das Gebäude auf dem Grundstück FlNr. 1219 deckungsgleich angebaut. Damit kann die Beigeladene das sogenannte 16 m-Privileg vor zwei Außenwänden in Anspruch nehmen.
Mit dem Anbau an das Gebäude auf dem Grundstück FlNr. 1219 sind angesichts des Bestandsgebäudes auf den Grundstück FlNr. 1219 und des geplanten Bauvorhabens der Beigeladenen keine aneinandergebauten Gebäude im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO gegeben, die wie ein Gebäude zu behandeln sind. Denn für das Vorliegen von aneinander gebauten Gebäuden in diesem Sinn ist erforderlich, dass diese im Wesentlichen profilgleich, beispielsweise Doppelhaushälften, an der Grundstücksgrenze, aneinandergebaut werden (vgl. BayVGH, Großer Senat, B.v. 21.5.1990 – Gr. S. 2/1989 – 2 B 88.2884 – VGH n.F. 43,88; Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 4. Auflage 2012, Art. 6 Rn. 92). Hier sind jedoch das Bestandsgebäude auf dem Grundstück FlNr. 1219 und das Bauvorhaben der Beigeladenen nach Süden hin über eine Länge von mehr als 11 m nicht aneinandergebaut, sondern halten einen Abstand zueinander von 6 m ein. Damit ist aber auch kein Doppelhaus im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gegeben. Hiernach müssen die einzelnen Häuser eines Doppelhauses an der gemeinsamen Grenze qualitativ und quantitativ in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise so aneinandergebaut und auch im Übrigen so aufeinander abgestimmt sein, dass das von ihnen gebildete Gesamtgebäude als bauliche Einheit erscheint (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – BVerwGE 110, 355). Dies ist hier aufgrund der Tatsache, dass das Gebäude auf dem Grundstück FlNr. 1219 und das Bauvorhaben der Beigeladenen bei einer Gesamtlänge von mehr als 20 m nur auf einer Länge von 9 m aneinandergebaut werden, nicht der Fall. Bei den nicht aneinander gebauten Gebäudeteilen handelt es sich auch jeweils um massive bis zu zweigeschossige Bauten.
Nachdem das Bauvorhaben der Beigeladenen nach Norden und nach Süden hin jeweils die volle Abstandsflächentiefe von 1 H gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO einhält, kann es nach Osten und nach Westen das sogenannte 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 BayBO in Anspruch nehmen. Zum Grundstück FlNr. 1219 hin besitzt die abstandsflächenrelevante Außenwand eine Länge von 11,70 m, während sie zum Grundstück des Antragstellers hin eine solche von 15,99 m aufweist. Unschädlich ist insoweit, dass die Antragsgegnerin im Baugenehmigungsbescheid vom 26. Juni 2018 zum Grundstück FlNr. 1219 hin eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Bay BO zugelassen hat. Nachdem die Beigeladene das sogenannte 16 m-Privileg zum Grundstück FlNr. 1219 hin in Anspruch nehmen kann, geht diese Abweichung ins Leere und verletzt damit nicht den Antragsteller in seinen Rechten.
2. Selbst wenn man der Auffassung des Antragstellers folgen wollte, dass hier aneinandergebaute Gebäude im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO vorliegen und damit wie ein Gebäude zu behandeln seien, verhilft dies seinem Begehren nicht zum Erfolg. Denn für das Gebäude auf dem Grundstück FlNr. 1219 wurde zum Grundstück der Beigeladenen hin nicht das sogenannte 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 BayBO in Anspruch genommen, sondern mit der Baugenehmigung vom 17. Juli 2000 eine Abweichung gemäß Art. 70 Abs. 1 BayBO a.F. zugelassen. Zur O …straße hin hält das Gebäude auf dem Grundstück FlNr. 1219 die erforderlichen Abstandsflächentiefen ein, da sie sich insoweit gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO auch auf die öffentlichen Verkehrs- und Grünflächen bis zu deren Mitte erstrecken dürfen.
Damit dürfte auch in diesem Fall das Bauvorhaben der Beigeladenen gegenüber dem Grundstück des Antragsstellers das sogenannte 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 BayBO in Anspruch nehmen. Dem stünde auch nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 26. Juni 2018 eine Abweichung wegen Nichteinhaltung erforderlicher Abstandsflächen nach Osten zum Nachbargrundstück FlNr. 1219 hin zugelassen hat. Denn die Rechtsprechung zum sogenannten 16 m-Privileg geht ersichtlich von einem Gebäude mit vier Außenwänden aus. Die Vorschrift des Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO soll – insbesondere für Doppelhäuser – verhindern, dass mit Hilfe des 16 m-Privilegs Baukörper entstehen, die eine Außenwandlänge von bis zu 32 m aufweisen, jedoch gleichwohl das 16 m-Privileg für sich in Anspruch nehmen können (vgl. Dirnberger in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Stand: Oktober 2018, Art. 6 Rn. 187). Demnach hat ein Gebäude im Regelfall – auch wenn es Vor- oder Rücksprünge aufweist – vier Außenwände. Abweichungen sind denkbar, wenn ein Gebäude aus mehreren zusammengefügten Gebäudeteilen besteht (vgl. Dirnberger in Jäde/Dirnberger/Bauer/ Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Stand: Oktober 2018, Art. 6 Rn. 195). Vorliegend würden die aneinandergebauten Gebäude im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO sechs Außenwände aufweisen. Für diesen Fall wäre jedoch die Anwendung des 16 m-Privilegs nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 BayBO dahingehend zu modifizieren, dass für die zu nicht aneinandergebauten Gebäuden weisenden Außenwände dieses Privileg in Anspruch genommen werden kann, während im inneren Bereich der (teilweise) aneinander gebauten Gebäude auch mit Abweichungen nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO gearbeitet werden kann. Dies widerspräche nicht der Entscheidung des Großen Senats (B.v. vom 17.4 2000, Gr. S. 1/1999 – 14 B 97.2901 – VGH n.F. 53, 89). Denn dieser Beschluss befasste sich mit der Baugenehmigung zur Errichtung eines Doppelhauses mit regelmäßigen vier Außenwänden. Dabei hielt das Gebäude an seiner Westseite als Abstandsflächentiefe das Maß einer vollen Wandhöhe (1 H) ein, während an den drei übrigen, jeweils weniger als 16 m langen Gebäudeseiten die Abstandsflächentiefe nur das Maß von 0,5 H erreichte. Die Situation des vorliegenden Sonderfalls würde mithin von dieser Entscheidung ersichtlich nicht erfasst.
Soweit der Antragsteller behauptet, das Bauvorhaben weise gegenüber dem Grundstück FlNr. 1219 eine einheitliche Gebäudeseite aus einem nördlichen und südlichen Teil auf, die eine einheitliche Außenwand im Sinn von Art. 6 Abs. 6 BayBO darstelle, ist dem nicht zu folgen. Denn maßgeblich für die Ermittlung der Länge einer Außenwand im Sinn von Art. 6 Abs. 6 BayBO sind nur die abstandsflächenrelevanten Außenwandteile (vgl. BayVGH, Gr. S. B.v. 21.4.1986 – Gr. S. 1/85 – 15 B 84 A 2534 – VGH n.F. 39, 9; Dirnberger in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Stand: Oktober 2018, Art. 6 Rn. 198). Vorliegend handelt es sich beim nördlichen Teil der zum Grundstück FlNr. 1219 gerichteten Gebäudeseite des Vorhabens der Beigeladenen nicht um eine abstandsflächenrelevante Außenwand im Sinn von Art. 6 Abs. 6 BayBO. Denn er wurde gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO deckungsgleich an das Bestandsgebäude auf dem Grundstück FlNr. 1219 angebaut. Im Übrigen liegt hier nicht ein flacheres Abknicken als 90° im Sinn der Entscheidung des Großen Senats (B.v. 21.4.1986 – Gr. S. 1/85 – 14 B 84 A.2534 – VGH n.F. 39, 9/15) vor. Vielmehr ist zwischen dem nördlichen und südlichen Teil der zum Grundstück FlNr. 1219 gerichteten Gebäudeseite ein Abknicken um genau 90° festzustellen. Damit handelt es sich bei dem südlichen Teil um einen abstandsflächenrechtlich selbstständig zu betrachtenden Außenwandteil.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht der Billigkeit im Sinn von § 162 Abs. 3 VwGO, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen ebenfalls dem Antragsteller aufzuerlegen, weil diese selbst einen Antrag gestellt und damit ein Kostenrisiko auf sich genommen hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.

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