Baurecht

Beseitigungsanordnung bei Verletzung der Abstandsflächen durch Grenzbebauung über das genehmigte Maß hinaus

Aktenzeichen  M 11 K 16.5648

Datum:
17.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 15290
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBOArt. 6 Abs. 9 S. 1 Nr. 1, Art. 63, Art. 76 S. 1

 

Leitsatz

1 In einem Fall, in dem die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen lediglich nach Stellung eines Antrags nach pflichtgemäßem Ermessen möglich ist, ist es im Rahmen des Erlasses einer Beseitigungsanordnung nicht ermessenfehlerhaft, die mögliche Erteilung einer Abweichung im Rahmen des Beseitigungsermessens außer Betracht zu lassen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2 Sofern kein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung besteht, handelt die Behörde jedenfalls in den Fällen, in denen sich der Bauherr nicht durch Einreichung eines Tekturantrags – unter Stellung eines Antrags auf Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften – um eine Legalisierung (hier eines Grenzanbaus und Erhöhung einer Bestandsgrenzgarage über das genehmigte Maß hinaus sowie eines ungenehmigten Holzschuppens), nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie sich mit der möglichen Erteilung einer Abweichung nicht auseinandersetzt. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat – soweit über sie noch zu entscheiden war – keinen Erfolg.
1. Soweit die Klage sich ursprünglich auch gegen die Nr. 5 des Bescheids des Landratsamts vom 21. November 2016 gerichtet hat, ist hierüber nicht mehr zu entscheiden. Ursprünglich war die Klage auch gegen Nr. 5 des Bescheids gerichtet, da im Klageschriftsatz gegen den Bescheid insgesamt Klage erhoben wurde und zudem in der Klagebegründung vom 20. Oktober 2017 ausdrücklich ein Antrag auf vollständige Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids angekündigt war. In der mündlichen Verhandlung haben die Kläger hingegen lediglich beantragt, den streitgegenständlichen Bescheid in den Nrn. 1 bis 4 aufzuheben. Dies stellt eine zumindest konkludente Rücknahme der Klage in Bezug auf Nr. 5 des Bescheids dar, da die Kläger ihr Rechtsschutzbegehren ohne weitere Erklärung insofern einseitig beschränkt haben. Diesbezüglich ist somit die Rechtshängigkeit entfallen, § 92 VwGO.
2. Soweit über die Klage noch zu entscheiden war, ist sie unbegründet.
Die Nrn. 1 bis 4 des Bescheids des Landratsamts vom 21. November 2016 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –).
Gemäß Art. 76 Satz 1 BayBO kann die vollständige oder teilweise Beseitigung von im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichteten Anlagen angeordnet werden, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.
a) Der Tatbestand des Art. 76 Satz 1 BayBO ist erfüllt, da das klägerische Vorhaben formell und materiell illegal ist.
Eine Genehmigung liegt für das Vorhaben in der jetzigen Form nicht vor, da die Kläger unstreitig abweichend von den mit Bescheid vom 3. Mai 2010 genehmigten Plänen den Anbau länger und höher als genehmigt errichtet haben, die Bestandsgarage zudem über das genehmigte Maß hinaus erhöht haben und für den Holzschuppen unstreitig keine Genehmigung in irgendeiner Form vorliegt.
Auch verstößt das Vorhaben gegen materielles Baurecht, da es abstandsflächenrechtlich unzulässig ist. Die klägerische Grenzbebauung überschreitet die Maße für eine gemäß Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO abstandsflächenrechtlich zulässige Anlage deutlich. Dies gilt selbst, wenn man abweichend von der tatsächlichen Situation die aneinandergebauten Gebäude isoliert betrachten würde, da sowohl der Holzschuppen als auch die Garage samt Anbau für sich genommen eine Länge von 9,00 m und beide Teile zudem auch eine Wandhöhe von 3,00 m übersteigen. Eine derart isolierte Betrachtung ist jedoch zum einen rechtlich ohnehin nicht geboten und wäre zum anderen – selbst bei fehlender Verbindung der Gebäude – für die Betrachtung nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO irrelevant, da die Länge mehrerer Grenzgebäude entlang einer Grundstücksgrenze zu addieren wäre.
b) Auch können nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände geschaffen werden. Insbesondere besteht im vorliegenden Fall kein Anspruch auf Zulassung einer Abweichung gemäß Art. 63 BayBO von der Pflicht zur Einhaltung von Abstandsflächen. Zwar mag es sein, dass momentan die Schutzzwecke des Abstandsflächenrechts, nämlich Belichtung, Belüftung, Besonnung sowie sozialer Wohnfriede kaum beeinträchtigt sein dürften, da auf dem südlich angrenzenden Grundstück zur Zeit im Wesentlichen Gewerbe- und Lagernutzung stattfindet. Zum einen ist jedoch offen, wie die Erteilung einer derartigen Abweichung in brandschutzrechtlicher Hinsicht zu beurteilen wäre, insbesondere da auf dem südlich angrenzenden Grundstück ein Gewerbe betrieben wird, in dessen Rahmen u.U. gefährliche Materialien gelagert werden. Ob der Brandschutz auch einen Schutzzweck des Abstandsflächenrechts darstellt, kann jedoch dahinstehen. Zum anderen besteht nämlich schon deshalb kein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung, da es sich nicht nur um eine minimale sondern vielmehr eine erhebliche Überschreitung der Abstandsflächen handeln würde und jedenfalls eine Kollision mit Interessen des Eigentümers des südlich angrenzenden Gewerbegrundstücks nicht ausgeschlossen werden kann. Ein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung besteht mithin schon deshalb nicht, da nicht klar ist, ob eine derzeit mögliche Bebauung des östlichen, momentan als Lager genutzten Bereichs des Gewerbegrundstücks noch möglich wäre, wenn der derzeitige Bestand auf dem klägerischen Grundstück legalisiert werden würde. Es ist nicht erkennbar, dass die Interessen der Kläger das nachbarliche Interesse derart überwiegen, dass das Ermessen der Behörde zu Gunsten der Kläger auf Null in Richtung der Erteilung einer Abweichung reduziert wäre. Allein die Tatsache, dass das benachbarte Grundstück – wenn auch möglicherweise sogar in erheblichem Umfang – gewerblich genutzt wird, reicht nicht aus, um annehmen zu können, dass in jedem Fall oder wenigstens im vorliegenden Fall eine Atypik zu bejahen wäre, die dem Eigentümer eines benachbarten Grundstücks, das zu Wohnzwecken genutzt wird, einen Anspruch auf Erteilung einer Abweichung vermittelt. Vielmehr bleiben auch in derartigen Fällen die jeweiligen Umstände des Einzelfalls maßgeblich und die Reduzierung des Ermessens in Richtung der Zulassung einer Abweichung stellt die Ausnahme dar. Somit hätte das Landratsamt auf Antrag nach pflichtgemäßem Ermessen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen über die Erteilung einer derartigen Abweichung zu entscheiden. Ob eine derartige Abweichung in rechtmäßiger Weise nach pflichtgemäßem Ermessen erteilt werden könnte, kann nicht entschieden werden, da kein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung besteht und das Gericht die Entscheidung im Übrigen nur auf Ermessensfehler überprüfen darf, jedoch nicht eigene Ermessenserwägungen an die Stelle derer der Behörde setzen dürfte.
c) Fehler im Rahmen des von Art. 76 Satz 1 BayBO eröffneten Ermessens sind nicht erkennbar.
Ob möglicherweise ein Ermessensfehler zu bejahen wäre, falls ein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO besteht und die Behörde nicht auf Stellung eines Abweichungsantrags hinwirkt, kann letztlich offenbleiben, da ein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung nicht besteht (s.o.). In einem Fall, in dem die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen lediglich nach Stellung eines Antrags nach pflichtgemäßem Ermessen möglich ist – wie letztlich in jedem Fall, in dem kein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung besteht – ist es im Rahmen des Erlasses einer Beseitigungsanordnung nicht ermessenfehlerhaft, die mögliche Erteilung einer Abweichung im Rahmen des Beseitigungsermessens außer Betracht zu lassen. Sofern kein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung besteht, handelt die Behörde jedenfalls in den Fällen, in denen sich der Bauherr nicht durch Einreichung eines Tekturantrags – unter Stellung eines Antrags auf Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften – um eine Legalisierung bemüht, nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie sich mit der möglichen Erteilung einer Abweichung nicht auseinandersetzt.
Auch hinsichtlich der übrigen von den Klägern vorgetragenen Einwände sind Ermessensfehler nicht erkennbar.
Ein willkürliches Vorgehen des Landratsamts lag schon deshalb nicht vor, da das Gericht keinen Grund hat, an der Einlassung zu zweifeln, dass die beiden – zudem auch erst in der Klagebegründung, also nach Bescheidserlass – vom Klägerbevollmächtigten genannten Bezugsfälle – von dem der eine ohnehin vom öffentlichen Straßengrund aus nicht erkennbar ist und der andere, falls überhaupt, dann jedenfalls eine deutlich geringere Überschreitung der maximalen Länge von 9,00 m gemäß Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO aufweist – dem Landratsamt nicht bekannt waren und nunmehr aber geprüft werden. Zudem ist das Landratsamt dadurch auf den Fall der Kläger aufmerksam geworden, da diese es versäumt haben, die Aufnahme der Nutzung anzuzeigen. Auch dies zeigt, dass die Kläger nicht vollkommen ohne jeden sachlichen Grund oder Anlass, und mithin willkürlich „herausgegriffen“ worden sind.
Auch vermag die von den Klägern bemühte Argumentation des Lärmschutzes nicht zu verfangen. Der in Bezug genommene Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist – unabhängig von den sonstigen Umständen des Falles – bereits deshalb nicht vergleichbar, da es im dortigen Falle um eine Anlage ging, die nach ihrem primären Zweck tatsächlich eine Lärmschutzeinrichtung war, nämlich eine Lärmschutzwand. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch um Anlagen, die nach ihrer objektiven Zweckbestimmung primär keine Lärmschutzeinrichtungen sind. Auch wenn dies ein angenehmer, nützlicher oder sogar erwünschter Nebeneffekt der Anlagen ist, kann ein etwaiges architektonisches Selbsthilferecht jedenfalls nicht so weit gehen, dass zum Schutz vor gesundheitsschädlichen Immissionen (von denen zum einen im vorliegenden Fall nicht ohne weiteres ausgegangen werden kann und gegen die zum anderen ein Einschreiten auf bau- oder immissionsschutzrechtlicher Grundlage grundsätzlich vorrangig wäre) Anlagen errichtet werden dürfen, deren primäre objektive Zweckbestimmung nicht der Schall- oder Immissionsschutz, sondern wie hier das Unter- und Abstellen von Fahrzeugen sowie die Lagerung von Holz, Garten- und sonstigen Gerätschaften ist. Sofern der klägerische Vortrag zutreffend wäre und tatsächlich unzumutbare Emissionen vom südlich gelegenen Gewerbegrundstück ausgehen würden, wäre vom Standpunkt der architektonischen Selbsthilfe her, wenn überhaupt, die Zulässigkeit einer Lärmschutzwand (die bis zu einer Höhe von 2,00 m nach der Bayerischen Bauordnung ohnehin zum einen verfahrensfrei und zum anderen abstandsflächenrechtlich irrelevant wäre) diskutabel. Keinesfalls aber können mit dieser Argumentation andere Anlagen, deren primäre objektive Zweckbestimmung nicht der Lärmschutz ist, gerechtfertigt werden. Zudem ist zu beachten, dass sich architektonische Selbsthilfe grundsätzlich auf die Ausführung des zu schützenden Objekts selbst, mithin hier das Wohnhaus der Kläger und dessen Ausführung bezieht.
Dass die Klägerin zu 2) krank ist und daher möglicherweise Lärm nicht gut verträgt ist irrelevant, da im Baurecht ein objektiver Maßstab anzulegen ist und es auf persönliche Befindlichkeiten nicht ankommt.
Auch ist kein anderes milderes Mittel als der Rückbau auf das materiell-rechtlich zulässige Maß ersichtlich. Insbesondere stellt eine temporäre Duldung kein milderes Mittel in diesem Sinne dar, da ein rechtswidriger Zustand grundsätzlich nicht einmal vorübergehend geduldet werden muss.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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