Aktenzeichen 9 ZB 15.1590
Leitsatz
Maßstabsbildend im Sinne des § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB ist die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (vgl. BVerwG BeckRS 2014, 51700, Rn. 7 mwN). Dies gilt selbst dann, wenn die Umgebung (teilweise) im Gebiet eines Bebauungsplans liegt. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
W 4 K 14.1211 2015-05-19 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500,– Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin wendet sich gegen die mit Bescheid des Landratsamts Aschaffenburg vom 17. Oktober 2014 der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Zweifamilienhauses auf dem Nachbargrundstück FlNr. … Gemarkung D … Ihre Klage wurde vom Verwaltungsgericht mit Urteil vom 19. Mai 2015 abgewiesen. Zur Begründung des Urteils wurde ausgeführt, dass sich das Bauvorhaben der Beigeladenen in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und nicht gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme in seiner subjektiv-rechtlichen Ausprägung verstößt. Hiergegen richtet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung der Klägerin.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Die Klägerin beruft sich allein auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ob solche Zweifel bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel hier nicht.
1. Die Annahme der Klägerin, das Bauvorhaben füge sich aufgrund einer Hinterlandbebauung hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die nähere Umgebung ein, weil die Bebauung nördlich des Vorhabengrundstücks im Geltungsbereich des Bebauungsplans „zwischen … und M …“ eine andere Struktur aufweise, geht fehl. Maßstabsbildend im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – juris Rn. 7 m.w.N.). Die Eigenart der näheren Umgebung wird durch dasjenige bestimmt, was auf dem Baugrundstück selbst und in der näheren Umgebung tatsächlich vorhanden ist (vgl. BVerwG, U.v. 8.12.2016 – 4 C 7.15 – juris Rn. 10). Danach ist aber – unabhängig davon, dass das Verwaltungsgericht die geografischen Grenzen der näheren Umgebung in den Urteilsgründen nicht weiter dargelegt hat – nicht ernstlich zweifelhaft, dass die Bebauung auf dem Grundstück der Klägerin, das unmittelbar nordwestlich an das Baugrundstück angrenzt, selbst dann Maßstab für das Einfügen des Bauvorhabens im Rahmen des § 34 BauGB ist, wenn es in dem genannten Plangebiet liegen sollte (vgl. Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 13. Aufl. 2016, § 34 Rn. 24; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Okt. 2016, § 34 Rn. 36). Ein Aneinanderstoßen zweier jeweils einheitlich geprägter Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen im Hinblick auf die Feststellungen des Verwaltungsgerichts beim Augenscheinstermin sowie der in den Akten befindlichen Luft- und Lichtbilder nicht. Ist somit bereits vorhandene Bebauung auf dem Hintergelände vorhanden, ergeben sich für das angegriffene rahmenwahrende Bauvorhaben regelmäßig auch keine Baubeschränkungen aufgrund bodenrechtlicher Spannungen (vgl. BayVGH, B.v. 6.11.2009 – 2 CS 09.2222 – juris Rn. 9).
2. Soweit die Klägerin vorträgt, das Verwaltungsgericht habe die „Möglichkeit einer Rechtsverletzung durch Hinterlandbebauung innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils i.S.d. § 34 BauGB mangels drittschützender Funktion von Baugrenzen von vornherein allein deswegen ausgeschlossen“, trifft dies nicht zu. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf abgestellt (UA S. 7), dass hier das Kriterium der überbaubaren Grundstücksfläche für sich gesehen keinen Nachbarschutz vermittelt und es deshalb für die Verletzung von Nachbarrechten im Rahmen des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB allein darauf ankommt, ob das Vorhaben der Beigeladenen die mit dem Gebot des Einfügens geforderte Rücksichtnahme auf die Klägerin einhält (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21).
3. Einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint.
Bei der Prüfung des Gebots der Rücksichtnahme kann sowohl ein Rahmen wahrendes Vorhaben ausnahmsweise unzulässig sein, wenn es nicht die gebotene Rücksicht auf die Bebauung in der Nachbarschaft nimmt als auch umgekehrt ein den Rahmen überschreitendes Vorhaben ausnahmsweise zulässig sein, wenn es trotz der Überschreitung keine städtebaulichen Spannungen hervorruft (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris Rn. 26 m.w.N.). Entsprechend den obigen Ausführungen wahrt das Bauvorhaben hier den aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmen, so dass darauf abzustellen ist, ob das Vorhaben es an der gebotenen Rücksicht auf die sonstige, also vor allem auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung fehlen lässt (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21).
Die Klägerin ist der Ansicht, das Vorhaben sei rücksichtslos, weil ihm eine negative Vorbildwirkung hinsichtlich der erstmaligen Bebauung im bisher unbelasteten rückwärtigen Ruhebereich zukomme und es vor allem hinsichtlich der Lage der vier Stellplätze und der Zufahrt das Unruhepotential in rücksichtsloser Weise steigere. Das Verwaltungsgericht hat dies jedoch zutreffend verneint. Dem Vorhaben fehlt es bereits an einer im Zulassungsvorbringen behaupteten „negativen Vorbildwirkung“, weil – wie oben ausgeführt – das Grundstück der Klägerin selbst im Hinterland bebaut ist (vgl. BayVGH, B.v. 6.11.2009 – 2 CS 09.2222 – juris Rn. 8). Hinsichtlich der Zufahrt und der Stellplätze hat das Verwaltungsgericht darauf abgestellt, dass die Zufahrt nicht entlang der Grundstücksgrenze der Klägerin verläuft und der der Klägerin am nächsten liegende Stellplatz ca. 5 m von der Grundstücksgrenze entfernt ist, weshalb das Gebot der Rücksichtnahme nicht unter dem Gesichtspunkt unzumutbarer Lärm- oder Geruchsimmissionen verletzt ist. Dem wird durch das Zulassungsvorbringen, das auf einen bisher unbelasteten rückwärtigen Ruhebereich abstellt, nicht substantiiert entgegengetreten. Die Klägerin übersieht, dass sie selbst bereits nicht auf eine Bebauung und Zufahrt zum hinterliegenden Grundstücksbereich verzichtet hat und eine Vorbelastung dieses Bereichs bereits durch Fahrzeuglärm auf ihrem eigenen Grundstück besteht (vgl. BayVGH, U.v. 16.7.2015 – 1 B 15.194 – juris Rn. 20). Darüber hinaus ist nicht dargelegt, dass die Anordnung der Stellplätze und der Zufahrt über den Bereich hinausgeht, den die Klägerin selbst für ihre Zufahrt zum hinterliegenden Gebäude benutzt. Auch insoweit kann deshalb nicht von einem erstmaligen Eindringen in einen bislang unbelasteten rückwärtigen Ruhebereich gesprochen werden (vgl. BayVGH, U.v. 22.1.2010 – 14 B 08.887 – juris Rn. 29). Im Übrigen sind Anhaltspunkte dafür, dass vier Stellplätze für das geplante Zweifamilienhaus über das regelmäßig als sozialadäquat hinzunehmende Maß hinausgehen, weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Da die Beigeladene einen wesentlichen Beitrag im Zulassungsverfahren geleistet hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG und folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).