Baurecht

Bestimmung von Abstandsflächen

Aktenzeichen  AN 9 K 19.02290

Datum:
9.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 21826
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2
BauGB § 30 Abs. 1
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

1. Die Abstandsfläche eines höheren Gebäudeteils kann auch auf einer darunterliegenden Dachfläche desselben Gebäudes liegen; letztere bildet eine Art fiktive Geländeoberfläche iSv Art. 6 Abs. 4 S. 2 BayBO. Dies kann etwa bei Penthäusern auf der Dachterrasse eines höheren Gebäudes der Fall sein. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ob die Festsetzung eines Bebauungsplans auch dem Schutz eines bestimmbaren und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises zu dienen bestimmt ist (sog. Drittschutz), hängt davon ab, ob die Gemeinde einer Festsetzung diese Schutzfunktion zukommen lassen will. Selbiges kann sich aus dem Bebauungsplan selbst oder seiner Begründung ergeben. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Umstand, dass ein (historischer) Plangeber die Rechtsfolge einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung zum Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte, verbietet es nicht, die Festsetzungen nachträglich subjektivrechtlich aufzuladen. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das Gebot der Rücksichtnahme ist durch Gegenseitigkeit geprägt. Ein Nachbar kann sich nicht auf eine Unterschreitung des Grenzabstands durch ein Vorhaben berufen, wenn er selbst den Abstand in gleicher Weise unterschreitet. (Rn. 71) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der Beigeladenen zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Anfechtungsklage bleibt ohne Erfolg. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 17. Oktober 2019 verletzt keine drittschützenden Vorschriften. Die Klägerin ist daher nicht in ihren Rechten verletzt.
Eine Anfechtungsklage führt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur zum Erfolg, wenn der angefochtene Verwaltungsakt – hier die Baugenehmigung – rechtswidrig ist und den Kläger zugleich in seinen Rechten verletzt. Für den Erfolg einer Nachbarklage ist eine mögliche objektive Verletzung einer Rechtsnorm allein somit nicht ausreichend. Vielmehr muss sich die Rechtswidrigkeit zum einen aus einer Norm ergeben, die dem Schutz des Nachbarn dient (Schutznormtheorie, vgl. nur BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris). Maßgeblich kann zum anderen nur eine Rechtsverletzung sein, die zum Prüfungsumfang des bauaufsichtsrechtlichen Verfahrens gehört, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO. Folglich stellt das gerichtliche Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle dar; die Prüfung beschränkt sich vielmehr darauf, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften verletzt sind, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln (BayVGH a.a.O.).
1. a) Das von der Beigeladenen zur Genehmigung gestellte Mehrfamilienhaus ist eine nach Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtige bauliche Anlage. Da sie keinen Sonderbau im Sinne von Art. 2 Abs. 4 BayBO darstellt, bestimmt sich das Prüfprogramm der Beklagten als Bauaufsichtsbehörde nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO.
b) Das von der Klägerin angeführte Abstandsflächenrecht nach Art. 6 BayBO ist nicht verletzt.
Zwar handelt es sich insoweit um nachbarschützende Vorschriften; Vorschriften über die Abstandsflächen dienen in ihrer Gesamtheit auch dem Nachbarschutz (VGH München B.v. 30.11.2005 – 1 CS 05.2535, BeckRS 2005, 17740; B.v. 13.12.2004 – 20 CS 04.2915, BeckRS 2004, 33984; Busse/Kraus/Hahn/Kraus, 141. EL März 2021 Rn. 550, BayBO Art. 6 Rn. 550).
Jedoch gilt insoweit ein Mindest-Abstand von 4,68 m, den die Beigeladene nach den genehmigten Planzeichnungen einhält.
aa) Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Nach Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO bemisst sich die Tiefe der Abstandsfläche nach der senkrecht zur Wand gemessenen Wandhöhe (H).
bb) Grundsätzlich beträgt die Tiefe der Abstandsflächen nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO 0,4 H; durch städtebauliche Satzungen oder Satzungen nach Art. 81 BayBO kann ein abweichendes Maß der Tiefe der Abstandsfläche zugelassen oder vorgeschrieben werden.
cc) Trotz der Regelung aus Art. 6 Abs. 5a BayBO gilt das Abstandsflächenregime von 0,4 H auch auf dem Gebiet der Beklagten. Dies ergibt sich aus § 1 der Satzung der Stadt … über die Tiefe der Abstandsflächen i.V.m. Art. 6 Abs. 7 BayBO a.F. (zur Fortgeltung der genannten Satzung trotz der BayBO-Reform, vgl. Busse/Kraus, 141. EL März 2021, BayBO Art. 6 Rn. 333 m.w.N.). dd)
Wie die Beklagte zutreffend annimmt ist dabei eine Wandhöhe von 11,71 m zugrundezulegen.
(1) Anders als die Klägerin vorträgt, führt die Tatsache, dass die Oberkante des Geländes nach den genehmigten Bauzeichnungen bei – 0,02 liegt, nicht dazu, dass die Wandhöhe mit 11,73 m anzunehmen ist.
Die Wandhöhe bestimmt sich nach Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO als Maß von der Geländeoberfläche bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut oder bis zum oberen Abschluss der Wand. Grundlage ist vorliegend demnach, dass sich das Gebäude ausgehend von -0,02 auf 11,71 m erhebt. Das negative Maß der Geländeoberkante führt dementsprechend nicht zu einer Erhöhung des Gebäudes (2).
Somit ergibt sich eine nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO auf dem Grundstück der Beigeladenen einzuhaltende Abstandsfläche von 0,4 x 11,71 ≈ 4,68 m.
Diesen Wert hält die Beigeladene auch an der schmalsten Stelle zwischen der Wand des von ihr geplanten Mehrfamilienhauses und dem Grundstück der Klägerin ein.
(3) Entgegen dem Vortrag der Klägerin ist die Höhe der Brüstung von 56 cm für die Abstandsflächen ohne Relevanz.
Die Abstandsfläche eines höheren Gebäudeteils kann auch auf einer darunterliegenden Dachfläche desselben Gebäudes liegen; letztere bildet eine Art fiktive Geländeoberfläche i.S.v. Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO. Dies kann etwa bei Penthäusern auf der Dachterrasse eines höheren Gebäudes der Fall sein (Busse/Kraus/Kraus, 141. EL März 2021, BayBO Art. 6 Rn. 165-167).
So liegt die Sache hier. Durch den Versatz der Brüstung liegen deren Abstandsflächen auf dem geplanten Gebäude: Bei einer Höhe von 56 cm beträgt die 0,4H-Abstandsfläche der Brüstung 22,4 cm. Nach den genehmigten Planzeichnungen ist die Brüstung um mindestens 36 cm zurückversetzt. Mithin liegt der Abstand von 22,4 cm komplett auf der Dachfläche des Gebäudes.
c) Daneben verletzt auch die zugunsten der Beigeladenen erteilte Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans … i.S.v. § 31 Abs. 2 BauGB die Klägerin nicht in ihren Rechten.
(1) Im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB ist mit Blick auf den Nachbarschutz zu differenzieren, ob von drittschützenden oder nicht drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplanes befreit wird (zum Ganzen: BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 -, Rn. 32 – 35, juris).
Weicht ein Bauvorhaben von drittschützenden Festsetzungen ab, kann es nur zugelassen werden, wenn die Abweichung durch eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB gerechtfertigt wird. Dabei hat der Dritte einen Rechtsanspruch auf Einhaltung der jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB (grundlegend: BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64/98 -, juris; siehe auch BVerwG, U.v. 23.8.1996 – 4 C 13/94 -, BVerwGE 101, 364-381).
Geht es folglich um die Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans, ist auf den Rechtsbehelf des Nachbarn hin vollumfänglich zu prüfen, ob die objektiven Voraussetzungen für eine Befreiung vorliegen. Es kommt zum einen darauf an, ob die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist; zum anderen ist entscheidend, ob die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB im konkreten Fall erfüllt sind.
Wird aber von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplanes befreit, hat der Nachbar nur ein subjektiv-öffentliches Recht auf Würdigung seiner nachbarlichen Interessen; inwieweit eine Befreiung die Rechte des Nachbarn verletzt, entscheidet sich dabei nach den Maßstäben, die das Bundesverwaltungsgericht zum drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO entwickelt hat (BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64/98 -, juris m.w.N.; BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8/84 -, juris – unter ausdrücklicher Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung; siehe auch BayVGH, B.v. 13.11.2000 – 1 ZB 99.1079 -, juris).
(2) Festsetzungen eines Bebauungsplanes besitzen nicht kraft Gesetzes dritt- bzw. nachbarschützende Wirkung – abgesehen von solchen über die Art der baulichen Nutzung (grundlegend: BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 -, BVerwGE 94, 151-163).
Ob eine Festsetzung auch dem Schutz eines bestimmbaren und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises zu dienen bestimmt (sog. Drittschutz) hängt davon ab, ob die Gemeinde einer Festsetzung diese Schutzfunktion zukommen lassen will. Selbiges kann sich aus dem Bebauungsplan selbst oder seiner Begründung ergeben (vgl. nur BVerwG, B.v. 9.10.1991 – 4 B 137/91 -, juris; U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 -, juris; B.v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 -, juris).
(3) Damit handelt es sich bei den in Rede stehenden Befreiungen nur um nicht-drittschützende Festsetzungen:
Die Klägerin rügt vorliegend die Befreiung von im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen (Baufenster), die Befreiung der Vorgabe zur Zahl der Vollgeschosse sowie die Befreiung von der maximal zulässigen Geschossflächenzahl. In Rede stehen somit Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche (§ 23 Abs. 1, 3 BauNVO) sowie zum Maß der baulichen Nutzung (§ 16 Abs. 2 Nr. 2, 3, § 20 BauNVO).
Die zugrundeliegende Bebauungsplansatzung Nr. 3552 der Beklagten deutet weder im Text-, noch im Planteil darauf hin, dass Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung sowie der überbaubaren Grundstücksfläche nachbarschützende Funktion zukommen sollte – auch die Klägerin hat insoweit nichts vorgetragen. Daneben enthält die Begründung des Bebauungsplans … nach dem unwidersprochenen Vortrag der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 9. Juni 2021 ebenfalls keine Anhaltspunkte für einen Willen der Beklagten, Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung zum Schutz von Nachbareigentümern zu erlassen.
Im Übrigen ändert daran auch das vom Klägervertreter angeführte sogenannte „Wannsee-Urteil“ des Bundesverwaltungsgerichts nichts (BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7/17 -, BVerwGE 162, 363-372). Zwar kommt danach eine „subjektiv-rechtliche Aufladung“ objektiver Festsetzungen eines Bebauungsplans in Betracht – mithin kann in besonderen Konstellationen der Wille des Plangebers, Festsetzungen drittschützenden Charakter zu verleihen, aus objektiven Gesichtspunkten hergeleitet werden (BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7/17 -, BVerwGE 162, 363-372 = NVwZ 2018, 1808 (1809; Rn. 15f). Dies kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Betracht, wenn der Bebauungsplan aus einer Zeit stammt, in der man ganz allgemein an einen nachbarlichen Drittschutz aus Festsetzungen eines Bebauungsplans noch nicht gedacht hat (BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – NVwZ 2018, 1808 bzw. juris Rn. 12 ff.). Der Umstand, dass ein Plangeber die Rechtsfolge einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung zum Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte, verbietet es nicht, die Festsetzungen nachträglich subjektivrechtlich aufzuladen (BVerwG, a.a.O. Rn. 16; vgl. auch bereits BVerwG, U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94 – juris Rn. 52 ff.).
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat sich dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts insoweit angeschlossen, als es um eine nachträgliche subjektive Aufladung übergeleiteter Bebauungspläne aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des BBauG und der erst im Jahr 1960 beginnenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Nachbarschutz geht (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – juris Rn. 25 f; B.v. 27.4.2021 – 9 ZB 20.1669 -, Rn. 17, juris).
Letzteres ist hier nicht der Fall: Der verfahrensgegenständliche Bebauungsplan … stammt aus dem Jahr 1971. Dementsprechend scheidet eine subjektive Aufladung der bauplanerischen Festsetzungen von vornherein aus.
Ohne dass es hier noch darauf ankäme, ist zudem das Folgende zu beachten: Eine Voraussetzung der Wannsee-Entscheidung ist, dass der Plangeber die Planbetroffenen mit den Festsetzungen in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis einbinden wollte (BVerwG, aaO, Rn. 14). Nach dem BVerwG geht es dabei nicht um ein Synallagma („do ut des“) – darum, dass die fraglichen Maßfestsetzungen auch dazu dienen sollen, einer gegenseitigen Verschattung der Grundstücke im Plangebiet vorzubeugen oder jedem Grundstück eine möglichst ungestörte Sicht auf die Umgebung zu erhalten. Der Begriff „nachbarliches Austauschverhältnis“ diene vielmehr als Schlagwort für eine auf Gegenseitigkeit angelegte Beziehung zwischen den Planbetroffenen, die diese zur Bewahrung des Gebietscharakters berechtige und verpflichte.
Nach dem BVerwG berührten Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung den Gebietscharakter im Allgemeinen nicht. Nach dem vom BVerwG entschiedenen Fall könne dies in besonderen Konstellationen anders zu betrachten sein – im Wannsee-Urteil stand eine vom Plangeber konzipierte Sondergebietsfläche für den Wassersport inmitten. Hier verfolgte der Satzungsgeber besondere Zielsetzungen, wie eine Stärkung des Grünflächenanteils, die Gestaltung eines von Bebauung frei gehaltenen Uferbereichs und die Beschränkung der baulichen Ausnutzung der Grundstücke insgesamt, wobei diese Planungsziele durch eine Kombination der einzelnen Festsetzungen erreicht werden sollten. Auch die Festsetzungen zur Zahl der Vollgeschosse und der Baumassenzahl sollten zur spezifischen Qualität des Sondergebiets beitragen und nach dem erklärten Willen des Plangebers der Bewahrung des Gebietscharakters dienen (BVerwG, aaO, Rn. 20f).
So liegt die Sache hier aber nicht: Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte im Planbereich eine spezifische, über die Festsetzung „Reines Wohngebiet“ hinausgehende Planungskonzeption verfolgte. Somit kann nicht angenommen werden, dass die Maßfestsetzungen von wesentlicher Bedeutung für den vom Plangeber konzipierten Charakter des Reinen Wohngebiets waren; sie sind nicht dritt- bzw. nachbarschützend.
(4) Mangels Befreiung von drittschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans … kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB im konkreten Fall gegeben sind.
Insofern ist nicht relevant, ob die Geschossflächenzahl des Vorhabens der Beigeladenen wie von der Beklagten angenommen bei 1,6 oder wie von der Klägerin angemerkt tatsächlich etwas höher liegt, da die maßgebliche Fläche im Sinne des § 19 Abs. 3 BauNVO geringer sein könnte – Flächen für die verkehrsmäßige Erschließung eines Hinterliegergrundstücks rechnen nicht zum Bauland. Dasselbe gilt für den Einwand der Klägerin, nach der aktuellen BayBO könne die Giebelfläche eines Satteldachs unter Umständen abstandsflächenrelevant sein, weshalb das Argument nicht trage, statt einem Penthouse wäre auch ein Satteldach zulässig gewesen.
Allein im Fall drittschützender Festsetzungen kann ein Nachbar die Einhaltung der Festsetzung bzw. die ermessensfehlerfreie Befreiung unabhängig von Art und Umfang einer tatsächlichen Betroffenheit rügen. Stehen aber nicht drittschützende Festsetzungen in Rede, kommt Nachbarschutz zugunsten der Klägerin nur unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Rücksichtnahme in Betracht, § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO. Im Rahmen der diesbezüglichen Prüfung sind Art und Umfang der tatsächlichen Betroffenheit eines Nachbarn zu ermitteln und abzuwägen – rein mathematisch zu ermittelnden Größen wie der Geschossflächenzahl oder auch der Zahl der Vollgeschosse kommt insofern kein besonderer Aussagegehalt zu.
d) Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verletzt das Gebot der Rücksichtnahme nicht.
Das allgemeine Rücksichtnahmegebot folgt im durch Bebauungsplänen geordneten Baugebiet aus § 15 Abs. 1 BauNVO. Es ergänzt die Festsetzungen des Bebauungsplans. Eine Konfliktbewältigung auf der Grundlage des Rücksichtnahmegebots setzt dabei voraus, dass der Bebauungsplan für sie noch offen ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Festsetzungen eines Bebauungsplans auch Ausdruck einer „planerischen Zurückhaltung“ sind (BVerwG, U.v. 5.8.1983 – 4 C 96/79 – NJW 1984, 138; U.v. 12. 9. 2013 – 4 C 8/12 – NVwZ 2014, 69).
Nachbarrechte werden im Lichte des Rücksichtnahmegebots aber nur verletzt, wenn das Bauvorhaben zu unzumutbaren Auswirkungen für die Nachbargrundstücke führt (vgl. z.B. BayVGH B.v. 14.6.2007 – 1 CS 07.265 – BeckRS 2010, 45289).
Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG U.v. 18.11.2004 – 4 C 1/04 – juris; BayVGH B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris; BayVGH, B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 4 m.w.N).
Daraus folgt, dass das Gebot der Rücksichtnahme durch Gegenseitigkeit geprägt ist. Ein Nachbar kann sich somit etwa nicht auf eine Unterschreitung des Grenzabstands durch ein Vorhaben berufen, wenn er selbst den Abstand in gleicher Weise unterschreitet (OVG Lüneburg B.v. 12.4.2017 – 1 ME 34.17, NVwZ-RR 2017, 683 = BeckRS 2017, 109037); zur Reziprozität auch: VGH München B.v. 28.4.2020 – 9 ZB 18.1493, BeckRS 2020, 9653.
Wesentlich ist, ob unter Berücksichtigung der generellen Zulässigkeit von Vorhaben, die sich im gegebenen Rahmen halten, gewichtigere Belange der Nachbarschaft entgegenzuhalten sind. Schlichte Situationsveränderungen berühren das Rücksichtnahmegebot nicht (VGH Mannheim B.v. 24.1.1991 – 8 S 112/91, VBlBW 1991, 297). Das Gebot der Rücksichtnahme schützt regelmäßig nicht vor Verschlechterungen der freien Aussicht oder vor Einsichtsmöglichkeiten von benachbarten Häusern (BVerwG B.v. 3.1.1983 – 4 B 224.82, BRS 40 Nr. 192 = BeckRS 2016, 41930; VGH München B.v. 15.2.2017 – 1 CS 16.2396, BeckRS 2017, 104044; B.v. 26.11.2018 – 9 ZB 18.912, BeckRS 2018, 32495 und B.v. 10.7.2020 – 15 CS 20.1409, BeckRS 2020, 16902).
Eine Rücksichtslosigkeit aufgrund erdrückenden oder abriegelnder Wirkung kommt bei nach Höhe, Breite und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – DVBl. 1981, 928 ff. = juris Rn. 32 ff.: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zu 2,5-geschossigem Wohnhaus; BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – DVBl. 1986, 1271 f. = juris Rn. 15: grenznahe 11,5 m hohe und 13,31 m lange, wie eine „riesenhafte metallische Mauer“ wirkende Siloanlage bei 7 Meter breitem Nachbargrundstück; vgl. auch BayVGH, B.v. 3.5.2011 – 15 ZB 11.286 – juris
Rn. 13; B.v. 17.7.2013 – 14 ZB 12.1153 – BauR 2014, 810 f. = juris Rn. 14; B.v. 30.9.2015 – 9 CS 15.1115 – juris Rn. 13; B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 5; VGH BW, B.v. 16.2.2016 – 3 S 2167/15 – juris Rn. 38; Sächs.OVG, B.v. 4.8.2014 – 1 B 56/14 – juris Rn. 16 ff.; B.v. 16.6.2015 – 1 A 556/14 – juris Rn. 16; B.v. 25.7.2016 – 1 B 91/16 – juris Rn. 13 ff.
Jedoch verbieten sich mit Blick auf das Rücksichtnahmegebot schematische Lösungen. Es existieren keine verallgemeinerungsfähigen Maßstäbe, wann die Relevanzschwelle im Einzelnen erreicht ist; entscheidend sind die konkreten Gegebenheiten (BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 1 CS 20.1955 -, Rn. 6, juris).
aa) Gegen eine Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens spricht bereits, dass die bauordnungsrechtlich erforderlichen Abstandsflächen eingehalten sind, mithin eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung, wie von Art. 6 BayBO gefordert, gewährleistet ist (vgl. BVerwG v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – juris).
bb) Eine besondere Verschattung der Klägerin ist nicht zu erwarten. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Befreiung von den Baugrenzen im Wesentlichen dazu führt, dass das Vorhaben der Beigeladenen weiter südlich als im Bebauungsplan vorgesehen errichtet würde. Angesichts des tatsächlichen Abstands der östlichen Außenwand der Klägerin sowie dem westlichsten Eck des geplanten Gebäudes der Beigeladenen ergeben sich für die Klägerin nur in den Abendstunden Einschränkungen in der Belichtung; dabei betreffen diese nur kleinere Teile ihres Gebäudes.
Zudem wird der 45-Grad-Lichtseinfallswinkel bezüglich der Fenster in der Ostwand es klägerischen Anwesens nicht berührt.
cc) Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls ist hier keine erdrückende, abriegelnde oder einmauernde Wirkung zu Lasten der Klägerin erkennbar. Es ist nicht ersichtlich, dass das Vorhaben der Beigeladenen mit Blick auf seiner Größe und Lage unzumutbar ist. In der Gesamtschau sind bauliche Situationen, wie sie hier bei Umsetzung der angegriffenen Baugenehmigung für die Klägerin entstehen, geradezu typisch für urbane Gebiete:
Das Gebäude der Klägerin ist etwa 7,70 m hoch, während die Penthouse-Etage eine Höhe von 14,47 m aufweist. Allerdings beträgt der Abstand zwischen dem klägerischen Wohnhaus und dem geplanten Mehrfamilienhaus nach dem vermaßten Lageplan der Beklagten an der schmalsten Stelle etwa 11,50 m. Insofern sieht sich die Klägerin nicht gleichermaßen einer senkrechten, erdrückenden Wand gegenüber.
Im Übrigen hätte das im Bebauungsplan … vorgesehene Baufenster sogar dazu geführt, dass die Bebauung auf den Grundstücken …, … und … bis auf etwa 7 m an die Klägerin herangerückt wäre. Ferner möchte die Beigeladene unter dem Mehrfamilienhaus eine Tiefgarage errichten. Dies führt dazu, dass der Klägerin die nach dem Bebauungsplan … auf dem Grundstück der Beigeladenen möglichen Stellplätze nicht bis auf etwa drei – bei Berücksichtigung der Zufahrten sogar bis auf etwa einen – Meter an die Beigeladene heranrücken. Dies erspart der Klägerin nicht nur möglichen Einblick Dritter, sondern auch Lärmimmissionen.
dd) Zwar ist das geplante Mehrfamilienhaus der Beigeladenen größer als das Einfamilienhaus der Klägerin. Jedoch ist dies im Wesentlichen die Folge des bestehenden Bebauungsplans, der im betreffenden Gebiet eine vierstöckige Bebauung zuzüglich Dachgeschoss ermöglicht (nicht zuletzt deshalb ist in unmittelbarer Nähe zum Vorhaben der Beigeladenen nach den Satellitenbildern der Bayerischen Vermessungsverwaltung zum Teil mehrstöckige Bebauung vorhanden). Die Tatsache, dass die Klägerin selbst die Möglichkeiten des Bebauungsplans (aktuell) nicht ausnutzt, kann nicht per se einseitig zulasten der Beigeladenen gehen.
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass sich das Gebäude der Klägerin selbst außerhalb des im Bebauungsplan … für das klägerische Grundstück … vorgesehenen Baufensters befindet.
Der Bebauungsplan … ist geltendes Recht, auch wenn er nach der Errichtung des Gebäudes der Klägerin entstanden ist. Gründe für die Unwirksamkeit seiner Festsetzungen hat auch die Klägerin nicht vorgetragen.
4. Als Unterliegende hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Dabei entspricht es der Billigkeit, der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Aufwendungen der Beigeladenen aufzuerlegen, da sich diese mit der Stellung eines Antrags dem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat (§§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.

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