Baurecht

Drittanfechtung einer Baugenehmigung

Aktenzeichen  M 9 K 16.3315

Datum:
7.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 34 Abs. 1 S.  1, Abs. 2
BauNVO BauNVO § 4, § 5, § 12 Abs. 2
BayBO BayBO Art. 6 Abs. 5 S. 1, Abs. 6 S. 1, Abs. 8

 

Leitsatz

1. Die Erfordernisse zum Maß der baulichen Nutzung dienen grundsätzlich nur der städtebaulichen Ordnung, nicht aber auch dem Schutz des Nachbarn.Da sie in aller Regel den Gebietscharakter unberührt lassen und nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke haben, ist zum Schutz der Nachbarn das drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichend (wie VGH München, BeckRS 2016, 48820. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Gebot der Rücksichtnahme soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten und vermittelt insofern Drittschutz, als die Genehmigungsbehörde in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Belange eines erkennbar abgrenzbaren Kreises Dritter zu achten hat. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Vorhaben, das die Abstandsflächen verletzt, ist nicht zwingend auch rücksichtslos. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein Nachbar hat keinen Anspruch darauf, dass sein Grundstück von unerwünschten Einblicken freigehalten wird. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
5. Wegen der generellen Zulässigkeit von Stellplätzen und Garagen selbst in reinen Wohngebieten (§ 12 Abs. 2 BauNVO) müssen die Nachbarn die von der im Zusammenhang mit einer zulässigen Wohnbebauung stehenden Nutzung von Stellplätzen und Garagen ausgehenden Emissionen im Regelfall hinnehmen (wie VGH München,BeckRS 2005, 15770).  (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt den Kläger nicht in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Anfechtungsklage eines Dritten gegen eine Baugenehmigung kann nur dann Erfolg haben, wenn die Baugenehmigung Vorschriften verletzt, die dem Schutz des Dritten zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im vorliegenden Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung beschränkt sich vielmehr darauf, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die den Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris).
Ein – im Übrigen angesichts der Bebauung auf FlNr. 156/2 und auf FlNr. 146, jeweils Gemarkung …, nicht erkennbares – Überschreiten des sich aus der näheren Umgebung ergebenden Rahmens hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung, § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, würde den Kläger von vorn herein nicht in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzen. Die Erfordernisse zum Maß der baulichen Nutzung dienen grundsätzlich nur der städtebaulichen Ordnung, nicht aber auch dem Schutz des Nachbarn. Da sie in aller Regel den Gebietscharakter unberührt lassen und nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke haben, ist zum Schutz der Nachbarn das drittschützende Rücksichtnahmegebot ausreichend (st. Rspr., vgl. z.B. BayVGH, B.v. 4.7.2016 – 15 ZB 14.891 – juris). Auch mit dem Vortrag, es seien Probleme mit der verkehrsmäßigen Erschließung zu erwarten, § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB a.E., bezieht sich der Kläger auf einen nicht nachbarschützenden Aspekt (BayVGH, B.v. 1.3.2016 – 1 ZB 15.1560 – juris). Im Übrigen hat der Augenschein die diesbezüglichen Aussagen des Beklagten bestätigt. Der …weg ist eine gut ausgebaute ca. 6 m breite Straße mit Gehwegen auf jeder Seite. Probleme mit der Erschließung sind nicht erkennbar.
Im Hinblick auf drittschützende Vorschriften ist kein Rechtsverstoß erkennbar. Das Vorhaben ist der Art der baulichen Nutzung nach als Regelbebauung zulässig unabhängig davon, ob es – wie vom Beklagten behauptet – in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet, § 4 BauNVO, oder – wie von Klägerseite behauptet – in einem faktischen Dorfgebiet, § 5 BauNVO, liegt.
Ein Verstoß gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme, das sich vorliegend entweder aus § 34 Abs. 1 BauGB oder aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO herleiten lässt, ist nicht ersichtlich.
Das Gebot der Rücksichtnahme soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten und vermittelt insofern Drittschutz, als die Genehmigungsbehörde in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Belange eines erkennbar abgrenzbaren Kreises Dritter zu achten hat. Die Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und was dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Begünstigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständiger und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist verletzt, wenn durch das geplante Vorhaben die Nutzung des Nachbargrundstücks unzumutbar beeinträchtigt wird.
Eine derartige unzumutbare Beeinträchtigung ergibt sich vorliegend weder aus einem Abstandsflächenverstoß (1.) noch aus einer Rücksichtslosigkeit des Vorhabens im Übrigen (2.).
1. Das Vorhaben verstößt nicht gegen Art. 6 BayBO.
Vorab wird darauf hingewiesen, dass den Vorgaben des landesrechtlichen Abstandsflächenrechts diesbezüglich ohnehin nur insofern Bedeutung zukommt, als dass ein Vorhaben, das Art. 6 BayBO gerecht wird, im Regelfall bezüglich der Aspekte Belichtung, Belüftung und Besonnung nicht rücksichtslos ist (BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5/93 – juris). Den vom Kläger gezogenen Gegenschluss, dass ein Vorhaben, das die Abstandsflächen verletzt, auch rücksichtslos sei, lehnt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung hingegen ab (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 8.8.2016 – 9 ZB 14.2808 – juris).
Im Übrigen wahrt das Vorhaben die Abstandsflächen. Die auf der Süd- und Westseite des näher am klägerischen Grundstück geplanten Hauses A angeordneten Balkone treten nur 1,50 m vor die Außenwand und bleiben damit nach Art. 6 Abs. 8 BayBO bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht. Frühere Planungen, auf die der Kläger abzustellen scheint, wenn er ein Hervortreten von 2 m behauptet, wurden nicht Gegenstand der angefochtenen Baugenehmigung. Das Vorhaben kann damit das sog. 16-m-Privileg des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO für sich in Anspruch nehmen, weswegen zur südöstlichen Grundstücksgrenze nur H/2 einzuhalten ist. An der schmalsten Stelle zwischen klägerischem Grundstück und Haus A des Vorhabens beträgt der Abstand nach den der Genehmigung zugrunde liegenden Plänen 3,27 m.
2. Das Vorhaben verstößt auch im Übrigen nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
Ein Ausnahmefall in Bezug auf die Aspekte Belichtung, Belüftung und Beson-nung ist nicht erkennbar. Die geplanten Gebäude entwickeln keine erdrückende, einmauernde oder abriegelnde Wirkung für das Grundstück des Klägers. Eine solche Wirkung wurde ausnahmsweise beispielsweise bejaht für drei 11,50 m hohe Silos, die auf das Nachbargrundstück „wie eine riesenhafte metallische Mauer wirken“ (BVwerG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – juris), oder auch für den Neubau eines zwölfgeschossigen Hochhauses neben einem zweigeschossigen Wohnhaus in einem von zwei- und dreigeschossiger Wohnbebauung geprägten Gebiet (BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris). Vorliegend ist ein derartiges „Missverhältnis“ oder auch ein derartiges „Bedrängen“ des klägerischen Grundstücks nicht zu erkennen. Das klägerische Gebäude hat laut eigener Aussage eine Firsthöhe von 7,80 m und verfügt über E + D. Die auf dem Baugrundstück geplanten Gebäude mit E + 1 + D weisen eine Wandhöhe von 6,25 m und eine Firsthöhe von 9,79 m auf. Haus A liegt jedenfalls mehr als 6 m vom klägerischen Gebäude entfernt, Haus B jedenfalls mehr als 12 m.
Die Möglichkeit der Einsichtnahme in sein Grundstück muss der Kläger hinnehmen. Das Gebot der Rücksichtnahme bietet in der bebauten Ortslage in der Regel keinen Schutz vor Einsichtmöglichkeiten (z.B. BayVGH, B.v. 5.9.2012 – 15 CS 12.23 – juris). Ein Nachbar hat keinen Anspruch darauf, dass sein Grundstück von unerwünschten Einblicken freigehalten wird. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Ausnahmefalles sind vorliegend nicht ersichtlich.
Auch der mit dem Vorhaben einhergehende Zu-, Abfahrts- und Wendeverkehr wird keine unzumutbaren Umgebungsbelastungen erzeugen. Bei dem streitgegenständlichen Vorhaben handelt es sich um Wohnbebauung. Wegen der generellen Zulässigkeit von Stellplätzen und Garagen selbst in reinen Wohngebieten, § 12 Abs. 2 BauNVO, müssen die Nachbarn die von der im Zusammenhang mit einer zulässigen Wohnbebauung stehenden Nutzung von Stellplätzen und Garagen ausgehenden Emissionen im Regelfall hinnehmen (BayVGH, B.v. 10.1.2005 – 2 CS 04.3304 – juris).
Vorliegend sind auch keine besonderen Umstände erkennbar, die eine Ausnahme von dieser Regel begründen könnten. Die Anzahl der Fahrzeugbewegungen wird sich wegen der ausschließlichen Wohnnutzung sowohl tagsüber als auch nachts in überschaubaren Grenzen halten. Im Umfeld des Baugrundstücks existiert weiter kein Ruhebereich im Sinne einer „Innenhofsituation“ bzw. eines rückwärtigen Gartenbereichs, der bisher von Kfz-Verkehr verschont geblieben wäre (BayVGH, U.v. 16.7.2015 – 1 B 15.194 – juris). Die vom Kläger in diesem Zusammenhang in der mündlichen Verhandlung monierte Zufahrt an seiner Westseite stellt keine durch das Bauvorhaben bewirkte Neuerung dar und tangiert auch keinen Ruhebereich. Zwar wird die Zufahrt etwas näher an die klägerische Grundstücksgrenze verlegt, aber auch das Bestandsgebäude auf dem Baugrundstück wurde vom …weg kommend am klägerischen Gebäude vorbei angefahren, da es im hinteren Grundstücksbereich liegt. Die direkt benachbarte FlNr. 146, Gemarkung …, weist eine Bebauung in zweiter Reihe auf, die ebenfalls durch eine lange Zufahrt erschlossen wird. Auch auf FlNr. 152, Gemarkung …, liegt die Garage nicht unmittelbar am …weg, sondern im rückwärtigen Teil des Grundstücks. Die Erschließung über direkte Zufahrten ist im Umgriff daher kein Novum. Das klägerische Wohngebäude selbst ist zudem unmittelbar in der nordöstlichen Ecke seines Grundstücks situiert, die der Anbindung durch den …weg am nächsten liegt. In diesem neben der Zufahrt liegenden Bereich existierte deshalb noch nie ein unbelasteter Gartenbereich. Dass Kfz vorliegend schon bisher nahe am Grundstück des Klägers vorbeifuhren und auch zukünftig vorbeifahren werden, ist damit in erster Linie bedingt durch die grenznahe Bebauung des Klägers, die nach den Bauzeichnungen – die auch sein Gebäude darstellen – an mehreren Stellen die 3 m-Grenze des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO erheblich unterschreitet. Nicht zuletzt deshalb hat der Kläger das Angebot von Maßnahmen des passiven Schallschutzes an der Westseite seines Grundstücks abgelehnt. Die geplante Zufahrt ist zudem nur ca. 15 m lang, bevor sie in den Stellplatzbereich mündet. Es ist deshalb nicht damit zu rechnen, dass die an- und abfahrenden Pkw, wie vom Kläger befürchtet, mit hohen Geschwindigkeiten unterwegs sein werden.
Schließlich hat ein Nachbar unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt – auch nicht im Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme – einen Anspruch darauf, dass sich die Bebauung auf seinem Nachbargrundstück nicht ändert. Maßnahmen der (Nach-) Verdichtung, auch in ländlich geprägten Bereichen, sind hinzunehmen, solange sie baurechtlich zulässig sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO. Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt und sich damit nicht in ein Kostenrisiko begeben. Es entspricht damit nicht der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Kosten dem Kläger aufzuerlegen. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708ff. ZPO.

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