Aktenzeichen M 9 K 17.5750
Leitsatz
1 Im Rahmen der Erteilung von Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB richtet sich die Prüfung der Erfolgsaussichten einer Nachbarklage danach, ob von nachbarschützenden oder von nicht nachbarschützenden Vorschriften befreit wird. (Rn. 20) (red. LS Alexander Tauchert)
2 Steht eine Festsetzung im Bebauungsplan nach einer Zusammenschau der Bebauungsplanregelungen und nach den Inhalten der Bebauungsplanbegründung ausschließlich im Dienst eines städtebaulich gewünschten Konzepts der Gemeinde (hier: Erhaltung des Gartenstadtcharakters des entsprechenden Gebiets), hat sie nicht das Ziel, einen nachbarlichen Interessenausgleich herzustellen. (Rn. 25) (red. LS Alexander Tauchert)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die angegriffene Befreiung verletzt die Klägerin nicht in subjektiv-öffentlichen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Anfechtungsklage eines Dritten gegen eine Befreiung kann nur dann Erfolg haben, wenn diese Vorschriften verletzt, die dem Schutz des Dritten zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im vorliegenden gerichtlichen Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung beschränkt sich vielmehr darauf, ob durch die angefochtene Befreiung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln und die im Baugenehmigungsverfahren prüfungsgegenständlich sind, verletzt sind (vgl. VG München, B.v. 26.10.2017 – M 9 S 17.3585 – juris für die Anfechtung einer Baugenehmigung).
Vorab ist klarzustellen, dass eine etwaige Unzuständigkeit der Beklagten keine derartigen drittschützenden Positionen betrifft. Unabhängig davon ist die Beklagte für die Erteilung der Befreiung nach Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO, Art. 57 Abs. 1 Nr. 7 lit. a BayBO zuständig: Es kommt nur auf die beantragten Inhalte an – Höhe von 1,80 m und damit unter 2 m –, die dann auch Grundlage der Prüfung und der Entscheidung sind; dementsprechend geht es im Rahmen einer Drittanfechtung auch „nur“ um eine etwaige Rechtswidrigkeit des angegriffenen Bescheids (vorliegend: Befreiung) und nicht um die Rechtswidrigkeit „des ausgeführten Bauvorhabens“.
Eine Verletzung in drittschützenden Vorschriften ist weiter auch weder unter den Aspekten des Gebietserhaltungs- oder des Gebietsprägungserhaltungsanspruchs bzw. einer etwaigen Gebietsunverträglichkeit gegeben (1.) noch im Hinblick auf einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme (2.).
1. Wenn der Klägerbevollmächtigte ausführt, dass sich der Nachbarschutz vorliegend deshalb nicht isoliert nach dem Gebot der Rücksichtnahme richte, weil die Befreiung dafür sorge, dass sich der Gebietscharakter ändere bzw. weil Quantität in Qualität umschlage, so ist dieser Vortrag nicht nachvollziehbar. Im Rahmen der Erteilung von Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB richtet sich die Prüfung der Erfolgsaussichten einer Nachbarklage danach, ob von nachbarschützenden oder von nicht nachbarschützenden Vorschriften befreit wird. Die vorgebrachten Schlagworte – mit denen wohl eine Verletzung des Gebietserhaltungs- oder des Gebietsprägungserhaltungsanspruchs bzw. eine etwaige Gebietsunverträglichkeit geltend gemacht werden sollen – vermögen nicht, darzulegen, wieso vorliegend von einer nachbarschützenden Vorschrift befreit worden sein soll. Nur dann würde bspw. die städtebauliche Vertretbarkeit der Befreiungsentscheidung als Tatbestandsmerkmal eine Rolle spielen.
Ziff. B 7 des Bebauungsplans Nr. 69 als alleiniger Gegenstand der Befreiung – die gemeindliche Einfriedungssatzung spielt keine Rolle, vgl. § 1 Einfriedungssatzung: „Diese Satzungen gilt für Einfriedungen […], außer im Bebauungsplan sind eigene Festsetzungen über Einfriedungen enthalten“ – lautet:
Einfriedungen. Art und Material: Einfriedungen zu öffentlichen Verkehrsflächen sind als Holzlattenzäune auszuführen; zwischen den einzelnen Grundstücken nur als hinterpflanzte Maschendrahtzäune. Die Höhe der Einfriedungen wird mit 1,2 m festgesetzt. Dies gilt nicht für Hecken.
Diese Regelung ist weder eine Festsetzung zur Art der baulichen Nutzung – regelmäßig drittschützend und relevant für einen etwaigen Gebietserhaltungsanspruch – noch ist eine Mauer in einer Höhe von 1,80 m generell gebietsunverträglich. Das festgesetzte Allgemeine Wohngebiet (WA) dient auch gegenwärtig, d.h. nach Ausführung des Vorhabens, noch vorwiegend dem Wohnen, weswegen § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 4 Abs. 1 BauNVO als etwaig betroffene drittschützende Vorschrift nicht verletzt ist/sind. Schließlich schlägt auch nicht „Quantität in Qualität um“: Mit dieser Floskel soll vermutlich auf eine Verletzung von § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO – Tatbestandsmerkmal „Umfang“ – und damit auf eine Verletzung des sog. Gebietsprägungserhaltungsanspruchs angespielt werden (dazu BVerwG, B.v. 13.5.2002 – 4 B 86/01 – juris; VG München, B.v. 26.10.2017 – M 9 S 17.3585 – juris). Dafür wäre erforderlich, dass die Größe/Höhe der baulichen Anlage die Zulässigkeit der Art der baulichen Nutzung – vgl. den Standort von § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO im 1. Abschnitt der BauNVO – erfasst und beeinflusst, dass also aufgrund der Dimensionierung der Anlage eine neue Art der baulichen Nutzung in das Gebiet hineingetragen wird. Ein Wohnhaus mit einer 1,80 m-Mauer bleibt aber genauso ein Wohnhaus wie ein Wohnhaus mit einer Einfriedung in Höhe von nur 1,20 m.
Die Nennung von Schlagworten ist nach alledem nicht zielführend. Ziff. B 7 des Bebauungsplans Nr. 69 ist vielmehr schlicht als örtliche Bauvorschrift einzuordnen, die auch in einen Bebauungsplan aufgenommen werden kann, Art. 81 Abs. 2 Satz 1 BayBO i. V. m. § 9 Abs. 4 BauGB. Örtliche Bauvorschriften sind grundsätzlich nicht drittschützend (statt aller BayVGH, B.v. 22.2.2017 – 15 CS 16.1883 – juris; B.v. 29.8.2006 – 15 CS 06.1943 – juris; Simon/Busse, BayBO, Stand: 128. EL Dezember 2017, Art. 81 Rn. 314). Ihnen kommt nur dann drittschützende Wirkung zu, wenn die Gemeinde einer solchen Festsetzung eine entsprechende Wirkung geben wollte. Im Rahmen der Ermittlung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall ist maßgeblich, ob die Regelung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus bauordnungsrechtlichen Gründen getroffen wurde oder ob sie (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich zu dienen bestimmt ist (Simon/Busse, a.a.O., Art. 81 Rn. 317).
Vorliegend steht die Festsetzung nach einer Zusammenschau der Bebauungsplanregelungen und nach den Inhalten der Bebauungsplanbegründung ausschließlich im Dienst des städtebaulich gewünschten Konzepts der Beklagten, den Gartenstadtcharakter des Gebiets zu erhalten. Sie hat nicht das Ziel, einen nachbarlichen Interessenausgleich herzustellen. Günstige Auswirkungen der Festsetzung auf die Nachbargrundstücke – die durchaus vorhanden sein können – reichen zur Annahme eines Nachbarschutzes nicht aus (vgl. zum Ganzen auch BayVGH, B.v. 25.9.2013 – 14 ZB 12.2033 – juris; VG Augsburg, U.v. 9.2.2017 – Au 5 K 16.1042 – juris; VG Bayreuth, U.v. 3.6.2015 – B 2 K 14.564 – juris).
Nach alledem ist Ziff. B 7 des Bebauungsplans als nicht drittschützende Vorschrift anzusehen. Der Nachbarschutz im Rahmen der Anfechtung einer Befreiung von dieser Vorschrift richtet sich somit ausschließlich nach dem Gebot der Rücksichtnahme.
2. Die Befreiung verletzt nicht das Gebot der Rücksichtnahme, vorliegend herzuleiten aus § 31 Abs. 2 BauGB, § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO, insbesondere nicht unter dem Aspekt eines Abstandsflächenverstoßes.
Das Gebot der Rücksichtnahme soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten und vermittelt insofern Drittschutz, als die Genehmigungsbehörde in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Belange eines erkennbar abgrenzbaren Kreises Dritter zu achten hat. Die Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und was dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Begünstigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständiger und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist verletzt, wenn durch das geplante Vorhaben die Nutzung des Nachbargrundstücks unzumutbar beeinträchtigt wird.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass den Vorgaben des landesrechtlichen Abstandsflächenrechts diesbezüglich ohnehin nur insofern Bedeutung zukommt, als dass ein Vorhaben, das Art. 6 BayBO gerecht wird, im Regelfall bezüglich der Aspekte Belichtung, Belüftung und Besonnung nicht rücksichtslos ist (BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5/93 – juris) – sog. prima-facie-Wirkung. Einen der Klägerin günstigen Gegenschluss, wonach ein Vorhaben, das die Abstandsflächen verletzt, auch rücksichtslos wäre, gibt es dagegen nicht (statt aller VG München, B.v. 26.10.2017 – M 9 S 17.3585 – juris m.w.N.).
Das in der Befreiungsentscheidung festgelegte Vorhaben wahrt die Abstandsflächen. Eine Mauerhöhe von 1,80 m ist abstandsflächenrechtlich privilegiert (Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 BayBO); die Einschränkung des Art. 6 Abs. 9 Satz 2 BayBO gilt für Einfriedungen nicht. Die oben dargelegte Indizwirkung ist somit gegeben. Ein abweichender Sonderfall ist nicht auszumachen; v.a. kommt auch eine sog. abriegelnde Wirkung bei einer Höhe von 1,80 m nicht in Betracht.
Sonstige Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme sind nicht erkennbar.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, Abs. 3 VwGO, § 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen – die Anwohnergemeinschaft stellt eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts dar, §§ 705ff. BGB – den Klägern aufzuerlegen hätte nicht der Billigkeit entsprochen, da sich die Beigeladene nicht mittels Antragstellung in ein Kostenrisiko begeben hat. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708f. ZPO.