Aktenzeichen M 29 K 18.233
BBauG § 173 Abs. 3
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, § 124, § 124 a Abs. 4
RDGEG § 3, § 5
Leitsatz
Tenor
I. Die Baugenehmigung der Beklagten vom 12.12.2017 (Az …) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte und die Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte und die Beigeladene dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage ist begründet und hat daher Erfolg. Die streitgegenständliche Baugenehmigung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren nachbarschützenden Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Dabei ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn diese rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von drittschützenden Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (vgl. BayVGH, B.v. 28.1.2019 – 15 ZB 17.1831 – juris Rn. 17). Ist Letzteres nicht der Fall, so ist der Nachbar darauf zu verweisen, Rechtsschutz gegen das Vorhaben über einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen dessen Ausführung zu suchen (vgl. BayVGH, B.v. 18.7.2016 – 15 ZB 15.12 – juris Rn. 22 m.w.N.).
2. Das mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung zugelassene Vorhaben verstößt in bauplanungsrechtlicher Hinsicht gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme.
2.1. Zwar verstößt das Vorhaben in bauplanungsrechtlicher Hinsicht nicht gegen drittschützende Rechte betreffend die Art und das Maß der baulichen Nutzung sowie die Bauweise und die überbaubare Grundstücksfläche.
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich im Hinblick auf das vorhandene, gemäß § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleitete und fortgeltende Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 BauGB, welches für das Geviert einen Bauraum, bestehend aus Baugrenzen vorsieht, und im Übrigen, da keine weitergehenden bauplanungsrechtlichen Festsetzungen vorhanden sind, nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Danach ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist.
Eine Verletzung drittschützender Rechte hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Das Maß der baulichen Nutzung, die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, und die Bauweise sind grundsätzlich nicht drittschützend. Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baulinien oder Baugrenzen vermitteln Drittschutz nur dann, wenn sie nach dem Willen der Gemeinde als Plangeberin diese Funktion haben sollen. Dies ist bei vorderen, zur Straße gerichteten Baugrenzen in der Regel nicht der Fall (vgl. BayVGH, B.v. 22.2.2017 – 15 CS 16.1883 – juris Rn. 13 m.w.N.). Vorliegend ist die im Baulinienplan festgesetzte Baugrenze durch das Mehr an Tiefe der nördlichen Wand des streitgegenständlichen Vorhabens gegenüber dem klägerischen Gebäude um 2,41 m gerade nicht überschritten, sondern lediglich durch zwei Lichtschächte. Die insoweit erteilte Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB ist jedoch nicht drittschützend, da die festgesetzte vordere Baugrenze keinen Drittschutz vermittelt. Zudem wäre auch für den Fall der Funktionslosigkeit des Baulinienplans, wovon das Gericht nicht ausgeht, die Verletzung einer ggf. faktisch bestehenden Baugrenze nicht drittschützend, da es bei einer faktischen Baugrenze per se an einem Willen des Plangebers fehlt und somit dieser keine nachbarschützende Wirkung zukommen kann.
2.2 Vorliegend liegt aber eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme vor.
Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt im Wesentlichen von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalls kommt es auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach der Gesamtsituation zuzumuten ist, an (vgl. BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5/93 – NVwZ 1994, 354 – juris Rn. 17). Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn aber nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht. Zur Beurteilung einer „abriegelnden“ oder „erdrückenden“ Wirkung kommt es entscheidend auf eine Gesamtschau des konkreten Einzelfalls an. Die Einhaltung der landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften indiziert zwar regelmäßig, dass eine „erdrückende Wirkung“ nicht eintritt. Daraus kann aber nicht der Gegenschluss gezogen werden, dass eine Verletzung der Abstandsflächenvorschriften auch eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots indizieren würde (BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17 m.w.N.). Eine erdrückende Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (BayVGH, B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 12 m.w.N.; B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris Rn. 31).
Das Vorhaben ist im Hinblick auf die vom Bundesverwaltungsgericht in der sog. „Doppelhaus-Entscheidung“ (U.v. 24.2.2000 – 4 C 12/98 – juris) entwickelten Grundsätze als rücksichtslos zu bewerten. In dieser hat das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf planungsrechtlich festgesetzte Doppelhäuser in offener Bauweise ausgeführt, dass aus dem wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze eine „enge Wechselbeziehung“ resultiert, die jeden Grundstückseigentümer zugleich begünstigt und belastet. Die Häuser müssen daher in „wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinander gebaut“ werden; der Rahmen der wechselseitigen Grenzbebauung darf nicht durch einen massiv einseitigen Grenzanbau überschritten werden. Diese Grundsätze sind auf Reihenhäuser im unbeplanten Innenbereich – auch bei geschlossener Bauweise -entsprechend übertragbar (BayVGH, B.v. 2.7.2010 – 9 CS 10.894 – juris Rn. 4; VG München, B.v. 11.9.2007 – M 8 SN 07.3256 – juris Rn. 32). Eine Verletzung des nachbarrechtlichen Austauschverhältnisses kann insbesondere bei einem Anbau an ein Reihenendhaus unter Durchbrechung der profilgleichen Reihenhausbauweise auch bei Einhaltung der Abstandsflächen vorliegen (vgl. BayVGH, B.v. 2.7.2010 – 9 CS 10.894 – juris). Das nachbarliche Austauschverhältnis erfordert indes keine strikte Beibehaltung der ursprünglich vorhandenen Symmetrie. Horizontale und vertikale Versprünge sind im Rahmen des Verträglichen zulässig (VG München, B.v. 11.9.2007 – M 8 SN 07.3256 – juris Rn. 32).
Vorliegend entfaltet das genehmigte Vorhaben ungeachtet der Frage der Einhaltung der zum Genehmigungszeitpunkt nicht zum Prüfungsumfang gehörenden Abstandsflächen unter Zugrundelegung des soeben dargestellten Maßstabs nach den konkreten Umständen des Einzelfalls eine erdrückende und somit rücksichtslose Wirkung. In seiner äußeren Gestalt weicht das Vorhaben nach dem Eingabeplan und der Inaugenscheinnahme nach überbauter Grundstücksfläche gravierend von der Umgebungsbebauung ab, so dass das Einfügensgebot in rücksichtsloser Weise verletzt ist.
Die vorhandene Bebauung sieht eine geschlossene Bauweise vor, da die Reihenhäuser grenzständig gebaut sind und die Reihenhauszeile über 50 m lang ist (vgl. § 22 Abs. 3, Abs. 2 Satz 2 BauNVO). Die bestehenden Reihenhäuser entlang der L.straße sind nach Augenscheinseinnahme in einer Flucht gebaut; keines der bestehenden Häuser in der Reihenhauszeile durchbricht diese einheitliche Flucht. Das nachbarliche Austauschverhältnis ist daher durch die im Wesentlichen profilgleiche Reihenhausbauweise geprägt. Die Durchbrechung der profilgleichen Bebauung durch den Neubau ist somit vorbildlos. Es ist vorliegend auch die besondere Bebauungssituation zu berücksichtigen: Durch die geschlossene Bauweise und die grenzständige Bebauung im Norden, Süden und Westen ist eine Belichtung des klägerischen Gebäudes ausschließlich von Osten her gewährleistet. Durch das streitgegenständliche Vorhaben würde dabei bei einem Mehr an Tiefe Richtung Osten von 2,41 m und einer Höhe von 6,64 m (Gebäudehöhe samt Terrassengeländer im Dachgeschoss) bzw. 8,77 m (maximale Gebäudehöhe mit Dachgeschoss) die einzige Belichtungsmöglichkeit weiter massiv eingeschränkt. Dabei ist auch in die Abwägung einzustellen, dass die Bestandshäuser relativ kleine Grundflächen aufweisen (Tiefe klägerisches Gebäude: ca. 6 m, Tiefe unbebauter Teil des klägerischen Grundstücks: 6-7 m) und das genehmigte Vorhaben die vorhandene Tiefe deutlich über ein Drittel erhöhen würde. Bei der Inaugenscheinnahme hat sich gezeigt, dass bereits ohne Verwirklichung des streitgegenständlichen Vorhabens der westliche Zimmerteil im Erdgeschoss des klägerischen Gebäudes – trotz großflächiger Befensterung – deutlich dunkler ist, als der vor dem Fenster gelegene östliche Zimmerteil. Durch das Hinausragen der nördlichen Wand des streitgegenständlichen Vorhabens in einer Tiefe von 2,41 m würde sich die Belichtungssituation im westlichen Zimmerteil nochmals deutlich verschlechtern. Zudem ist davon auszugehen, dass sich die Besonnungssituation der ohnehin kleinen Terrasse, die sich im Osten an das klägerische Gebäude anschließt und zur vielbefahrenen … gelegen ist, durch den Vorsprung des klägerischen Vorhabens wesentlich verschlechtert.
Auch ist eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots unter dem Aspekt der Wahrung des Wohnfriedens anzunehmen. Aufgrund der geringen Tiefe der unbebauten Grundstücksfläche der Klägerin (6-7 m) und dem Hinausragen des genehmigten Vorhabens um 2,41 m erstreckt sich das zugelassene Vorhaben tief in den ohnehin nicht allzu großen Gartenbereich der Klägerin.
3. Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1, Abs. 3, § 159 Satz 1 VwGO stattzugeben und die streitgegenständliche Baugenehmigung war aufzuheben. Es entspricht der Billigkeit, der Beigeladenen die Hälfte der Verfahrenskosten aufzuerlegen, da die Beigeladene durch ihren Bevollmächtigten einen Antrag gestellt und sich somit einem Kostenrisiko gemäß § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.