Aktenzeichen M 1 K 16.3789
Leitsatz
Bodenrechtlich beachtliche bewältigungsbedürftige Spannungen werden durch eine Überschreitung der Baugrenze um 4 Meter verursacht. Ein derartiges Vorhaben fügt sich deshalb nicht in die Eigenart der näheren Umgebung hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche ein. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die als Untätigkeitsklage (§ 75 Satz 1 und 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Erteilung der begehrten Baugenehmigung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Es besteht kein Anspruch auf die Erteilung der mit dem Bauantrag vom … April 2016 begehrten Baugenehmigung, da das Vorhaben gemäß § 34 Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB) bauplanungsrechtlich unzulässig ist (Art. 68 i. V. m. Art. 59 Abs. 1 Nr. 1 Bayerische Bauordnung – BayBO). Das beantragte Vorhaben fügt sich bei Betrachtung der hier maßgeblichen näheren Umgebung (1.) hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche wegen einer faktischen Baugrenze (2.) nicht in die nähere Umgebung ein, da die Überschreitung der Baugrenze zu städtebaulichen Spannungen (3.) führt.
1. Der für das Einfügen nach der überbaubaren Grundstücksfläche gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB im vorliegenden Fall maßgebliche Bereich ist die Bebauungszeile nördlich der Straße „…“ – beginnend im Osten mit dem Baugrundstück, mindestens bis zu der Wegefläche FlNr. 737/66.
Welcher Bereich als „nähere Umgebung“ anzusehen ist, hängt davon ab, wie weit sich einerseits das geplante Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits sich diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirken (BayVGH, U. v. 7.3.2011 – 1 B 10.3042 – juris Rn. 22). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Die „nähere Umgebung“ ist für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann (BVerwG, B. v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – NVwZ 2014, 1246 – 124 – juris Rn. 79). Bei der überbaubaren Grundstücksfläche ist der maßgebliche Bereich in der Regel enger zu begrenzen als bei der Art der baulichen Nutzung, weil die Prägung, die von der für die Bestimmung der überbaubaren Grundstücksfläche maßgeblichen Stellung der Gebäude auf den Grundstücken ausgeht, im Allgemeinen deutlich weniger weit reicht, als die Wirkungen der Art der baulichen Nutzung. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass nur wenige – unter Umständen sogar nur zwei – Grundstücke den maßgeblichen Rahmen bilden (BayVGH, B. v. 19.12.2006 – 1 ZB 05.1371 – juris Rn. 20).
Bei Berücksichtigung dieser Vorgaben ist im vorliegenden Fall ein eng begrenzter Bereich als nähere Umgebung anzusehen. Für eine hier in Betracht zu ziehende, die überbaubare Grundstücksfläche beschränkende, faktische Baugrenze entlang einer Straße ist zunächst nur die Bebauung auf der jeweiligen Straßenseite maßgeblich. Hier also die Bebauungszeile südlich der Straße „…“. Nur die im Anschluss an das Baugrundstück nach Westen und Osten befindlichen Gebäude können eine Grenze bilden, die einen Mindestabstand der Gebäude zur Straße vorgeben.
Aufgrund der besonderen topographischen Verhältnisse beschränkt sich der für die Beurteilung der überbaubaren Grundstücksfläche maßgebliche Bereich entlang der Straße zudem nur auf das Baugrundstück selbst sowie die Gebäude westlich des Baugrundstücks auf den FlNr. 737/63, 737/62 und 737/65 (… 28, 30, 32). Das Gelände südlich der Straße „…“ ist durch einen steilen, von Norden nach Süden ansteigenden Hang gekennzeichnet. Die Hauptbaukörper im Westen des Baugrundstücks befinden sich alle in einem ähnlichen Abstand zur Straße, da die Lage der Gebäude topographisch durch einen Geländeabsatz vorgegeben ist, der den ansonsten gleichmäßig steil ansteigenden Hang unterbricht und dadurch topographisch gliedert. Die genannten Gebäude befinden sich deshalb sämtlich auf der gleichen Höhenlage. Demgegenüber liegt das Gebäude östlich des Baugrundstücks auf FlNr. 737/101 (… 34) erheblich tiefer. Der Hang nach dem Wegegrundstück FlNr. 737/102 fällt deutlich Richtung Osten ab und bildet eine topographische Zäsur, die den maßgeblichen Bereich nach Osten abgrenzt. Im Westen endet der maßgebliche Bereich mit dem Wegegrundstück FlNr. 737/66. An dieser Stelle macht die Straße „…“ nach dem Grundstück FlNr. 737/63 (… 28) eine starke Kurve, so dass keine optische Verbindung zwischen der sich Richtung Südwesten fortsetzenden Häuserzeile und der östlich davon befindlichen Häuserzeile mehr erkennbar ist. Das Gebäude FlNr. 737/67 (… 24) hat zudem ein anderes Niveau des Erdgeschossfußbodens als die Bebauung östlich davon.
2. Die Hauptbaukörper „…“ 28, 30 und 32 schaffen eine städtebauliche Situation, die einen Bereich kennzeichnet, der unbebaut bleiben soll. Sie bilden mit ihren nördlichen Gebäudeaußenwänden eine faktische Baugrenze für Hauptgebäude.
Es handelt sich bei der Stellung der Gebäude – angesichts der besonderen Topographie – um eine städtebaulich verfestigte Situation und kein bloßes Zufallsprodukt ohne eigenen städtebaulichen Aussagewert (BayVGH, B. v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 12). Sowohl auf dem Baugrundstück als auch bei den genannten, westlich anschließenden Grundstücken besteht die Besonderheit, dass der Bereich unmittelbar anschließend an die Straße „…“ zunächst bis zu einem Abstand von ca. 12 m von der Straßengrenze steil ansteigt. Danach folgt eine flachere Hangzone, auf der die Gebäude errichtet wurden. Erst nach den Gebäuden nimmt der Hang seine ursprüngliche Hangneigung wieder auf. Dies führt zu einer einheitlichen Grünzone südlich der Straße „…“, die im Bereich des steileren Hangabschnittes zu finden ist. Nur in dem gering geneigten Bereich, der für eine bauliche Nutzung geeignet ist, wurden Hauptgebäude errichtet. Dies führt zu einem sowohl topographisch als auch baulich ablesbaren, deutlichen Ordnungsprinzip. Die Grünzone entlang der Straße mit einer Mindestbreite von ca. 12 m tritt durch die Geländesituation deutlich hervor. Städtebaulich wird die Situation unterstrichen und verstärkt, durch die bestehenden Gebäude, die die Topographie nachzeichnen. Der wegen der starken Neigung für eine Bebauung ungeeignete Bereich bleibt frei. Dieses Ordnungsprinzip fällt dem unbefangenen Betrachter ins Auge. Mithin handelt es sich bei der durch die Hauptgebäude „… 28, 30 und 32“ vorgegebene Gebäudestellung im Verhältnis zur Straße um eine faktische Baugrenze, die nicht überschritten werden soll.
Dem steht nicht entgegen, dass auf dem Grundstück FlNr. 737/65 ein Nebengebäude geringfügig näher an die Straße heranrückt. Die Kammer geht von einer faktischen vorderen Baugrenze aus, die eine entsprechende Anwendung von § 23 Abs. 3 Baunutzungsverordnung (BauNVO) rechtfertigt. Das Bestehen einer solchen Baugrenze schließt weder das geringfügige Vortreten von Gebäudeteilen (§ 23 Abs. 3 Satz 2 BauNVO) noch die Zulassung von Nebenanlagen (§ 23 Abs. 5 Satz 1 BauNVO) aus. Nach dem Eindruck der Kammer beim gerichtlichen Augenschein war darüber hinaus festzustellen, dass das Nebengebäude auf FlNr. 737/65 ebenso wie der dort am Hauptgebäude bestehende Erker Richtung Straße „…“ nicht merklich über die vorstehend beschriebene faktische Baugrenze hinausgreift, da insbesondere der mit der faktischen Baugrenze beginnende steile Hangbereich als Grünzone nicht spürbar tangiert wird.
Auch die entsprechend dem Hangverlauf leicht gedrehte bzw. verschobene Stellung der Baukörper auf FlNr. 737/62 und 737/63 widerspricht der Annahme einer faktischen Baugrenze nicht. Bei einer Baugrenze handelt es sich um eine Linie, die von Gebäuden und Gebäudeteilen nicht überschritten werden darf. Für das Vorliegen einer faktischen Baugrenze kommt es deshalb nicht darauf an, dass sämtliche Gebäudeaußenwände des maßgeblichen Bereichs auf einer Linie liegen. Vielmehr kennzeichnet die Baugrenze den Bereich der von einer Bebauung freizuhalten ist. Ein solcher ist nach dem vorstehend Ausgeführten bis zu einer Mindesttiefe von etwa 12 m im Bereich des steileren Hanges deutlich ablesbar, auch wenn sich die Gebäude zum Teil geringfügig in einem größeren Abstand zur Straße befinden.
3. Das geplante Vorhaben überschreitet mit dem Unter- und dem Erdgeschoss die vorstehend beschriebene faktische Baugrenze nach Norden. Es fügt sich deshalb hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht ein, da die Zulassung des Vorhabens zu städtebaulichen Spannungen führen würde.
Die streitgegenständliche Planung hält die faktisch durch die Umgebungsbebauung vorgegebene Baugrenze nur mit dem Dachgeschoss ein (vgl. rot schraffierter Bereich im Lageplan des Eingabeplans vom … April 2016). Demgegenüber treten das Erd- und das Untergeschoss etwa 4 m über die vorstehend beschriebene Baugrenze hinaus. Diese Überschreitung lässt sich im Eingabeplan auch anhand des dort dargestellten natürlichen Geländes ablesen. In den Schnitten wird deutlich, dass nur der Baukörperbereich, der in seiner Fortsetzung nach oben das Dachgeschoss bildet, auf dem flacheren Hangbereich zu liegen kommt (vgl. Eingabeplan „Schnitt A-A“ und „Schnitt B-B“). Die Zulassung eines derartigen Vorhabens würde bodenrechtlich bewältigungsbedürftige Spannungen hervorrufen.
Bodenrechtlich beachtliche bewältigungsbedürftige Spannungen werden begründet und erhöht, wenn Bauvorhaben die vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtern, stören oder belasten und das Bedürfnis hervorrufen, die Voraussetzungen für ihre Zulassung unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung zu schaffen. Dabei ist insbesondere eine mögliche Vorbildwirkung des Vorhabens für andere Bauvorhaben auf Nachbargrundstücken in vergleichbarer Lage zu berücksichtigen (BVerwG, B. v. 25.3.1999 – 4 B 15.99 – ZfBR 2000, 68 – juris Rn. 5 m. w. N.). Derartige bewältigungsbedürftige städtebauliche Spannungen würden eine Überschreitung der Baugrenze im beantragten Umfang verursachen.
Dies ergibt sich zunächst aus der Vorbildwirkung des Vorhabens für die im Westen anschließenden Grundstücke. Für den Fall des Hinausschiebens der Grenze der Bebauung durch Hauptgebäude um 4 m Richtung Norden könnte ein derartiges Ansinnen den benachbarten Grundstückseigentümern nicht verwehrt werden. Eine Vorbildwirkung für andere Bauvorhaben wäre damit gegeben, zumal angesichts des Alters der bestehenden Gebäude mit Ersatzbauten zu rechnen ist.
Es würde im nicht nur zu einem Heranrücken der Bebauung an die Straße kommen, sondern darüber hinaus auch zu einer Veränderung der Baukörpergestalt entlang der Südseite der Straße „…“. Durch die Überschreitung der durch die Topographie vorgegebenen faktischen Baugrenze ergibt sich, dass künftige Bauvorhaben weitaus stärker in den steileren Hangabschnitt zwischen der Straße und der faktischen Baugrenze eingreifen würden. Angesichts der Steilheit des Hanges in diesem Bereich würde dies zu optisch massiver wirkenden Gebäuden entlang der Straße infolge talseits größerer Wandhöhen führen. Dies wird auch bei dem geplanten Vorhaben deutlich. In dem Bereich des Unter- und des Erdgeschosses ergibt sich zwar keine einheitlich größere Wandhöhe als bei den Nachbargebäuden, da die Geschosse gestuft angeordnet werden. Optisch erscheint der Baukörper für den Betrachter von der Straße „…“ trotz seiner Stufung erheblich massiver. Das Gebäude wirkt aufgrund des näheren Heranrückens deutlich massiver. Dieser Eindruck wird durch die Stützmauer der Stellplätze und den Zugang zum Kellergeschoss verstärkt. Mit der Zulassung der streitgegenständlichen Bebauung würde die der Topographie angepasste bauliche Nutzung in dem Bereich südlich der Straße „…“ aufgegeben und der bisher durch die Topographie vorgegebenen städtebaulichen Situation nicht mehr Rechnung getragen werden können.
Auf die übrigen im Verfahren von den Parteien kontrovers diskutierten weiteren Einfügenskriterien kommt es nicht mehr entscheidungserheblich an. Schon durch die Überschreitung der faktischen Baugrenze ist ein Einfügen i. S. v. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nicht mehr gegeben und der geltend gemachten Anspruch zu verneinen.
4. Die Klägerin hat als unterlegene Partei gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gemäß § 162 Abs. 3 VwGO trägt der Beigeladene seine außergerichtlichen Kosten selbst, da er sich nicht durch eine Antragstellung in ein Kostenrisiko gemäß § 154 Abs. 3 VwGO begeben hat.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 20.000,– festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG- i. V. m. Nr. 9.1.1.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,– übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.