Aktenzeichen 6 B 17.141
Leitsatz
Der Verzicht auf ursprünglich geplante, aber später nicht verwirklichte Stichstraßen stellt ein Aliud dar, wenn sie nach dem damaligen planerischen Willen, wie er in der Festsetzung als Teil der Erschließungsanlage zum Ausdruck gekommen ist, der verkehrsmäßigen Erschließung des im Bebauungsplan vorgesehenen reinen Wohngebiets dienen sollte mit der Folge, dass dadurch die Grundzüge der Planung berührt sind und die Herstellung der Straße nicht im Einklang mit den Festsetzungen des Bebauungsplans erfolgt ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 2 K 15.2003 2016-04-05 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 5. April 2016 – M 2 K 15.2003 – geändert. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Erschließungsbeitragsbescheid vom 16. November 2012 und der Widerspruchsbescheid der Regierung von Oberbayern vom 10. April 2015 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Klage ist deshalb unter Änderung des erstinstanzlichen Urteils abzuweisen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für die Heranziehung des Klägers zu einem Erschließungsbeitrag für die erstmalige endgültige Herstellung der F.-straße (im Abschnitt zwischen F. Straße/ S. Straße und J. Straße) ist Art. 5a KAG in Verbindung mit §§ 127 ff. BauGB. Die danach entstandene – und vom Kläger insoweit auch weder dem Grunde nach noch in der Höhe bezweifelte – Beitragsforderung war bei Bescheidserlass nicht bereits durch Festsetzungsverjährung erloschen.
1. Die Festsetzungsfrist beginnt nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb und cc KAG in Verbindung mit § 169, § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die sachliche Beitragspflicht für das jeweilige Grundstück entstanden ist und beträgt vier Jahre. Das Entstehen der sachlichen Beitragspflichten setzt (u.a.) voraus, dass die Erschließungsanlage im Sinn des § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB erstmals endgültig hergestellt und als öffentliche Straße gewidmet wurde und dass diese Herstellung nach Maßgabe des § 125 BauGB rechtmäßig ist (vgl. BVerwG, B.v. 6.5.2008 – 9 B 18.08 – juris Rn. 5; U.v. 30.5.1997 – 8 C 27.96 – juris Rn. 7; BayVGH, U.v. 23.4.2015 – 6 BV 14.1621 – juris Rn. 24; U.v. 14.11.2013 – 6 B 12.704 – juris Rn. 17). Zwar ist die schon länger gewidmete F.-straße bereits im Jahr 2006 endgültig hergestellt worden. Die bauplanungsrechtliche Rechtmäßigkeit trat aber erst mit dem Inkrafttreten des Bebauungsplans Nr. 1932 am 20. März 2009 ein, sodass die vierjährige Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 2009 begann und bei Erlass des Beitragsbescheids vom 16. November 2012 noch nicht abgelaufen war.
a) Die Rechtmäßigkeit der Herstellung einer Erschließungsanlage setzt grundsätzlich voraus, dass sie im Einklang mit den Festsetzungen des sie betreffenden Bebauungsplans erfolgt ist (§ 125 Abs. 1 BauGB). Die Anlage kann dabei Gegenstand mehrerer Bebauungspläne sein, da einzig das Erschließungsbeitragsrecht, nicht hingegen das Planungsrecht über den Begriff der beitragsfähigen Erschließungsanlage befindet, sodass diese sich – wie hier – durchaus über die Grenzen mehrerer Pläne hinweg erstrecken kann. § 125 Abs. 1 BauGB verlangt als planungsrechtliche Grundlage nur (irgend-)einen, nicht einen einzigen Bebauungsplan (vgl. BayVGH, B.v. 14.1.2008 – 6 CS 04.3182 – juris Rn. 5). Insoweit ergänzen sich Pläne, die jeweils nur einen Ausschnitt des Plangebietes umfassen, wobei die Änderung eines Bebauungsplans auch Auswirkungen auf die anderen haben kann.
Demnach bildete der aus dem Jahr 1966 stammende Bebauungsplan Nr. 43a ursprünglich nur die planungsrechtliche Grundlage für den Hauptzug der F.-straße. Denn im Zuge einer Überplanung der östlich angrenzenden Grundstücke FlNr. 814 alt und 815/1 wurden mit Bebauungsplan Nr. 43e im Jahr 1979 – also vor der endgültigen Herstellung der Anlage – zur Anbindung der dort vorgesehenen Bebauung an den Hauptzug zusätzlich drei Stichstraßen als öffentliche Verkehrsflächen festgesetzt. Zumindest zwei von ihnen, nämlich die nördliche und die südliche, waren aufgrund ihrer geringen Länge von unter 100 m und ihres geraden Verlaufs unzweifelhaft als unselbstständige Stichstraßen und damit als Bestandteile der F.-straße anzusehen (vgl. BayVGH, U.v. 30.11.2016 – 6 B 15.1835 – juris Rn. 17 m.w.N.).
Diese Stichstraßen wurden jedoch bei Fertigstellung des Hauptzugs der F.-straße 2006 nicht mithergestellt, weil die Beklagte inzwischen andere Planungsabsichten verfolgte. Da sie jedoch nicht auch gleichzeitig den Bebauungsplan Nr. 43e geändert hatte, blieb die Herstellung der Erschließungsanlage räumlich hinter den nach wie vor maßgeblichen Festsetzungen dieses Bebauungsplans zurück. Das erschließungsrechtliche Planerfordernis verlangt zwar keine zentimetergenaue Einhaltung der planerischen Festsetzungen. Es will nicht auf eine „Bindung“ hinaus, sondern auf eine (qualifizierte) Zustimmung zur Anlegung der Straße. Mit ihm wird lediglich eine „Grobabstimmung“ angestrebt. Der Gesetzgeber hat mit dem erschließungsrechtlichen Planerfordernis sicherstellen wollen, dass insbesondere die Anbaustraßen in Übereinstimmung mit der übrigen städtebaulichen Struktur der Gemeinde angelegt werden. Der Bebauungsplan entfaltet daher die ihm von § 125 Abs. 1 BauGB zugedachte Wirkung ungeachtet der von ihm als Rechtssatz ausgelösten planungsrechtlichen Bindung auch bei geringfügigen Planabweichungen (BayVGH, U.v. 23.4.2015 – 6 BV 14.1621 – juris Rn. 37 m.w.N.).
b) Ob eine Abweichung noch als geringfügig und damit erschließungsbeitragsrechtlich unschädlich zu werten ist, bestimmt sich nach § 125 Abs. 3 BauGB. Nach Nr. 1 dieser Vorschrift ist eine Planunterschreitung – wie sie hier vorliegt – dann planungsrechtlich rechtmäßig, wenn sie mit den Grundzügen der Planung vereinbar ist. Das ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht der Fall.
Eine Planunterschreitung ist mit den Grundzügen der Planung vereinbar, wenn das der Planung zugrunde liegende Leitbild nicht verändert wird, wenn also der planerische Grundgedanke erhalten bleibt. Abweichungen von minderem Gewicht, die nur den – gleichsam formalen – Festsetzungsinhalt treffen, nicht hingegen auch das, was an Planungskonzeption diese Festsetzung trägt und damit den für sie wesentlichen Gehalt bestimmt (vgl. BVerwG, U.v. 9.3.1990 – 8 C 76.88 – juris Rn. 19), berühren danach die Grundzüge der Planung nicht. Ob eine Abweichung von in diesem Sinn minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gekommenen planerischen Willen der Gemeinde. Eine Abweichung hat minderes Gewicht, wenn die vom Plan angestrebte und in ihm zum Ausdruck gebrachte städtebauliche Ordnung nicht in beachtlicher Weise beeinträchtigt wird, das heißt, wenn angenommen werden kann, die Abweichung liege (noch) im Bereich dessen, was der Planer gewollt hat oder gewollt hätte, wenn er die weitere Entwicklung einschließlich des Grundes der Abweichung gekannt hätte (BayVGH, B.v. 21.5.2014 – 6 ZB 12.377 – juris Rn. 6). Ergibt sich aber unter Berücksichtigung des sich aus den Gesamtumständen ergebenden (mutmaßlichen) Willens des Planers, dass die Abweichung etwas tangiert, was dem Planer unter der angestrebten städtebaulichen Ordnung wichtig gewesen ist, so ist sie mit den Planungsgrundsätzen unvereinbar. Das ist insbesondere dann zu bejahen, wenn hinsichtlich Lage, Größe und Funktion der erstellten Anlage ein Aliud gegenüber den Festsetzungen des maßgeblichen Planes vorliegt (vgl. VGH BW, U.v. 10.7.2014 – 2 S 2228/13 – juris Rn. 45).
2. Gemessen an diesem Maßstab war der Verzicht auf die beiden unselbstständigen Stichstraßen nicht mit den Grundzügen der bis 2009 maßgeblichen Planung vereinbar.
Die F.-straße stellte in dem 2006 tatsächlich angelegten im Vergleich zu dem in den Bebauungsplänen Nrn. 43a und 43e festgesetzten Umfang ein Aliud dar, und zwar sowohl mit Blick auf die geplante, aber nicht verwirklichte südliche als auch hinsichtlich der nördlichen Stich Straße. Die südliche Stich Straße sollte nach dem damaligen planerischen Willen, wie er in der Festsetzung als Teil der Erschließungsanlage F.-straße zum Ausdruck gekommen ist, der verkehrsmäßigen Erschließung des im Bebauungsplan Nr. 43e zwischen F.-straße und Bahnlinie vorgesehenen reinen Wohngebiets dienen. Dabei sollte sie als öffentliche Verkehrsfläche mit einer Länge von ca. 60 m die beiderseits in West-Ost-Richtung angeordneten Bauräume (für Reihen- und Gartenhofhäuser) an den in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Hauptzug der F.-straße anbinden. Eine Binnenerschließung über Privatwege wäre der Privatinitiative der Grundstückseigentümer überlassen geblieben, was dem damaligen Erschließungskonzept der Beklagten zuwider gelaufen wäre. Entsprechendes gilt für die nördliche Stich Straße. Diese sollte mit einer festgesetzten Breite von 16,5 m und einer Länge von etwa 35 m als öffentliche Verkehrsfläche den Hauptzug von Grundstückszufahrten aus Tiefgaragen freihalten und so zur Verkehrssicherung beitragen. Beide Stichstraßen stellten daher trotz ihrer relativ geringen Ausdehnung ein wesentliches Element des Konzeptes zur geordneten städtebaulichen Entwicklung des Plangebietes und keineswegs nur unbedeutende Nebenaspekte der Planung dar. Dieses Konzept der verkehrlichen Erschließung der ursprünglich im Bebauungsplan Nr. 43e vorgesehenen Bebauung ist durch die Nichterrichtung der Stichstraßen entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts in beachtlicher Weise berührt. Als Alternative mag zwar eine private Zuwegung mehr oder weniger nahegelegen haben. Aus dem allein maßgeblichen Blickwinkel des im Bebauungsplan zum Ausdruck gekommenen Planungswillens der Beklagten hätte es sich dabei allerdings um eine gänzlich andere Form der „Binnenerschließung“ des Baugebiets östlich der F.-straße mit seinen strukturiert angeordneten Bauräumen gehandelt. Das gilt umso mehr, als ein Privatwegesystem insbesondere mit Blick auf die im Plan Nr. 43e beiderseits der südlichen Stich Straße festgesetzten Bauräume und vorgeschlagenen Grundstücksteilungen Folgeprobleme aufgeworfen hätte. Denn Gebäude dürfen nach Art. 4 Abs. 1 Nr. 2 BayBO grundsätzlich nur dann errichtet werden, wenn das Grundstück in angemessener Breite an einer befahrbaren öffentlichen Verkehrsfläche liegt.
Vor Inkrafttreten des Bebauungsplans Nr. 1932 am 20. März 2009, der mit der Festsetzung von Geschosswohnungen ein anderes städtebauliches Konzept verfolgt, das keine vom Hauptverkehrszug der F.-straße abzweigenden öffentlichen Stichstraßen mehr erfordert, fehlte es demnach wegen des Verstoßes gegen geltendes Planungsrecht an einer rechtmäßigen Herstellung dieser Erschließungsanlage.
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass eine Änderung des Bebauungsplans Nr. 43e wegen gestiegener immissionsrechtlicher Anforderungen im Hinblick auf die Bahnstrecke einerseits und des stark gestiegenen Bedarfs an Wohnraum andererseits bereits vor 2009 absehbar war. Der Einwand, die Beklagte sei bereits im Jahr 2006 „erkennbar davon ausgegangen, ihr konkretes Bauprogramm erfüllt zu haben“, weil bereits im Jahr 2003 ein Aufstellungsbeschluss für die Änderung des Bebauungsplans Nr. 43e und den Verzicht auf die Stichstraßen vorgelegen habe, missachtet den Unterschied zwischen der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage im Sinn von § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB und der planungsrechtlich rechtmäßigen Herstellung im Sinn von § 125 BauGB. Auch wenn die Beklagte bereits im Jahr 2006 die Stichstraßen in ihrem Bauprogramm nicht mehr vorgesehen und dementsprechend die allein auf den Hauptzug beschränkte Erschließungsanlage endgültig hergestellt hat, fehlte es gleichwohl (noch) an der Übereinstimmung mit den planerischen Festsetzungen und damit an der Rechtmäßigkeit der Herstellung als weiterer, eigenständiger Voraussetzung für das Entstehen der sachlichen Erschließungsbeitragspflichten. Dieses Erfordernis war erst mit dem Inkrafttreten des Änderungsplans Nr. 1932 am 20. März 2009 erfüllt.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Ihre vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO, § 708 Nr. 10‚ § 711 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.