Aktenzeichen 1 CS 19.474
Leitsatz
1. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Erfordernis der gesicherten planungsrechtlichen Erschließung, dient grundsätzlich nur den öffentlichen Interessen und hat keine nachbarschützende Funktion. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 9 SN 18.4319 2019-02-20 Bes VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe geben keine Veranlassung, die angegriffene Entscheidung zu ändern.
Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung wird die Klage der Antragsteller gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienhauses unter Befreiung von der im Bebauungsplan Nr. * „… … …“ der Stadt S* … festgesetzten Baugrenze im Hauptsacheverfahren voraussichtlich erfolglos bleiben, sodass das Interesse der Beigeladenen am Sofortvollzug demnach das gegenläufige Interesse der Antragsteller überwiegt. Die angefochtene Baugenehmigung vom 1. August 2018 verstößt, worauf es allein ankommt, nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, die zumindest auch dem Schutz der Antragsteller zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragsteller aufgrund der den Beigeladenen erteilten Befreiung (§ 31 Abs. 2 BauGB) in subjektiven Rechten verletzt werden. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – BauR 2013, 2011). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – NVwZ-RR 1999, 8). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verletzt die Befreiung mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Rechte der Antragsteller.
Die Festsetzung zur überbaubaren Grundstücksfläche ist entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht drittschützend (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – NVwZ 1996, 170). Die Antragsteller machen insoweit geltend, dass die Festsetzung der Baugrenzen nach dem städtebaulichen Willen der Gemeinde den rückwärtigen Teil der im Bebauungsplangebiet liegenden Grundstücke von einer Bebauung ausnehme. Im Bereich WA4 des Bebauungsplans sei eine Karree-Bebauung mit innenliegendem Grünbereich, der allen anliegenden Grundstücken diene, festgesetzt worden. Der hintere Teil des Grundstücks der Antragsteller sei der „Beitrag“ zum innenliegenden Grünbereich. Damit wird ein vom Planungswillen der Gemeinde abhängiger ausnahmsweiser Drittschutz nicht hinreichend dargelegt (vgl. BVerwG, B.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – NVwZ 2018, 1808). Der Begründung des Bebauungsplans lässt sich entnehmen, dass seit dem Erlass des Bebauungsplans 1966 eine (Nach-)Verdichtung zugelassen wurde. Dabei ist unschädlich, dass die Verhinderung einer zu dichten Bebauung und einer geschlossenen Bauweise durch zusätzliche Festsetzungen (zu Wohneinheitenbeschränkungen) in den Blick genommen wurde. Bereits mit der Planänderung für das Grundstück FlNr. … der Antragsteller wurde der Innenbereich für eine Bebauung vorgesehen. Dass diese Änderung der besonderen Lage des Grundstücks geschuldet sein dürfte, steht dem geplanten Vorhaben nicht entgegen. Es kommt daher nicht mehr entscheidend darauf an, ob bereits im Bebauungsplan in der Fassung vom 13. August 1997 auf FlNr. … die Errichtung von zwei Wohngebäuden auf einem (ungeteilten) Grundstück vorgesehen war oder ob die zukünftige Aufteilung dieses Grundstücks entsprechend der Ausführungen der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt schon in der Planung berücksichtigt worden war. Auch die Annahme der Antragsteller, die Festsetzung stehe nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis, trifft nicht zu. Denn der Bebauungsplan trifft für die rückwärtigen Grundstücksbereiche keine Festsetzungen zum Ausschluss einer Bebauung. Ob jedes Grundstück nach der Konzeption des Bebauungsplans einen vergleichbaren Beitrag zu einem innenliegenden Grünbereich leisten soll, wie von den Antragstellern behauptet, kann daher dahingestellt bleiben.
Soweit die Antragsteller zu einer etwaigen Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung ausführen und auf eine vermeintliche Beschränkung der Bebauung je Grundstück mit entweder einem Einfamilienhaus oder Doppelhäusern abstellen, fehlt es an der erforderlichen Darlegung einer Verletzung nachbarlicher Rechte. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Senats vom 12. September 2000 (1 N 98.3549) zutreffend ausgeführt, dass § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB keine Grundlage für eine Begrenzung der Wohnungszahl je Baugrundstück darstellen kann (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Oktober 2018, § 9 Rn. 70).
Eine Rücksichtslosigkeit aufgrund der Befreiung von der Baugrenze auf dem Grundstück der Beigeladenen wurde weder vorgetragen noch liegt eine solche hier vor. Das zu errichtende Vorhaben der Beigeladenen befindet sich weder an noch in der Nähe der Grundstücksgrenze zu den Antragstellern. Die Erhöhung der Zahl der Gebäude führt auch nicht zu einer Änderung des Gebietscharakters eines „allgemeinen Wohngebiets“.
Die Beschwerde hat auch keinen Erfolg, soweit die Antragsteller eine unzureichende Erschließung des Baugrundstücks geltend machen. Das Erfordernis der gesicherten planungsrechtlichen Erschließung, das im vorliegenden Fall aus § 30 Abs. 1 BauGB folgt, dient grundsätzlich nur den öffentlichen Interessen und hat keine nachbarschützende Funktion (vgl. BVerwG, B.v. 28.7.2010 – 4 B 19.10 – juris Rn. 3; B.v. 21.4.1989 – 4 B 85.89 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 29.8.2015 – 15 CS 14.615 – juris Rn. 17). Eine Ausnahme hiervon ist nur dann gegeben, wenn eine wegen fehlender Erschließung rechtswidrige Baugenehmigung für den Nachbarn eine unmittelbare Rechtsverschlechterung in Richtung auf das Duldenmüssen eines Notwege- oder Notleitungsrechts nach § 917 Abs. 1 BGB bewirkt (vgl. BVerwG, B.v. 11.5.1998 – 4 B 45.98 – NJW-RR 1999, 165; BayVGH, B.v. 30.4.2007 – 1 CS 06.3335 – BauR 2008, 496).
Das Verwaltungsgericht ist von dieser Rechtslage ausgegangen und hat zu Recht angenommen, dass infolge der Baugenehmigung kein Notwege- oder Notleitungsrecht auf dem Grundstück der Antragsteller entsteht, weil das Baugrundstück bereits eine unmittelbare Zufahrt zum öffentlichen Wegenetz besitzt (vgl. BVerwG, B.v. 22.11.1995 – 4 B 224.95 – juris Rn. 2 zum bundesrechtlichen Erschließungsbegriff). Der hierfür erforderliche Zu- oder Durchgang zum rückwärtigen Grundstücksteil nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist gegeben. Weitere Anhaltspunkte dafür, dass ausnahmsweise die verkehrliche Erschließung des Baugrundstücks nicht gesichert ist (vgl. BVerwG, B.v. 11.4.1990 – 4 B 62.90 – NVwZ-RR 1990, 528), wurden nicht vorgetragen und sind nicht ersichtlich. Die Zufahrt zum Baugrundstück über das Grundstück der Antragsteller ist daher nicht erforderlich. Auf die Frage, ob bzw. in welchem Umfang eine über das Grundstück der Antragsteller führende Zufahrtsmöglichkeit zum Vorhaben dinglich gesichert ist, kommt es daher nicht entscheidend an.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2, § 159 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen, weil sie sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert haben (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1‚ § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).