Aktenzeichen M 9 K 16.3410
Leitsatz
1. Hält ein Vorhaben die landesrechtlich gebotenen Abstandsflächen ein, spricht dies regelmäßig indiziell dafür, dass eine “erdrückende Wirkung” oder “unzumutbare Verschattung” nicht eintritt. (redaktioneller Leitsatz)
2. Durch ein Bauvorhaben neu geschaffene Einblicksmöglichkeiten in das Nachbargrundstück können im Einzelfall nur unter besonders gravierenden Umständen als Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme angesehen werden. (redaktioneller Leitsatz)
3. Wegen der generellen Zulässigkeit von Stellplätzen und Garagen selbst in reinen Wohngebieten (§ 12 Abs. 2 BauNVO) müssen Nachbarn Emissionen, die von der im Zusammenhang mit einer zulässigen Wohnbebauung stehenden Nutzung von Stellplätzen und Garagen ausgehen, im Regelfall hinnehmen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage hat keinen Erfolg.
Die Klage ist unbegründet. Die angefochtene Baugenehmigung verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Zu berücksichtigen ist, dass Nachbarn – wie sich aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergibt – eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten können, wenn sie hierdurch in einem ihnen zustehenden subjektiv-öffentlichen Recht verletzt werden. Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke dienen. Eine baurechtliche Nachbarklage kann allerdings auch dann Erfolg haben, wenn ein Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt (BVerwG, U.v. 25.2.1977 – 4 C 22/75 – BVerwGE 52, 122 = BayVBl 1977, 639).
Vorliegend verletzt die angefochtene Baugenehmigung den Kläger nicht in seinen Rechten, weder hinsichtlich der Abstandsflächenvorschriften (nachfolgend unter 1.) noch in Bezug auf das Einfügen hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung (nachfolgend unter 2.) noch ist die Baugenehmigung im Übrigen für den Kläger rücksichtslos (nachfolgend unter 3.).
1. Die Baugenehmigung verstößt nicht gegen Art. 6 BayBO. Abgesehen davon, dass die Abstandsflächenvorschriften wegen des hier einschlägigen vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens, Art. 59 Satz 1 BayBO, nicht geprüft und somit von der Regelungswirkung der angefochtenen Baugenehmigung gar nicht erfasst werden, werden sie vom Vorhaben nach den maßgeblichen genehmigten Plänen eingehalten. Das gilt auch für die Balkone, die die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 8 Nr. 2 BayBO erfüllen und deswegen bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht bleiben. Das hat der Klägerbevollmächtigte, dem im Vorfeld noch andere Bauvorlagen vorlagen, zu Beginn des Augenscheins bei der gemeinsamen Einsichtnahme in die genehmigten Bauvorlagen auch bestätigt.
2. Sollte sich das Vorhaben hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung nicht gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in den aus der näheren Umgebung ableitbaren Rahmen einfügen, würde das der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Denn das Maß der baulichen Nutzung im Sinn des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB entfaltet „für sich gesehen“ keine nachbarschützende Wirkung (vgl. BayVGH, Beschluss vom 25.01.2013 – 15 ZB 13.68 – juris Rn. 4 m.w.N.; Jäde/Dirnberger, BauGB, 8. Auflage 2017, § 29 Rdnr. 65 m.w.N.), weil das Einfügen hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung grundsätzlich nur der städtebaulichen Ordnung, nicht aber auch dem Schutz des Nachbarn dient. Das bedeutet, dass allein der Umstand, dass das Maß der Nutzung des Vorhabens nicht der Eigenart der näheren Umgebung entspricht, aus sich heraus keine Verletzung von nachbarlichen Rechten ergibt. Vielmehr gewährt § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB Nachbarschutz nur im Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme (BVerwG, U.v. 4.7.1980 – IV C 101/77 – NJW 1981, 139 = BayVBl 1981, 119; B.v. 19.10.1995 – 4 B 215.95 – BRS 57, 219 = NVwZ 1996, 888). Das Gebot der Rücksichtnahme in seiner subjektiv-rechtlichen Ausprägung ist nur dann verletzt, wenn die Bebauung sich in einer Gesamtschau als den Nachbarn gegenüber unzumutbar erweist. Wann dies der Fall ist, kann nur aufgrund einer Abwägung im Einzelfall zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage des Einzelfalles zuzumuten ist, beurteilt werden (grundlegend: BVerwG, U.v. 25.2.1977 – 4 C 22/75 – BVerwGE 52, 122 = BayVBl 1977, 639). Bezogen speziell auf das Maß der baulichen Nutzung ist eine Bebauung jedenfalls dann rücksichtslos, wenn sie eine „erdrückende“ Wirkung auslöst. Eine solche geht vom Vorhaben nicht aus. Es hält, so wie es genehmigt ist, komplett die landesrechtlich verlangten Abstandsflächen ein, was sich aus den genehmigten Bauvorlagen ergibt. Das genügt für sich genommen zwar nicht in jedem Fall, um das Gebot der Rücksichtnahme zu erfüllen, es spricht jedoch regelmäßig indiziell dafür, dass eine „erdrückende Wirkung“ oder „unzumutbare Verschattung“ nicht eintritt (BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – NVwZ 1999, 879 = BRS 62 Nr. 102; BayVGH, B.v. 15.3.2011 – 15 CS 11.9 – juris Rn. 32; B.v. 15.9.2008 – 15 CS 08.2123 – juris Rn. 5). Für ein Abweichen von der beschriebenen Regelwirkung ist weder etwas ersichtlich noch Ausreichendes vorgebracht. Der Kläger verweist besonders auf die von dem Vorhaben ausgehende Möglichkeit der Einsichtnahme in sein Grundstück. Das öffentliche Baurecht vermittelt jedoch keinen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken. Das bauplanungsrechtliche Gebot des Einfügens bezieht sich nur auf die in § 34 Abs. 1 BauGB genannten städtebaulichen Merkmale der Nutzungsart, des Nutzungsmaßes, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche. Die Möglichkeit der Einsichtnahme ist – als nicht städtebaulich relevant – davon nicht angesprochen (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.1989 – 4 B 72.89 – NVwZ 1989, 1060; B.v. 3.1.1983 – 4 B 224.82 – BRS 40 Nr. 192; BayVGH, B.v. 30.4.2009 – 15 CS 09.730 – juris Rn. 14: Die Möglichkeit der Einsichtnahme in das Nachbargrundstück ist kein Kriterium des Einfügens). Die Einhaltung der landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften bewirkt, dass dem Interesse, unmittelbare Einblicke zu begrenzen, bereits hinreichend Rechnung getragen ist (BayVGH, Beschl.v. 20.7.2010 – 15 CS 10.1151 – juris Rn. 19). Durch ein Bauvorhaben neu geschaffene Einblicksmöglichkeiten in das Nachbargrundstück können im Einzelfall nur unter besonders gravierenden Umständen als Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme angesehen werden. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die vom Kläger konkret vorgetragenen Befürchtungen gehen nicht über das sozial Übliche hinaus. Darüber hinaus sind in einem Gebiet, das überwiegend dem Wohnen dient, Einblicksmöglichkeiten auf das Nachbargrundstück grundsätzlich hinzunehmen. Es ist dem betroffenen Nachbarn zuzumuten, unerwünschte Einblicke durch eigene Mittel abzuwehren, sei es durch Sichtschutz im Haus oder im Zufahrtsbereich.
Unabhängig davon fügt sich das Vorhaben gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nicht nur hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung – unabhängig davon, ob man die Umgebung als faktisches allgemeines Wohngebiet, § 34 Abs. 2 Hs. 1 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO, oder als faktisches Dorfgebiet, § 5 BauNVO, einordnet, ist das Vorhaben jeweils allgemein zulässig – sondern auch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung ein. Angesichts der Bebauung auf den Grundstücken FlNr. 156/2 und FlNr. 146, jeweils Gemarkung Steingriff, überschreitet es nicht den Rahmen des Vorhandenen. Das Gebäude auf Fl.Nr. 156/2 kann nicht deswegen als „Ausreißer“ behandelt werden, weil es nach dem Vortrag des Klägerbevollmächtigten vor Jahren „rechtswidrig genehmigt“ worden wäre. Abgesehen davon, dass die entsprechende Baugenehmigung offenbar mittlerweile bestandskräftig ist, kommt es im hiesigen Zusammenhang ohnehin nur darauf an, dass dieses Gebäude tatsächlich vorhanden ist. Ob es ausnahmsweise einen Fremdkörper darstellt, bemisst sich nicht nach der Genehmigungsfrage, sondern danach, ob es nach seiner Qualität völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfällt (grundsätzlich: BVerwG, U.v. 15.2.1990 – 4 C 23.86 -BVerwGE 84, 322 = NVwZ 1990, 755; B.v. 16.6.2009 – 4 B 50.08 – juris Rn. 6). Dass das bei einem Gebäude mit einem Geschoss mehr als andere in der Umgebung vorhandene Gebäude nicht der Fall ist, liegt auf der Hand.
Ebenso wenig eine Rolle spielt die Frage, ob das Vorhaben, d.h. beide Gebäude, nun komplett nach § 34 BauGB oder zu einem (kleinen) Teil nach § 35 BauGB zu beurteilen wären. Denn unabhängig davon, dass die Beurteilung auf der Grundlage von § 34 BauGB richtig ist, vermittelt die Wahl des richtigen bodenrechtlichen Bereichs keinen Nachbarschutz.
3. Auch im Übrigen liegt unter Berücksichtigung der von der Klägerseite geltend gemachten Einwände ein Verstoß gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme, hergeleitet entweder aus § 34 Abs. 1 BauGB oder aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO, nicht vor.
Mit dem Vortrag, es seien Probleme mit der verkehrsmäßigen Erschließung zu erwarten, § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB a.E., bezieht sich der Kläger auf einen nicht nachbarschützenden Aspekt (BayVGH, B.v. 1.3.2016 – 1 ZB 15.1560 – juris Rn. 9). Im Übrigen hat der Augenschein die diesbezüglichen Aussagen des Beklagten bestätigt. Der W. Weg ist eine gut ausgebaute, ca. 6 m breite Straße mit Gehwegen auf jeder Seite. Probleme mit der Erschließung sind nicht erkennbar. Dass die Straße den durch das Vorhaben veranlassten zusätzlichen Verkehr in irgendeiner Weise „nicht aufnehmen könnte“, ist nicht vorstellbar. Auch der mit dem Vorhaben einhergehende Zu-, Abfahrts- und Wendeverkehr wird keine unzumutbaren Umgebungsbelastungen erzeugen. Bei dem streitgegenständlichen Vorhaben handelt es sich um Wohnbebauung. Wegen der generellen Zulässigkeit von Stellplätzen und Garagen selbst in reinen Wohngebieten, § 12 Abs. 2 BauNVO, müssen die Nachbarn die Emissionen, die von der im Zusammenhang mit einer wie hier zulässigen Wohnbebauung stehenden Nutzung von Stellplätzen und Garagen ausgehen, im Regelfall hinnehmen (BayVGH, B.v. 10.1.2005 – 2 CS 04.3304 – juris Rn. 2). Die Zufahrt zum Vorhabensgrundstück ist nach den genehmigten Bauvorlagen noch dazu auf der vom Kläger abgewandten Seite. Darauf, dass der Anliegerverkehr nicht zunimmt, hat der Kläger keinen Anspruch.
Der Umstand, dass der Kläger befürchtet, dass künftige Bewohner gegen ihn Unterlassungsansprüche wegen seines Kamins geltend machen, ändert nichts am Ergebnis. Abgesehen davon, dass dieser Umstand in öffentlich-rechtlicher Hinsicht nichts mit der erteilten Baugenehmigung zu tun hat, kann der Kläger nicht ernsthaft gegen die angefochtene Baugenehmigung ins Feld führen, dass die Gefahr besteht, dass Nachbarn gegen ihn berechtigte zivilrechtliche Unterlassungsansprüche erheben und er deswegen gegebenenfalls seine Heizung nicht mehr betreiben kann.
Schließlich hat ein Nachbar unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt – auch nicht im Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme – einen Anspruch darauf, dass sich die Bebauung auf seinem Nachbargrundstück nicht ändert. Maßnahmen der (Nach-) Verdichtung, auch in ländlich geprägten Bereichen, sind hinzunehmen, solange sie baurechtlich zulässig sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO und § 154 Abs. 3 Hs. 1 VwGO. Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt und sich keinem Kostenrisiko ausgesetzt, weshalb es der Billigkeit entspricht, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708ff. ZPO.