Aktenzeichen 9 CS 17.345
Leitsatz
1. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans ist der Nachbar in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des Gebots der Rücksichtnahme. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen (§ 23 BauNVO) haben – anders als die Festsetzung von Baugebieten – grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung. Ob eine solche Festsetzung auch darauf gerichtet ist, dem Schutz eines Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Werden Baufenster flächendeckend und unabhängig vom Vorhandensein potentiell schutzbedürftiger Nachbarbebauung festgesetzt, lässt dies eher auf das Ziel schließen, ein bestimmtes Ortsbild zu gestalten, als auf die Absicht, Nachbarinteressen zu wahren. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
AN 3 S 17.35 2017-01-31 Bes VGANSBACH VG Ansbach
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller, (Mit-)Eigentümer des Grundstücks FlNr. … Gemarkung …, wenden sich gegen die der Beigeladenen mit Bescheid der Stadt … vom 9. Dezember 2016 erteilte Baugenehmigung zum Neubau eines Zweifamilienhauses mit Garage und zwei Außenstellplätzen auf den aneinandergrenzenden Grundstücken FlNr. …, FlNr. … und FlNr. … der Gemarkung …
Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 284b der Antragsgegnerin. Das Bauvorhaben ist auf FlNr. … vollständig außerhalb der festgesetzten Baugrenzen vorgesehen und grenzt an das südlich davon gelegene Grundstück FlNr. … an, das zwischen dem Bauvorhaben und dem Grundstück der Antragsteller liegt. Die Baugenehmigung enthält eine Befreiung von den festgesetzten Baugrenzen. In der Begründung des Bescheids ist ausgeführt, es sei davon auszugehen, dass von den festgesetzten Baugrenzen keine nachbarschützende Wirkung ausgehe. Zum einen enthalte die Begründung zum Bebauungsplan keinen Hinweis auf eine nachbarschützende Funktion; zum anderen folge dies auch aus dem Zweck des Bebauungsplans, nämlich der Schaffung von Bereichen, die im Zusammenhang mit dem Prinzip der ursprünglichen „Reichsheimstätten“ dem Anbau von Obst und Gemüse zur Selbstversorgung dienten. Aus Gründen der Nachverdichtung seien im Übrigen bereits auf FlNr. … und … freistehende Einzelhäuser außerhalb der Baugrenzen im inneren Bereich des Bebauungsplans genehmigt worden.
Die Antragsteller haben gegen die Baugenehmigung Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Ihre Anträge, die aufschiebende Wirkung ihrer Klagen anzuordnen, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 31. Januar 2017 abgelehnt. Die Anfechtungsklage habe bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage keine Erfolgsaussichten. Die Antragsteller würden voraussichtlich nicht durch die nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilte Befreiung in ihren Rechten verletzt. Weder aus den textlichen Festsetzungen, noch aus der Begründung des Bebauungsplans ergäben sich Anhaltspunkte dafür, dass die Festsetzung der Baugrenzen von der Antragsgegnerin nicht nur im Interesse einer geordneten städtebaulichen Entwicklung erfolgt sei, sondern (auch) den Zweck habe, gerade den jeweiligen Grundstücksnachbarn im Sinne eines wechselseitigen Austauschverhältnisses schützenswerte Rechtspositionen einzuräumen. Die Befreiung sei gegenüber den Antragstellern auch nicht rücksichtslos. Dagegen spreche bereits die Einhaltung der bauordnungsrechtlich erforderlichen Abstandsflächen, die eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung gewährleiste. Von einer abriegelnden, einmauernden, erdrückenden Wirkung des Bauvorhabens könne nicht die Rede sein.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsteller. Sie sind der Auffassung, es lägen ausreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass der Festsetzung der seitlichen und hinteren Baugrenzen nach der Rechtsprechung „zumindest auch“ ein nachbarschutzrechtlicher Charakter zukomme. Bei Erlass des Bebauungsplans habe ein Planungswille zur Schaffung sog. rückwärtiger Ruhebereiche vorgelegen, der sich im heute vorliegenden Bebauungsplan noch immer verkörpere.
Die Antragsteller beantragen,
unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts … vom 31. Januar 20176 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung der Beklagten vom 9. Dezember 2016 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Festsetzungen der überbaubaren Grundstücksflächen im Bebauungsplan Nr. 284b hätten weder kraft Bundesrechts noch ausnahmsweise eine nachbarschützende Wirkung, da ein derartiger Wille der Antragsgegnerin als Planungsträgerin weder aus der Begründung des Bebauungsplans noch aus den Begründungen der Änderungssatzungen ableitbar sei.
Die Beigeladene beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Festsetzung der Baugrenzen diene im Sinne einer geordneten städtebaulichen Entwicklung nur dem Interesse der Allgemeinheit. Sie sei zu keinem Zeitpunkt dazu bestimmt gewesen, dem einzelnen Nachbarn Rechte zu verleihen und daher nicht drittschützend.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die von den Antragstellern dargelegten Gründe, auf die die Prüfung des Senats im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnet, keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Zweifamilienhauses mit Garage und zwei Außenstellplätzen unter Befreiung von den Baugrenzen des Bebauungsplans Nr. 284b verletzt die Antragsteller voraussichtlich nicht in ihren Rechten.
Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn davon abhängt, ob die Festsetzungen, von der der Beigeladenen eine Befreiung erteilt wurde, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – juris Rn. 3). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots. Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris Rn. 5 f; BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 –juris Rn. 25 m.w.N.).
Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen (§ 23 BauNVO) haben – anders als die Festsetzung von Baugebieten – grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 28.5.2014 – 9 CS 14.84 – juris Rn. 17; B.v. 29.7.2014 – 9 CS 14.1171 – juris Rn. 15; B.v. 8.11.2016 – 1 CS 16.1864 – juris Rn. 4; B.v. 12.7.2016 – 15 ZB 14.1108 – juris Rn. 11). Ob eine solche Festsetzung auch darauf gerichtet ist, dem Schutz eines Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab (vgl. BVerwG, B.v. 13.12.2016 – 4 B 29/16 – juris Rn. 5). Maßgebend ist, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen worden ist oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2014 – 9 CS 14.84 – juris Rn. 17; B.v. 29.7.2014 – 9 CS 14.1171 – juris Rn. 15; B.v. 12.7.2016 – 15 ZB 14.1108 – juris Rn. 11; OVG RhPf, B.v. 1.8.2016 – 8 A 10264/16 – juris Rn. 6). Anhaltspunkte für eine Nachbarschutz vermittelnde Festsetzung können sich aus dem Bebauungsplan, seiner Begründung oder aus sonstigen Unterlagen der planenden Gemeinde ergeben. Günstige Auswirkungen einer Festsetzung auf die Nachbargrundstücke reichen zur Annahme eines Nachbarschutzes aber nicht aus (vgl. BayVGH, B.v. 19.11.2015 – 1 CS 15.2108 – juris Rn. 8). Letztlich ausschlaggebend ist jedoch eine wertende Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2014 – 9 CS 14.84 – juris Rn. 17; B.v. 29.7.2014 – 9 CS 14.1171 – juris Rn. 15).
Nach diesem Maßstab hat das Verwaltungsgericht bei seiner wertenden Betrachtung zutreffend angenommen, dass die im Bebauungsplan Nr. 284b festgesetzten Baugrenzen keine nachbarschützende Wirkung entfalten. Es hat dabei insbesondere darauf verwiesen, dass sich weder aus den textlichen Festsetzungen noch aus der Begründung des Bebauungsplans und den späteren Änderungen Anhaltspunkte dafür ergäben, dass mit der zeichnerischen Baugrenzenfestsetzung über die Aufstellung von Planungsgrundsätzen im Interesse einer geordneten städtebaulichen Entwicklung hinaus, gerade den jeweiligen Grundstücksnachbarn im Sinne eines wechselseitigen Austauschverhältnisses schützenswerte Rechtspositionen eingeräumt werden sollten. Aus dem Fehlen von Anhaltspunkten für einen entsprechenden Planungswillen der Antragsgegnerin sei gerade nicht zu folgern, dass die Festsetzungen zu seitlichen und rückwärtigen Baugrenzen an sich Nachbarschutz entfalten würden. Das Beschwerdevorbringen vermag diese Beurteilung des Verwaltungsgerichts nicht in Zweifel zu ziehen.
a) Ob das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung den Prüfungsmaßstab für die Erkennbarkeit eines derartigen Willens „überspannt“ hat, wie im Beschwerdevorberingen geltend gemacht wird, kann dahinstehen. Zwar hat es seiner diesbezüglichen Prüfung den Einleitungssatz vorangestellt, „ein eindeutig erkennbarer Wille der Antragsgegnerin, dass die hier inmitten stehenden Festsetzungen dem Nachbarschutz dienen sollen, ist vorliegend nicht ersichtlich“. Wie sich dem weiteren Kontext der Entscheidung aber entnehmen lässt und bereits oben ausgeführt wurde, hat das Verwaltungsgericht eine drittschützende Wirkung der im Bebauungsplan Nr. 284b der Antragsgegnerin festgesetzten Baugrenzen mangels Anhaltspunkten für überhaupt einen dementsprechenden Planungswillen der Antragsgegnerin verneint. Dies spricht dafür, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines eindeutig erkennbaren solchen Willens nicht als Voraussetzung für die drittschützende Wirkung der festgesetzten Baugrenzen angesehen haben dürfte. Denn dem Beschwerdevorbringen lässt sich auch nicht entnehmen, dass sich ein solcher Planungswille jedenfalls mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan selbst, seiner Begründung oder aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung ergibt (vgl. BayVGH, B.v. 28.3.2017 – 15 ZB 16.1306 – juris Rn. 10).
b) Entgegen dem Beschwerdevorbringen kann aus den dort zitierten Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juli 2014 (Az. 9 CS 14.1171) und vom 27. April 2009 (Az. 14 ZB 08.1172) nicht abgeleitet werden, ein Nachbarschutz vermittelndes Austauschverhältnis sei regelmäßig dann gegeben, wenn rückwärtige Baugrenzen in einem einheitlich bebauten Straßengeviert so festgesetzt sind, dass im Innern ein „rückwärtiger Ruhebereich“ entsteht (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2017 – 9 ZB 15.85 – juris Rn. 8).
Soweit das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf das Vorbringen der Antragsgegnerin davon ausgegangen ist, dass mit den festgesetzten Baugrenzen Bereiche geschaffen werden sollten, die im Sinne der „Reichsheimstätten“ als Selbstversorgungsgärten für Obst- und Gemüseanbau dienen sollten, wird dem im Beschwerdevorbringen nicht entgegengetreten. Das ursprüngliche Verbot der Errichtung von untergeordneten Nebenanlagen nach § 14 Abs. 1 BauNVO wurde durch die Änderungssatzung der Antragsgegnerin vom 7. Januar 1975 aufgehoben. Durch die Zulassung solcher Nebenanlagen wurde eine – wenn auch begrenzte – Bebauung des „Innenbereichs“ des jeweiligen Gevierts gestattet, wovon die Grundstückseigentümer nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, denen im Beschwerdevorbringen nicht entgegengetreten wird, umfassend Gebrauch gemacht haben. Auch der in der Begründung der Satzungsänderung vom 1. September 1971 verwendete planungsrechtlich nicht aussagekräftige Begriff „Gartenwohnsiedlung“ für das Plangebiet erlaubt nicht den hinreichend zuverlässigen Schluss, dass hierfür nicht (nur) städtebauliche Erwägungen, sondern Vorstellungen über die Gewährung von bauplanungsrechtlichem Nachbarrechtsschutz maßgebend waren (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2017 a.a.O. – juris Rn. 10).
Im Rahmen einer wertenden Betrachtung des Festsetzungszusammenhangs kann zudem nicht außer Betracht bleiben, dass der Bebauungsplan Nr. 284b der Antragsgegnerin das Instrument der Baugrenze nicht nur dort einsetzt, wo nachbarliche Interessengegensätze zumindest ansatzweise erkennbar sind; vielmehr werden die Baufenster flächendeckend und unabhängig vom Vorhandensein potenziell schutzbedürftiger Nachbarbebauung festgesetzt. Dies lässt eher auf das Ziel schließen, ein bestimmtes Ortsbild zu gestalten, als auf die Absicht, Nachbarinteressen zu wahren (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2017 a.a.O. – juris Rn. 10 m.w.N.).
Schließlich dürften auch die von der Antragsgegnerin erteilten Baugenehmigungen für freistehende Einzelhäuser auf den Grundstücken Fl.Nrn. … und … außerhalb der Baugrenzen im Innenbereich des Gevierts, in dem sich das Grundstück der Antragsteller befindet, gegen einen Planungswillen der Antragsgegnerin sprechen, dass diese Baugrenzen zumindest dort auch dem Schutz der Nachbarn dienen sollen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen entspricht der Billigkeit, weil diese im Beschwerdeverfahren einen Antrag gestellt und damit ein Kostenrisiko übernommen hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).