Baurecht

Erfolgloser Nachbareilantrag gegen eine Baugenehmigung für ein Mehrfamilienhaus – Wiedereinsetzung aufgrund verzögerter Postbeförderung

Aktenzeichen  1 CS 19.1500

Datum:
7.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27425
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 57, § 60 Abs. 2 S. 2, § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3, § 88, § 113 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 4 S. 6, § 147 Abs. 1 S. 1
BauGB § 31 Abs. 2
BGB § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2
ZPO § 85 Abs. 2, § 222 Abs. 1
BayBO Art. 6
BayBO a.F. Art. 59 S. 1, Art. 107 Abs. 4 S. 3
BauNVO 1962 § 18

 

Leitsatz

1. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag im Bundesgebiet ausgeliefert werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss ein Rechtsmittelführer deshalb bei korrekter Adressierung und Frankierung nicht mit Postlaufzeiten rechnen, die die ernsthafte Gefahr der Fristversäumung begründen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist es allein Aufgabe und Pflicht des Bauherrn und der am Bau Beteiligten dafür zu sorgen, dass die im Baugenehmigungsverfahren nicht prüfpflichtigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die für das Vorhaben gelten, eingehalten werden. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Nachbar kann bei Unterlassen einer notwendigen Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans nur die Berücksichtigung seiner nachbarlichen Interessen in entsprechender Anwendung von § 31 Abs. 2 BauGB verlangen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 11 SN 19.1137 2019-07-04 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Dem Antragsteller wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist gewährt.
II. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
III. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Zwar ist dem Antragsteller Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist gemäß § 60 VwGO zu gewähren (1.). Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe geben jedoch keine Veranlassung, die angegriffene Entscheidung zu ändern (2.).
1. Der Beschwerdeantrag ist verspätet beim Verwaltungsgericht München eingegangen. Dem Antragsteller bzw. seinem Prozessbevollmächtigten trifft daran jedoch aufgrund des hinreichend glaubhaft gemachten rechtzeitigen Postversands des Schriftsatzes kein Verschulden, weshalb antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.
Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019 ist die Beschwerde innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen (§ 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts wurde dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 11. Juli 2019 zugestellt. Die Frist zur Einlegung der Beschwerde lief daher am Donnerstag, 25. Juli 2019, 24:00 Uhr, ab (§ 57 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB). Der (nur) auf dem Postweg versandte Antrag vom 22. Juli 2019 ist erst am Freitag, 26. Juli 2019, und damit nach Fristablauf beim Verwaltungsgericht eingegangen.
Der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers hat nach dem Hinweis des Senats vom 6. August 2019 auf die Fristversäumung, den er am 7. August 2019 erhalten hat, mit Schreiben vom 14. August 2019 und damit binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses Wiedereinsetzung beantragt. Die näheren Umstände zur Absendung des Beschwerdeantrags hat er in diesem Schriftsatz und auf Nachfrage des Senats in einem weiteren Schreiben vom 23. August 2019 dargelegt und glaubhaft gemacht. Danach hat er den Beschwerdeantrag am 22. Juli 2019 zur Post gebracht. Der Antragsteller, der sich das Vorgehen seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen muss (§ 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO), trifft an der verzögerten Zuleitung durch die Post kein Verschulden.
Verzögerungen der Briefbeförderung durch die Post dürfen dem Rechtsmittelführer nicht als Verschulden angerechnet werden. Vielmehr darf der Absender darauf vertrauen, dass die für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. In seinem Verantwortungsbereich liegt es allerdings, das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post zu geben, dass es nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bei normalem Verlauf der Dinge den Empfänger fristgerecht erreichen kann (vgl. BVerfG, B.v. 7.3.2017 – 2 BvR 162.16 – juris Rn. 26 m.w.N.; BGH, B.v. 21.10.2010 – IX ZB 73.10 – juris Rn. 15). Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag im Bundesgebiet ausgeliefert werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss ein Rechtsmittelführer deshalb bei korrekter Adressierung und Frankierung nicht mit Postlaufzeiten rechnen, die die ernsthafte Gefahr der Fristversäumung begründen (BVerwG, U.v. 20.6.2013 – 4 C 2.12 – BVerwGE 147, 37; BGH, B.v. 18.7.2007 – XII ZB 32.07 – NJW 2007, 2778; Schmidt in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 60 Rn. 22). Er verletzt auch keine Sorgfaltspflichten, wenn er sich nicht beim Empfänger nach dem Eingang des Briefes erkundigt (BVerwG, B.v. 27.3.2017 – 4 BN 33.16 – juris Rn. 5) oder wenn er es unterlässt, rechtzeitig auf dem Postweg versandte Schriftsätze zusätzlich auch per Telefax an das Gericht zu übersenden (BGH, B.v. 19.6.2013 – V ZB 226.12 – juris Rn. 7).
Der Antragsteller hat den rechtzeitigen Versand des Beschwerdeantrags hinreichend dargelegt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags müssen sowohl der Hinderungsgrund als auch die Umstände, die für die Beurteilung des Verschuldens maßgebend sind, innerhalb der Antragsfrist (hier innerhalb von zwei Wochen nach Zugang des gerichtlichen Hinweises vom 6. August 2019 am 7. August 2019, also spätestens bis 21. August 2019) dargelegt werden. Erforderlich ist eine substantiierte und schlüssige Darstellung der für die unverschuldete Fristversäumnis wesentlichen Tatsachen (vgl. BVerfG, B.v. 7.3.2017 – 2 BvR 162.16 – juris Rn. 26 m.w.N.). Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben kann und muss das Gericht allerdings auch nach Fristablauf aufklären (BGH, B.v. 21.10.2010 – IX ZB 73.10 – juris Rn. 21; B.v. 19.6.2013 – V ZB 226.12 – juris Rn. 9).
Nach Darstellung des Prozessbevollmächtigten vom 14. August 2019 hat seine Rechtsanwaltsfachangestellte S* … den Beschwerdeantrag am 22. Juli 2019 – zusammen in einem Kuvert mit dem Beschwerdeantrag in einer Parallelsache (beim Verwaltungsgerichtshof unter dem Az. 1 CS 19.1499 anhängig) „postfertig“ gemacht (Frankierung laut Postausgangsbuch um 16:38 Uhr) und noch vor 17:00 Uhr zu dem etwa zwei Gehminuten entfernten Briefkasten (Leerung 17:00 Uhr) gebracht.
Diese Einlassung ist auch hinreichend glaubhaft gemacht (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Eine Behauptung ist glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft. Damit ist kein Vollbeweis für die Behauptung zu erbringen. Ausreichend ist vielmehr, wenn bei umfassender Würdigung der Umstände des jeweiligen Falles mehr für als gegen die Richtigkeit der Behauptung spricht (BGH, B.v. 21.10.2010 – V ZB 210.09 – NJW-RR 2011, 136; B.v. 19.6.2013 – V ZB 226.12 – juris Rn. 12). Die Absendung eines fristwahrenden Schriftsatzes muss nicht zwingend durch einen postalischen Beleg (Einlieferungsschein) glaubhaft gemacht werden. Hierfür kann auch eine Versicherung des Absendenden an Eides Statt über die Umstände der Aufgabe zur Post genügen (BVerwG, B.v. 16.10.1995 – 7 B 163.95 – NJW 1996, 409; Schmidt in Eyermann, VwGO, § 60 Rn. 34).
Gemessen daran hat der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers den rechtzeitigen Versand des Beschwerdeantrags durch Aufgabe zur Post ausreichend glaubhaft gemacht. Die hierfür vorgetragenen Umstände, insbesondere auch der Einwurf in den Briefkasten, ergeben sich aus der von der nach Angaben des Prozessbevollmächtigten zuverlässigen und entsprechend instruierten Rechtsanwaltsfachangestellten S* … vorgelegten eidesstattlichen Versicherung vom 26. August 2019. Frau S* … war von dem Prozessbevollmächtigten mit dem Postausgang beauftragt. Angesichts des Umstands, dass für den Versand zwei volle Tage vor Ende der Frist zur Verfügung standen, kommt es nicht darauf an, ob die Sendung, die kurz vor dem auf dem Briefkasten angeführten Leerungszeitpunkt eingeworfen wurde, tatsächlich noch am 22. Juli 2019 von der Post entnommen wurde. Vorgelegt wurden des Weiteren Auszüge aus dem Postausgangsbuch sowie dem Fristenkontrollbuch. Trotz der Ungenauigkeit der Eintragung im Postausgangsbuch („Schriftsatz an das Bayer. Verwaltungsgericht, Akte 424-18) spricht nach Auffassung des Senats angesichts der Ausführungen der Rechtsanwaltsfachangestellten S* … in der eidesstattlichen Erklärung vom 23. August 2019, wonach sie beide Schriftsätze in ein Kuvert eingelegt habe, mehr für die Richtigkeit der behaupteten Aufgabe zur Post am 22. Juli 2019 als dagegen. Offenbar wird in dem Postausgangsbuch nicht präzise festgehalten, dass zwei Schriftsätze (also auch hinsichtlich der Akte 463-18) versandt werden. Jedoch spricht auch der vorgelegte Auszug aus dem digitalen Fristbuch für die fristgerechte Erledigung der Beschwerdeanträge. Im Übrigen ist die Ungenauigkeit der Eintragung im Postausgangsbuch angesichts der hinreichenden Glaubhaftmachung der Aufgabe der Beschwerdeanträge zur Post am 22. Juli 2019 unschädlich, ebenso wie der unterbliebene parallele Versand des Beschwerdeantrags vorab per Fax und die ebenfalls unterbliebene telefonische Nachfrage beim Verwaltungsgericht hinsichtlich des rechtzeitigen Eingangs auf dem Postweg. Hierbei handelt es sich aufgrund der Absendung drei Tage vor Fristablauf zwar um sinnvolle, aber überobligatorische Vorsichtsmaßnahmen, deren Unterlassen sich der Antragsteller nicht vorhalten lassen muss.
Allein kausal für die Fristversäumung war damit die Verzögerung der Zuleitung des rechtzeitig aufgegebenen Schriftsatzes durch die Post. Insoweit trifft den Bevollmächtigten des Antragstellers kein Verschulden, weshalb dem Antragsteller Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zu gewähren ist.
2. Die Beschwerde ist zulässig. Der Zulässigkeit der Beschwerde steht nicht entgegen, dass in dem Schreiben des Bevollmächtigten des Antragstellers vom 22. Juli 2019 das Aktenzeichen des ebenfalls beim Verwaltungsgericht anhängigen Hauptsacheverfahrens aufgeführt ist, nicht aber das Aktenzeichen des Eilverfahrens. Der Senat geht gemäß § 88 VwGO davon aus, dass der Antragsteller ausdrücklich Beschwerde gegen den Beschluss (des Verwaltungsgerichts) vom 4. Juli 2019 eingelegt hat und die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019 formgerecht innerhalb der offenen Frist des § 147 Abs. 1 VwGO erhoben wurde.
Die Beschwerde hat aber keinen Erfolg. Die von dem Antragsteller dargelegten Gründe, auf die die Prüfung im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers auf vorläufigen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt, da die Klage gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit sechs Wohnungen, Carport und Garagen unter Befreiung von der im Bebauungsplan „I* … …“ der Antragsgegnerin festgesetzten Baugrenzen, der GFZ, des Bauraums für Garagen, Carports und Stellplätze sowie der Dachneigung im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Die angefochtene Baugenehmigung vom 20. Februar 2018 verstößt, worauf es allein ankommt, nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, die zumindest auch dem Schutz des Antragstellers zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht eine mögliche Verletzung der Rechte des Antragstellers aufgrund eines Verstoßes gegen Abstandsflächenvorschriften verneint. Denn die mit Bescheid vom 20. Februar 2018 erlassene Baugenehmigung (vgl. BVerwG, U.v. 19.9.1969 – IV C 18.67 – NJW 1970, 263 zur Wirksamkeit der Baugenehmigung mit Bekanntgabe an den Bauherrn) wurde im vereinfachten Verfahren nach Art. 59 BayBO (i.d.F. bis 31.8.2018) erteilt. Die Feststellungswirkung der so erteilten Genehmigung ist auf die in Art. 59 Satz 1 BayBO (a.F.) genannten Kriterien beschränkt. Die Prüfung der Abstandsflächenvorschriften nach Art. 6 BayBO ist darin nicht vorgesehen; eine Abweichung (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) wurde weder beantragt noch erteilt. Die Einhaltung von Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO ist damit nicht Gegenstand der Feststellungswirkung der Baugenehmigung. Eine Verletzung von Nachbarrechten des Antragstellers durch die angefochtene Baugenehmigung wegen Nichteinhaltung von Abstandsflächen kommt deshalb nicht in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 11). Soweit der Antragsteller dagegen einwendet, dass die Einhaltung der Abstandsflächenvorschriften auch vor dem 1. September 2018 materielle Rechtslage gewesen sei und die Herausnahme der Prüfung der Abstandsflächen als reine Verfahrensvorschrift nicht von der Einhaltung des materiellen Rechts entbinde, übersieht er, dass es in der bis 31. August 2018 geltenden Fassung des Art. 59 Satz 1 BayBO aufgrund des vorgenannten Prüfumfangs der Bauaufsichtsbehörde möglich ist, ein Vorhaben trotz Widerspruchs zu bauordnungsrechtlichen Vorschriften, namentlich des Abstandsflächenrechts, allein planungsrechtlich zu genehmigen. Denn erst der ausdrückliche Antrag auf Erteilung einer Abweichung von bauordnungsrechtlichen Vorschriften begründet eine Verpflichtung der Behörde zur entsprechenden Prüfung. Vielmehr ist es allein Aufgabe und Pflicht des Bauherrn und der am Bau Beteiligten dafür zu sorgen, dass die nicht prüfpflichtigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die für das Vorhaben gelten, eingehalten werden (vgl. Wolf in Simon/Busse, BayBO, Stand April 2019, Art. 59 Rn. 28, 32). Weder ergibt sich die Notwendigkeit, eine Prüfung des gesamten materiellen Rechts zur Vermeidung einer Benachteiligung des betroffenen Nachbarn durchzuführen, noch führt die hier erfolgte Abstandsflächenübernahme betreffend die Abstandsfläche zum westlich an das Grundstück des Beigeladenen angrenzenden Grundstücks dazu, dass in diesem Zusammenhang eine behauptete Störung der städtebaulichen Struktur hinsichtlich des Maßes der Bebauung zu prüfen wäre. Davon abgesehen betrifft die Abstandsflächenübernahme einen Teil des Grundstücks des Beigeladenen, der den Antragsteller nicht tangiert.
Eine Prüfung der Abstandsflächen ist entgegen der Auffassung des Antragstellers auch nicht aufgrund der Festsetzung als örtliche Bauvorschrift nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO (a.F.) erforderlich. Der Bebauungsplan enthält keine Regelungen zu Abstandsflächen und hat nach der planerischen Konzeption auch die damals geltenden Abstandsflächen nicht in seinen Regelungswillen aufgenommen. Er verweist nur hinsichtlich der aufgenommenen gestalterischen Festsetzungen auf die Bayerische Bauordnung (vgl. Art. 107 BayBO 1962 als angegebene Rechtsgrundlage für den Erlass des Bebauungsplans sowie Festsetzung C 6). Der Einwand des Antragstellers, dabei handle es sich um eine statische Verweisung auf die BayBO 1962, insbesondere weil nach dem Willen der Antragsgegnerin, der auch in der Begründung des Bebauungsplans (Ziffer IV.c) zum Ausdruck komme, bezüglich der Abstandsflächen und der Definition des Vollgeschosses die BayBO 1962 gelten solle, trifft nicht zu. Denn nach Art. 107 Abs. 4 Satz 3 BayBO 1962 konnten zwar von dem Art. 6 Abs. 3 und 4 abweichende (größere oder geringere) Abstandsflächen festgesetzt werden, sofern ein ausreichender Brandschutz und eine ausreichende Belichtung und Belüftung gewährleistet waren. Von dieser Möglichkeit hat die Antragsgegnerin Gebrauch gemacht, indem sie (nur) für die ausdrücklich genannten Grundstücke, zu denen die Grundstücke des Antragstellers und des Beigeladenen nicht zählen, abweichende Abstandsflächen festgesetzt hat. Eine Befugnis, durch Bebauungsplan eine etwa gewollte „Festschreibung“ der geltenden gesetzlichen Abstandsflächenregelung gegenüber künftigen Gesetzesänderungen vorzunehmen, folgt daraus aber nicht (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.1991 – 2 CS 91.94 – BeckRS 1991, 09054). Auch ergibt sich aus der Begründung des Bebauungsplans, dass Regelungszweck nur war, die aufgrund der Bestandsbebauung notwendigen Ausnahmen von den Abstandsflächenvorschriften festzusetzen (vgl. Ziffer V der Begründung).
Soweit der Antragsteller zudem geltend macht, dass das Verwaltungsgericht übersehen habe, dass auch von der zulässigen Zahl der Vollgeschosse abgewichen worden sei, kommt es auf eine Befreiung hinsichtlich der Zahl der Vollgeschosse nicht an. Nach Auffassung des Antragstellers ist auch für die Definition des Vollgeschosses die Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntmachung des Bebauungsplans maßgeblich. Zwar ist umstritten, ob die Verweisung in § 18 BauNVO 1962 auf die landesrechtlichen Vorschriften als statische oder dynamische Verweisung zu verstehen ist (für eine statische Verweisung vgl. VGH BW, B.v. 27.1.1999 – 8 S 19/99 – NVwZ-RR 1999, 558; OVG Berlin, U.v. 28.1.2003 – 2 B 18.99 – BauR 2004, 823; für eine dynamische Verweisung HessVGH, B.v. 26.7.1984 – 4 TG 1669/84 – BauR 1985, 293; Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand Mai 2019, § 20 BauNVO Rn. 17 ff.). Auch wenn vorliegend viel für die Annahme einer dynamischen Verweisung spricht und die Überschreitung der Flächen im Dachgeschoss nach den unwidersprochenen Ausführungen des Antragsgegners (nur) 23 m² beträgt, kann der Nachbar bei Unterlassen einer notwendigen Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans jedenfalls auch nur die Berücksichtigung seiner nachbarlichen Interessen in entsprechender Anwendung von § 31 Abs. 2 BauGB verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 14.87 – BVerwGE 82, 343).
Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Antragsteller aufgrund der dem Beigeladenen erteilten Befreiungen (§ 31 Abs. 2 BauGB) in subjektiven Rechten verletzt wird. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – BauR 2013, 2011). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – NVwZ-RR 1999, 8). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verletzt die Befreiung mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Rechte des Antragstellers.
Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und zu den überbaubaren Grundstücksflächen (§ 23 BauNVO) sind grundsätzlich nicht drittschützend (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 18.12.2017 – 9 CS 17.345 – juris Rn. 16 m.w.N.). Ein vom Planungswillen der Gemeinde abhängiger ausnahmsweiser Drittschutz aus den Festsetzungen des Bebauungsplans (vgl. BVerwG, B.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 15.2.2019 – 9 CS 18.361 – juris Rn. 20) wird durch die Behauptung des Antragstellers, bei richtigem Verständnis der vielfältigen Festsetzungen zum Maß der Bebauung, die sich nahtlos mit den damals geltenden Abstandsflächenregelungen verbinden ließen, könne nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass nach dem städtebaulichen Willen der Gemeinde dadurch auch die Art des Wohngebiets (als Kleinsiedlungsgebiet) bestimmt werden sollte, nicht dargelegt. Nach der Begründung des Bebauungsplans handelt es sich um ein im Wesentlichen bebautes Siedlungsgebiet. Ausweislich der Zielsetzung des Bebauungsplans, eine beabsichtigte Intensivierung der Bebauung, sind die Maßfestsetzungen nicht von wesentlicher Bedeutung für den vom Plangeber konzipierten Charakter des Allgemeinen Wohngebiets. Die Festsetzungen stehen daher nach dessen Konzeption nicht in einem wechselseitigen Austauschverhältnis, sodass ihnen nach ihrem objektiven Gehalt keine Schutzfunktion zugunsten der an dem Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümer zukommt (vgl. BVerwG, B.v. 9.8.2018 a.a.O. unter Hinweis auf BVerwG, U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364). Soweit die Begründung zum Erhalt eines Kleinsiedlungsgebiets ausführt, dürfte dies angesichts der maßgeblichen Zielsetzung der Intensivierung der vorhandenen Bebauung dem Umstand geschuldet sein, dass auch zu diesem Zeitpunkt nur noch ein verhältnismäßig kleiner Teil der Bevölkerung an größeren Grundstücken mit Gartenanteil interessiert gewesen ist (s. Seite 5 der Begründung). Unschädlich ist auch, dass die Verhinderung einer zu dichten Bebauung durch zusätzliche Festsetzungen (zur Bebauung mit Wohnblöcken mit E +2 als höchste Bebauung in diesem Gebiet) in den Blick genommen wurde. Aus diesem Grund kann dahinstehen, ob das Verwaltungsgericht einen Abwehranspruch ablehnen konnte, weil für das Grundstück kein Baurecht vorgesehen ist. Denn für planerische Gebietsfestsetzungen sind Wechselbezüglichkeit der Interessen und ein darauf abgeleitetes Austauschverhältnis seit längerem anerkannt (vgl. BVerwG, U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364 m.w.N.).
Ungeachtet der Frage einer ausreichenden Darlegung kann dahinstehen, ob eine Berufung des Antragstellers auf die Maßfestsetzung bei Annahme eines drittschützenden Charakters aufgrund rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nach § 242 BGB in entsprechender Anwendung ausscheidet.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, weil sein Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass der Beigelade seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt, weil er sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1‚ § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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