Aktenzeichen B 4 K 15.41
BGS-EWS (Mustersatzung Bayern) § 2, § 3
BGB BGB § 917, § 918 Abs. 2 S. 1
Leitsatz
Ein Grundstück ist durch eine Entwässerungseinrichtung in der Regel dann erschlossen, wenn es an einer öffentlichen Verkehrsfläche liegt, in der ein zur Einrichtung gehörender Kanal verläuft. Es ist weiterhin dann erschlossen, wenn ein solcher Kanal bis an die Grundstücksgrenze herangeführt ist. Handelt es sich um ein Hinterliegergrundstück, muss dazu die Möglichkeit bestehen, nach Durchquerung eines Zwischengrundstücks einen Anschluss herzustellen, und diese rechtlich und tatsächlich auf Dauer gesichert sein (wie BAyVGH , VGH n. F. 50, 146/147 = GK 1998 Nr. 44). (redaktioneller Leitsatz)
Ein dinglich gesichertes Leitungsführungsrecht ist dann nicht erforderlich, wenn ein Notleitungsrecht zugunsten des Hinterliegergrundstücks besteht. Wurde infolge der Veräußerung eines Teils des Grundstücks der veräußerte oder der zurückbehaltene Teil von der Verbindung mit dem öffentlichen Wege abgeschnitten, muss der Eigentümer desjenigen Teils, über welchen die Verbindung bisher stattgefunden hat, gem. § 918 Abs. 2 S. 1 BGB ein Notleitungsrecht dulden. (redaktioneller Leitsatz)
War ein Hinterliegergrundstück zu keinem Zeitpunkt Teil eines mit dem öffentlichen Weg verbundenen (Gesamt-) Grundstücks, ist es nur möglich, ein Notleitungsrecht gem. § 917 Abs. 1 S. 1 BGB zu begründen. (redaktioneller Leitsatz)
Inhalt eines Notwegerechts nach § 917 BGB kann auch die Befugnis sein, Abwässer eines Grundstücks über ein anderes, fremdes Grundstück der öffentlichen Kanalisation zuzuführen (wie BGH, NJW 1981, 1036). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Der Bescheid des Beklagten vom 13. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamts F. vom 17. Dezember 2014 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
Die zulässige Klage ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO begründet, weil der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 13.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landratsamtes F. vom 17.12.2014 rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist.
Gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KAG können die Gemeinden aufgrund einer besonderen Abgabesatzung, welche die Schuldner, den die Abgabe begründenden Tatbestand, den Maßstab, den Satz der Abgabe sowie die Entstehung und die Fälligkeit der Abgabeschuld bestimmen muss, zur Deckung des Aufwands für die Herstellung ihrer öffentlichen Einrichtungen (Investitionsaufwand) Beiträge von den Grundstückseigentümern erheben, denen die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser Einrichtungen besondere Vorteile bietet.
Auf dieser Grundlage erhebt der Beklagte gemäß § 1 seiner Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung vom 17.12.2008 in der seit 01.01.2013 geltenden Fassung (BGS-EWS) zur Deckung seines Aufwandes für die Herstellung der Entwässerungseinrichtung einen Beitrag. Gemäß § 2 Nr. 1 BGS-EWS wird der Beitrag unter anderem für bebaute Grundstücke erhoben, wenn für sie nach § 4 der Satzung für die öffentliche Entwässerungseinrichtung des Beklagten (Entwässerungssatzung – EWS) ein Recht zum Anschluss an die Entwässerungseinrichtung besteht.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 der EWS vom 04.06.2004 kann jeder Grundstückseigentümer verlangen, dass sein Grundstück nach Maßgabe dieser Satzung an die Entwässerungseinrichtung angeschlossen wird, wobei sich das Anschlussrecht gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 EWS nur auf solche Grundstücke erstreckt, die durch einen Kanal erschlossen sind.
Ein Grundstück ist durch eine Entwässerungseinrichtung in der Regel dann erschlossen, wenn es an einer öffentlichen Verkehrsfläche liegt, in der ein zur Einrichtung gehörender Kanal verläuft. Es ist weiterhin dann erschlossen, wenn ein solcher Kanal bis an die Grundstücksgrenze herangeführt ist. Handelt es sich um ein Hinterliegergrundstück, muss dazu die Möglichkeit bestehen, nach Durchquerung eines Zwischengrundstücks einen Anschluss herzustellen, und diese rechtlich und tatsächlich auf Dauer gesichert sein (BayVGH, U. v. 24.07.1997 – 23 B 95.3277 – VGH n. F. 50, 146/147 = GK 1998 Nr. 44; st. Rspr.). Dies setzt voraus, dass zulasten des Vorderliegergrundstücks und zugunsten des Hinterliegergrundstücks entsprechende Grunddienstbarkeiten bestellt sind (BayVGH, B. v. 12.05.1999 – 23 ZS 99.1327 – juris Rn. 2).
Ein dinglich gesichertes Leitungsführungsrecht ist allerdings dann nicht erforderlich, wenn ein Notleitungsrecht zugunsten des Hinterliegergrundstücks besteht. Wurde infolge der Veräußerung eines Teils des Grundstücks der veräußerte oder der zurückbehaltene Teil von der Verbindung mit dem öffentlichen Wege abgeschnitten, sieht § 918 Abs. 2 Satz 1 BGB vor, dass der Eigentümer desjenigen Teils, über welchen die Verbindung bisher stattgefunden hat, kraft Gesetzes ein Notleitungsrecht zu dulden hat.
War das Hinterliegergrundstück dagegen zu keinem Zeitpunkt Teil eines mit dem öffentlichen Weg verbundenen (Gesamt-) Grundstücks, ist es nur möglich, ein Notleitungsrecht gemäß § 917 Abs. 1 Satz 1 BGB zu begründen. Danach kann der Eigentümer eines Grundstücks, dem die zur ordnungsgemäßen Benutzung notwendige Verbindung mit einem öffentlichen Weg fehlt, von den Nachbarn verlangen, dass sie bis zur Behebung des Mangels die Benutzung ihrer Grundstücke zur Herstellung der erforderlichen Verbindung dulden. Inhalt eines Notwegerechts nach § 917 BGB kann auch die Befugnis sein, Abwässer eines Grundstücks über ein anderes, fremdes Grundstück der öffentlichen Kanalisation zuzuführen (BGH, U. v. 30.01.1981 – V ZR 6/80 – NJW 1981,1036/1037). Anders als ein Notleitungsrecht nach § 918 Abs. 2 Satz 1 BGB entsteht eine Benutzungsduldung gemäß § 917 BGB erst, wenn sie durch den Berechtigten gegenüber dem Pflichtigen verlangt wurde und erforderlichenfalls bei Scheitern einer Einigung zwischen den Nachbarn gerichtlich festgestellt wurde (BGH, U. v. 19.04.1985 – V ZR 152/83 – BHGZ 94, 160/162f. = NJW 1985, 1952/1952). Ohne vorherige Gestattung des unmittelbaren Besitzers des Verbindungsgrundstücks oder gerichtliche Feststellung darf das Notleitungsrecht nicht ausgeübt werden (Bassenge in Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 917 Rn. 12). Eine eventuelle Möglichkeit der Begründung eines Notwegerechts ist deshalb nicht geeignet, bereits eine ausreichende Sicherung der Erschließung anzunehmen (BayVGH, B. v. 27.06.2000 – 23 ZB 00.1626 – juris Rn. 13).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist das Grundstück des Klägers derzeit nicht erschlossen. Denn als Hinterliegergrundstück liegt es weder an der Ortstraße an, in der der Abwasserkanal des Beklagten verläuft noch ist der Kanal bis an die Grundstücksgrenze herangeführt.
Das klägerische Hinterliegergrundstück verfügt auch nicht über einen rechtlich gesicherten Anschluss über die Verbindungsgrundstücke zur Ortstraße. Zwar ist es tatsächlich möglich, nach Durchquerung der Zwischengrundstücke Flnrn. 685 und 691 einen Anschluss zu schaffen. Diese Möglichkeit ist jedoch rechtlich nicht auf Dauer gesichert. Denn die in Gütergemeinschaft lebenden Eheleute P. haben sich bislang nicht bereit erklärt, zulasten der ihnen als Gesamthandseigentümer gehörenden Vorderliegergrundstücke und zugunsten des klägerischen Grundstücks Grunddienstbarkeiten zu bestellen, die ein entsprechendes Leitungsführungsrecht beinhalten. Technisch nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint es daneben auch, den Anschluss über das Grundstück Flnr. 685 der Eheleute P. und das Grundstück Flnr. 692, das im Eigentum von Frau I. steht, zu führen. Frau I. hat jedoch bislang ebenfalls keine Grunddienstbarkeit zugunsten des klägerischen Grundstücks bestellt. Schließlich haben die Eheleute P. auch zugunsten des Beklagten keine Grunddienstbarkeit zur Einlegung eines Schmutzwasserkanals bestellt.
Auch ein Notleitungsrecht kann der Kläger nicht ausüben. Ein Notleitungsrecht kraft Gesetzes gemäß § 918 Abs. 2 Satz 1 BGB besteht nicht. Denn das klägerische Grundstück war zu keinem Zeitpunkt Teil eines gemeinsamen, aus den jetzigen Flnrn. 685, 691 und 689 bzw. Flnrn. 685, 692 und 689 bestehenden Grundstücks, das durch Veräußerung von der Verbindung mit der Ortsstraße abgeschlossen worden wäre. Auf ein Notleitungsrecht gemäß § 917 Abs. 1 Satz 1 BGB haben sich der Kläger und die Eigentümer der Nachbargrundstücke nicht geeinigt. Denn die Gesamthandseigentümer der Verbindungsgrundstücke Flnrn. 685 und 691 und die Eigentümerin des Grundstücks Flnr. 692 haben es gegenüber dem Kläger mündlich abgelehnt, die Benutzung ihrer Vorderliegergrundstücke zu dulden. Deshalb ist es zur Begründung eines Notleitungsrechts unumgänglich erforderlich, dass der Kläger beim Zivilgericht eine Klage auf Duldung der Benutzung der Grundstücke erhebt.
Da das klägerische Grundstück gegenwärtig nicht erschlossen und damit der Beitragstatbestand nicht verwirklicht ist, ist die Beitragsschuld gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 BGS-EWS mangels einer für den Kläger positiven zivilgerichtlichen Entscheidung über ein Notleitungsrecht zum klägerischen Grundstück nicht entstanden. Damit war der Klage in vollem Umfang stattzugeben.
Als unterliegender Teil trägt der Beklagte gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig erklärt. Denn dem Kläger war es nach seinen persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache auf dem Gebiet des Kommunalabgabenrechts nicht zuzumuten, das Vorverfahren selbst zu führen (BayVGH, B. v. 29.04.2016 – 5 C 16.574 – juris Rn. 7). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 ZPO.