Baurecht

Erlöschen der Baugenehmigung infolge Nichtausführung bei rechtlich selbständigen Anlagen

Aktenzeichen  M 11 E1 15.2323

Datum:
2.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 123
BayBO BayBO Art. 58, Art. 69 Abs. 1, Art. 75 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Bei rechtlich selbstständigen baulichen Anlagen tritt ein Erlöschen der Baugenehmigung für die nicht rechtzeitig begonnenen baulichen Anlagen ein. Dies gilt aber nur, wenn und weil es sich insofern rechtlich um selbstständige Baugenehmigungen handelt. Anderes gilt, wenn eine Konstellation vorliegt, bei der das nichtbegonnene Bauwerk rechtlich und wirtschaftlich mit dem ausgeführten oder begonnenen Gebäude ein einheitliches Bauvorhaben darstellt. In solchen Fällen ist nach Fertigstellung der „Hauptanlage“ ( zum Beispiel ein Wohnhaus) die nicht rechtzeitige Fertigstellung eines unselbstständigen Bauteils (zum Beispiel die Garage) unschädlich. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III.
Der Streitwert wird auf 2.500,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes um die Verpflichtung des Antragsgegners, gegen das Vorhaben des Beigeladenen auf dem Grundstück Fl.Nr. … der Gemarkung …, in Form einer Baueinstellungsverfügung bauaufsichtlich einzuschreiten.
Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks Fl.Nr. … der Gemarkung …. Das Grundstück ist mit einem Einfamilienhaus samt einem Anbau im Westen bebaut. Der Beigeladene ist Eigentümer des südlich des Grundstücks der Antragstellerin gelegenen Grundstücks Fl.Nr. …. Das Grundstück des Beigeladenen ist mit einem Doppelhaus bebaut. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans der Antragsgegnerin Nr. … (Gebiet zwischen …-, …-, …- und … Straße).
Das damals noch anstatt der Antragsgegnerin zuständige Landratsamt … erteilte mit Bescheid vom 16. September 2004 eine Baugenehmigung für die Errichtung eines „Doppelhauses“ auf dem damals noch ungeteilten Grundstück Fl.Nr. …. Beide Doppelhaushälften sind mit einer Wandhöhe von 9,50 m genehmigt, der in Richtung Nord-Süd geplante First des um 35° geneigten Satteldaches ist 12,49 m hoch. Die nördliche Wand der nördlichen Doppelhaushälfte, i.e. die mittlerweile im Eigentum des Beigeladenen stehende Doppelhaushälfte auf der nunmehr nach Grundstücksteilung nur noch mit dieser Doppelhaushälfte bestandenen Fl.Nr. …, steht unmittelbar an der Grenze zum Grundstück der Antragstellerin. Von der Baugenehmigung mit Bescheid vom 16. September 2004 mitumfasst ist ein auf der Rückseite des Gebäudes, das heißt auf der westlichen Seite, ohne seitlichen Grenzabstand situierter Balkon im 1. Obergeschoss. Der Balkon ist in einer Höhe von 2,95 m und 3 m tief genehmigt. Er ist von Stützen getragen und nimmt nahezu die gesamte Gebäudebreite ein. In den Bauvorlagen ist er als „Holzdeck“ bezeichnet.
Die Antragstellerin erhob gegen die mit Bescheid vom 16. September 2004 erteilte Baugenehmigung Klage, welche mit Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 24. Mai 2007 abgewiesen wurde (M 11 K 06.1079).
Die Antragstellerin beantragte hiergegen die Zulassung der Berufung.
Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Mai 2009 (1 ZB 07.1960) wurde die Berufung hinsichtlich der Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung für das (nördliche) Gebäude auf dem Grundstück Fl.Nr. … zugelassen.
In diesem Beschluss ist auf S. 5 erster Absatz von oben des Entscheidungsabdrucks ausgeführt:
„Es spricht vieles dafür, dass die Baugenehmigung wegen des auf der Rückseite des Gebäudes ohne seitlichen Grenzabstand geplanten Balkons gegen die Rechte der Kläger schützende Vorschrift des § 22 Abs. 3 BauNVO verstößt. Der Berücksichtigung dieser Bedenken steht nicht entgegen, dass sich die Klägerin erstmals im Zulassungsverfahren ausdrücklich darauf beruft, auch durch den Balkon in ihren Rechten verletzt zu sein (vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 12. Aufl., § 124 Rn. 20).“
Im Übrigen wird auf den Beschluss Bezug genommen.
Das als Berufungsverfahren unter dem Az. 1 B 09.1204 weitergeführte Verfahren wurde vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 27. Juli 2009 eingestellt, weil die Antragstellerin die Berufung mit Schriftsatz vom 23. Juli 2009 zurückgenommen hatte.
Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 15. Juli 2014 wandte sich die Antragstellerin an die nunmehr zuständige Antragsgegnerin. Es werde beantragt, eine Baueinstellung zu erlassen, da der Beigeladene dabei sei, das Bauwerk ohne gültige Baugenehmigung fertigzustellen. Das Bauwerk sei im Wesentlichen fertiggestellt. Es fehle allerdings noch der Balkon, der zu einer unzulässigen Beeinträchtigung des Grundstücks der Antragstellerin führe.
Im Übrigen wird auf das Schreiben, das sich bei den Gerichtsakten befindet, Bezug genommen.
Unter dem 20. April 2015 reichte der Beigeladene einen Antrag im Genehmigungsfreistellungsverfahren zur Errichtung eines Balkons auf vorhandener Ständerkonstruktion mit Gartenzugang über Treppe bei der Antragsgegnerin en.
Mit Schreiben der Antragsgegnerin vom 6. Mai 2015 wurde dem Beigeladenen mitgeteilt, dass kein Genehmigungsverfahren durchgeführt wird.
Mit Schreiben der Antragsgegnerin vom selben Tag wurde der Antragstellerin eine Kopie der Freistellungserklärung übersandt.
Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 20. Mai 2015 wandte sich die Antragstellerin erneut an die Antragsgegnerin und teilte mit, dass die Freistellungserklärung für rechtswidrig gehalten und die Antragsgegnerin daher aufgefordert werde, unter Setzung eines Termins zu erklären, dass die Freistellungserklärung zurückgenommen würde, der beabsichtigte Bau der Balkone untersagt und über den Antrag des Beigeladenen in einem ordnungsgemäßen Baugenehmigungsverfahren entschieden würde.
Im Übrigen wird auf das Schreiben Bezug genommen.
Mit Schreiben der Antragsgegnerin vom 1. Juni 2015 an den Bevollmächtigten der Antragstellerin wurde mitgeteilt, dass die Freistellungserklärung nicht zurückgenommen werde.
Im Übrigen wird auf das Schreiben Bezug genommen.
Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 5. Juni 2015, beim Verwaltungsgericht München eingegangen am selben Tag, ließ die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stellen und beantragte,
die Antragsgegnerin anzuweisen, per Ordnungsverfügung jegliche Bauarbeiten auf dem Grundstück Fl.Nr. …, Gemarkung …, einzustellen.
Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt:
Nach dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Mai 2009, mit dem die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München zugelassen wurde, habe es der damalige Bevollmächtigte der Antragstellerin versäumt, die Berufung zu begründen. In der Folgezeit sei jedoch ein Stillstand bei der Errichtung des Bauwerks eingetreten. Mit der Fertigstellung sei erst Anfang 2014 fortgefahren worden. Die Auffassung der Antragsgegnerin, dass es sich bei dem Antrag auf Errichtung eines Balkons um einen neuen Antrag handele, sei falsch. Ein einmal genehmigungsbedürftiges und genehmigtes Bauvorhaben bleibe auch bei Änderungen – die vorgenommen würden – baugenehmigungsbedürftig. Darüber hinaus habe die Antragsgegnerin übersehen, dass die Fertigstellung ab 2014 ohne Genehmigung erfolgt sei. Der Beigeladene hätte also für das gesamte Bauvorhaben eine neue Genehmigung mit dem Balkon beantragen müssen. Der Balkon habe eine völlig erdrückende Wirkung. Er verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
Die Antragsgegnerin erwiderte hierauf mit Schreiben vom 25. Juni 2015 und beantragte
Antragsablehnung.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt:
Die damals für die Rechtsvorgängerin des Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 16. September 2004 für den Neubau einer Doppelhaushälfte mit Doppelgarage sei abgelaufen. Der Bau der Doppelhaushälfte sei abgeschlossen worden, das heißt Rohbau mit Dach seien hergestellt gewesen. Nur der Balkon – welcher Bestandteil der Genehmigung sei – sei nicht erstellt worden. Bisher habe der Beigeladene nur verfahrensfreie Vorhaben durchgeführt (z. B. Innenausbau, Verputzen etc.). Bei dem Antrag auf Errichtung eines Balkons handele es sich um einen neuen Antrag, welcher gesondert zu prüfen sei. Da der Beigeladene nach Angaben seines Planverfassers mit der Errichtung dieses Balkons alle Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. … „Gebiet zwischen …-, …-, …- und … Straße“ einhalte, sei das Freistellungsverfahren anwendbar. Der im Freistellungsverfahren eingereichte Balkon werde im Übrigen kleiner und verträglicher ausgeführt als der vom Landratsamt genehmigte Balkon. Zum Schutz der Privatsphäre der Antragstellerin werde ein Sichtschutz erstellt. Eine „erdrückende“ Wirkung sei nicht erkennbar. Der Bebauungsplan setze eine geschlossene Bauweise fest. Die Antragstellerin verfüge in ihrem Anwesen über genügend Fenster nach Osten, die eine ausreichende Besonnung und Belichtung gewährleisteten. Ein Baueinstand sei deshalb nicht angezeigt.
Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 16. Juli 2015 schloss sich der Beigeladene den Anträgen der Antragsgegnerin an.
Zur Begründung wird ergänzend ausgeführt:
Den Vorgaben des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Beschluss vom 19. Mai 2009 werde Genüge getan. Denn der Beigeladene werde die Beplankung des Holzdecks um 147 cm von der gemeinsamen Grundstückgrenze rückspringend ausführen und er werde zur gemeinsamen Grundstücksgrenze hin zudem eine in der Tiefe 184 cm messende lichtdurchlässige, aber blickdichte mannshohe Sichtschutzwand herstellen. Das Ansinnen der Antragstellerin verstoße gegen den auch im öffentlichen Recht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben. Die Berufung auf die Verletzung von Abstandsflächen sei dementsprechend nicht möglich, solange der Rechtsuchende selbst Abstandsflächen nicht einhalte. In ähnlicher Weise widersprüchlich verhalte sich die Antragstellerin, wenn sie eine planwidrige Situation perpetuiere und verfestige, zugleich aber vom benachbarten Bauwerber verlange, dieser möge hinter den Möglichkeiten zurückbleiben, die ihm sein Baurecht aufgrund eines Bebauungsplanes, den der Bayerische Verwaltungsgerichtshof für wirksam gehalten habe, einräume. Durch die vom Beigeladenen vorgenommenen Veränderungen sei die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof monierte Situation, wonach ungeschützt und von erhöhter Warte Einsicht in das Grundstück der Antragstellerin möglich gewesen wäre, nicht mehr gegeben. Im Gegenteil sei damit die bei Hausgruppen und Doppelhäusern übliche Situation hergestellt, nämlich eine physische Trennung des Holzdecks vom Grundstück der Antragstellerin im Hinblick auf Einsichtnahmemöglichkeiten. Das Abrücken der Beplankung von der gemeinsamen Grundstücksgrenze führe zudem dazu, dass eine weitere Entkoppelung der Nutzungsmöglichkeiten des Holzdecks vom benachbarten Grundstück stattfinde. Mehr könne die Antragstellerin bei der angeordneten geschlossenen Bauweise nicht fordern. Dass die ursprünglich beabsichtigte Stahl-Ständer-Konstruktion für das Holzdeck stehen bleibe, gereiche der Antragstellerin nicht zum Nachteil, denn von der Konstruktion gingen für ihr Grundstück keine negativen Auswirkungen aus. Umgekehrt eröffne die Konstruktion dem Beigeladenen in der Zukunft die Option, das Deck im Rahmen der angeordneten geschlossenen Bauweise zu erweitern, wenn künftig auch auf dem Grundstück der Antragstellerin geschlossen angebaut werden sollte.
Mit Schreiben der Antragsgegnerin vom 20. Juli 2015 wurden auf entsprechende Aufforderungen des Gerichts die Behördenakten sowie der einschlägige Bebauungsplan vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- sowie die vorgelegten Behördenakten samt Bauvorlagen Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Der Antrag ist zulässig. Der Antrag auf einstweiligen Rechtschutz nach § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist insbesondere statthaft. Die Antragstellerin verfolgt mit dem Antrag die (vorläufige) Verpflichtung der Antragsgegnerin, die beantragte Baueinstellung gegen den Beigeladenen zu verfügen. In der Hauptsache würde es sich dabei um die Situation einer Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Fall 2 VwGO) handeln. Wegen § 123 Abs. 5 VwGO ist der entsprechende einstweilige Rechtschutz im Verfahren nach § 123 VwGO der richtige. Dem Antrag fehlt zudem auch nicht das erforderliche Rechtschutzbedürfnis. Die Antragstellerin hat durch ihren Bevollmächtigten einen erfolglosen Antrag auf Baueinstellung bei der Antragsgegnerin gestellt.
Der Antrag ist jedoch unbegründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht – auch schon vor Klageerhebung in der Hauptsache – eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung – um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen – nötig erscheint. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind dabei glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung – ZPO).
Ein Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht.
Ein Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten der Antragsgegnerin – genauer und dem konkret gestellten Antrag entsprechend auf vorläufige Einstellung der Baumaßnahmen auf dem Grundstück des Beigeladenen – kann sich aus Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Bayerische Bauordnung (BayBO) ergeben. Nach dieser Vorschrift kann die Bauaufsichtsbehörde die Einstellung der Bauarbeiten anordnen, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet, geändert oder beseitigt werden. Ein Anordnungsanspruch eines Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten setzt voraus, dass das Vorhaben gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt. Außerdem ist auf der Rechtsfolgenseite Voraussetzung, dass das behördliche Ermessen ausnahmsweise auf Null reduziert ist, denn grundsätzlich hat der Nachbar nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hinsichtlich des Einschreitens. Hier ist jedoch konkret nicht beantragt, (erneut) ermessensfehlerfrei über die Frage des Einschreitens zu entscheiden, sondern es ist ausdrücklich beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, eine Baueinstellung zu verfügen.
Ob es bereits an den Tatbestandsvoraussetzungen für den Erlass einer Baueinstellung gemäß Art. 75 Abs. 1 BayBO fehlt, kann offenbleiben. Das wäre dann der Fall, wenn der Balkon bzw. das „Holzdeck“ in der ursprünglichen Baugenehmigung vom 16. September 2004 mitgenehmigt und diese Baugenehmigung zwischenzeitlich nicht erloschen wäre (nachfolgend unter 1.). Denn jedenfalls fehlt es unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände an einer Ermessensreduzierung auf Null, so dass ein bauaufsichtliches Einschreiten in Form einer Baueinstellung nicht beansprucht werden kann (nachfolgend unter 2.).
1. Tatbestandlich liegt jedenfalls dann kein Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften vor, wenn ein Vorhaben bauaufsichtlich genehmigt ist, so genannte „formelle Legalität“.
Die nur noch streitgegenständliche Anlage des Balkons bzw. „Holzdecks“ wurde als Teil der mittlerweile bestandskräftigen Baugenehmigung vom 16. September 2004 genehmigt.
Dass der Balkon bzw. das „Holzdeck“ ursprünglich in den mit Bescheid vom 16. September 2004 genehmigten Bauvorlagen enthalten war und damit mit zum Inhalt des genehmigten Vorhabens gehört, ergibt sich aus den Akten und ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
Diese Baugenehmigung ist mittlerweile bestandskräftig. Mit der Einstellung des Berufungsverfahrens (1 B 09.1204) wegen der Rücknahme der Berufung mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 27. Juli 2009 ist das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 24. Mai 2007 (M 11 K 06.1079) rechtskräftig geworden. Die Berufungszulassungsentscheidung (BayVGH, B. v. 19.05.2009 – 1 ZB 07.1960 -) ändert hieran wegen des Nichtergehens einer Berufungsentscheidung aufgrund deren Rücknahme nach allgemeiner Meinung nichts. Mit der Rechtskraft des klageabweisenden Urteils des Verwaltungsgerichts München ist die Baugenehmigung vom 16. September 2004 bestandskräftig geworden.
Damit ist zunächst als Teil der Baugenehmigung auch die Errichtung des Balkons – in der Ausführung wie genehmigt – von dieser Baugenehmigung gedeckt und damit erlaubt. Wegen der Bestandskraft der Baugenehmigung kann die Antragstellerin hiergegen auch nicht mehr vorgehen.
Die Frage, ob der Umstand, dass der Balkon nicht bereits im zeitlichen Anschluss an das Bestandskräftigwerden der Baugenehmigung errichtet wurde, sondern vielmehr erst jetzt errichtet wird, hieran etwas ändert, lässt das Gericht offen.
In Betracht kommt insoweit ein Erlöschen der Baugenehmigung auf der Grundlage des Art. 69 Abs. 1 Halbsatz 1 BayBO.
Art. 69 Abs. 1 BayBO sieht vor, dass die Baugenehmigung erlischt, wenn innerhalb von vier Jahren nach ihrer Erteilung mit der Ausführung des Bauvorhabens nicht begonnen oder die Bauausführung vier Jahre unterbrochen worden ist; die Einlegung eines Rechtsbehelfs hemmt den Lauf der Frist bis zur Unanfechtbarkeit der Genehmigung.
Zwar ist mit der Ausführung des mit dieser Baugenehmigung genehmigten Vorhabens nach Aktenlage eindeutig und wohl auch unter den Beteiligten unstreitig innerhalb der gesetzlichen Frist begonnen worden. Aus den Feststellungen im Augenscheinstermin am 24. Mai 2007 (M 11 K 06.1079; vgl. Niederschrift über den Augenschein, S. 3 erster Absatz von oben, im beigezogenen Gerichtsakt des Verfahrens M 11 K 06.1079 auf Bl. 186), ergibt sich, dass im damaligen Zeitpunkt das Gebäude des jetzigen Beigeladenen im Rohbau fertiggestellt war, lediglich Isolierung und Verputz zum Grundstück der Antragstellerin noch nicht aufgebracht waren. Dass zu diesem Zeitpunkt der nun nur noch streitgegenständliche Balkon allerdings noch nicht errichtet war, folgt ebenfalls aus der genannten Niederschrift (vgl. ebenfalls Bl. 186 der beigezogenen Gerichtsakte des Verfahrens M 11 K 06.1079 am Ende des 3. Absatzes von oben: „Der im Westen des Neubaus vorgesehene Balkon ist zum Zeitpunkt des Augenscheins noch nicht errichtet.“).
Wenn der Balkon im Vergleich zum mit der Baugenehmigung vom 16. September 2004 genehmigten Vorhaben ein unselbstständiger Teil ist, kommt ein Erlöschen der Baugenehmigung nicht in Betracht.
Zwar gilt für rechtlich selbstständige bauliche Anlagen, dass ein Erlöschen für die nicht rechtzeitig begonnenen baulichen Anlagen eintritt (vgl. Decker in: Simon/Busse, BayBO, Art. 69 Rn. 48). Dies gilt aber nur wenn und weil es sich insofern rechtlich um selbstständige Baugenehmigungen handelt. Vorhaben im Sinne des Art. 69 Abs. 1 BayBO ist die einzelne bauliche Anlage, nicht aber ein zusammengefasstes Gesamtvorhaben, für das eine Baugenehmigung erteilt ist. Dies gilt beispielsweise in Fällen, in denen eine Baugenehmigung für mehrere Reihen- oder Doppelhäuser erteilt wird. In diesen Fällen erlischt eine Baugenehmigung gleichsam teilweise, wenn zwar ein Reihen- oder Doppelhaus errichtet wird, ein anderes jedoch nicht innerhalb der Vier-Jahres-Frist.
Anderes würde gelten, wenn eine Konstellation vorliegt, bei der das nichtbegonnene Bauwerk rechtlich und wirtschaftlich mit dem ausgeführten oder begonnenen Gebäude ein einheitliches Bauvorhaben darstellt. In in Rechtsprechung und Kommentarliteratur wird soweit ersichtlich einhellig vertreten, dass in solchen Fällen nach Fertigstellung der „Hauptanlage“ die nicht rechtzeitige Fertigstellung eines unselbstständigen Bauteils unschädlich ist (vgl. Decker in: Simon/Busse, BayBO (Stand: Mai 2015), Art. 69 Rn. 49 m. w. N.; Hornmann, HBO, 2. Auflage 2011, § 64 Rn. 135 u. 148 für § 64 der Hessischen Bauordnung, der mit Art. 69 BayBO übereinstimmt; Schwarzer/König, BayBO, 4. Auflage 2012, Art. 69 Rn. 8; Koch/Molodovsky/Famers, BayBO (Stand: September 2007), Art. 77 unter 3.4 für die Vorgängervorschrift des jetzigen Art. 69 in der BayBO 1998; Busse, Die neue Bayerische Bauordnung, 1. Auflage, Art. 84 Rn. 2 für die Vorgängervorschrift des jetzigen Art. 69 in der BayBO 1994; BayVGH, U. v. 26.04.1990 – 2 B 88.1263 -, BayVBl 1991, 567 = BauR 1991, 195). Als Beispiel für diese Wirkungsweise wird etwa die Genehmigung eines Wohnhauses (= die „Hauptsache“) einschließlich Garage (= das „unselbstständige Bauwerk“) genannt. Wird in einem solchen Fall beispielsweise das Wohngebäude errichtet, verstreichen aber anschließend vier Jahre, ohne dass die dazugehörige Garage erstellt wird, so ist zwar die Bauausführung vier Jahre unterbrochen, aber die Baugenehmigung für die Garage soll trotzdem nicht nach Art. 69 Abs. 1 BayBO erloschen sein. Die Baugenehmigung für ein einheitliches Gesamtvorhaben erlischt nach dieser Auffassung nicht, wenn innerhalb ihrer Geltungsdauer nur ein Haupt-, aber nicht ein Nebengebäude fertiggestellt wird (BayVGH, U. v. 26.04.1990 – 2 B 88.1263 -, BayVBl 1991, 567 = BauR 1991, 195; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, B. v. 29.03.1999 – 3 S 718/99 -, juris Rn. 5). Ob dies im vorliegenden Fall – im Verhältnis des Hauptgebäudes zu dem Bauteil Balkon bzw. „Holzdeck“ – einschlägig ist, bleibt offen.
Das gilt auch für die Frage, ob ein Erlöschen der Baugenehmigung gemäß Art. 69 Abs. 1 Halbsatz 1 Variante 2 BayBO, das heißt Unterbrechung der Bauausführung über vier Jahre, vorliegt und insbesondere, ob das gar für das Gesamtvorhaben (vgl. hierzu BayVGH, U. v. 03.05.1999 – 15 B 96.189 -, juris Rn. 20), also für die Doppelhaushälfte auf dem Grundstück des Beigeladenen in Betracht kommt, oder nur für den Balkon bzw. das „Holzdeck“ als unselbstständigen Teil des Gebäudes oder ob eine Unterbrechung der Bauausführung noch möglich ist, wenn das Bauwerk soweit vollendet ist, dass es im Sinne der Benutzbarkeit abschließend fertiggestellt ist (vgl. Decker a. a. O.). Daher kommt es nicht darauf an, ob der Klägerbevollmächtigte zu Recht davon ausgeht, dass der Beigeladene für das gesamte Bauvorhaben eine neue Genehmigung hätte beantragen müssen. Nach Aktenlage ist davon auszugehen, dass im Zeitpunkt des Urteils des Verwaltungsgerichts bzw. der Berufungszulassungsentscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes mit Beschluss vom 19. Mai 2009 und damit jedenfalls innerhalb der Vier-Jahres-Frist des Art. 69 Abs. 1 Halbsatz 1 BayBO (vgl. Art. 69 Abs. 1 Halbsatz 2 BayBO) eine Fertigstellung jedenfalls des Doppelhauses vorlag. Davon ging sowohl das Verwaltungsgericht (vgl. S. 3 der Niederschrift über den gerichtlichen Augenschein am 24.05.2007) wie auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (vgl. B. v. 19.05.2009 – 1 ZB 07.1960 -, S. 3 letzter Absatz des Entscheidungsabdrucks) aus. Auch die Antragsgegnerin geht davon aus, dass der Bau der Doppelhaushälfte abgeschlossen war, das heißt der Rohbau mit Dach hergestellt war. Ob damit die Auffassung der Antragsgegnerin vereinbar ist, dass dann noch der von ihr angenommene Ablauf der Baugenehmigung möglich ist, bleibt offen, ebenso, ob die Forderung der Antragsgegnerin an den Beigeladenen, für den Balkon einen neuen Bauantrag im Freistellungsverfahren zu stellen, berechtigt ist.
2. Denn auch wenn man davon ausgeht, dass die ursprüngliche und bestandskräftige Baugenehmigung nur bezogen auf den Balkon bzw. das „Holzdeck“ erlöschen konnte, hat der Antrag keinen Erfolg. Ohnehin beabsichtigt der Beigeladene – wie aus den neuen im Freistellungsverfahren behandelten Antragsunterlagen ersichtlich ist – den Balkon abweichend, nämlich kleiner, weiter vom Grundstück der Antragstellerin entfernt und mit einem Sichtschutz zur Antragstellerin hin versehen, zu errichten. Insofern käme unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen objektiv-rechtlich eine Baueinstellung tatbestandlich in Betracht (Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 BayBO). Allerdings ist für eine solche tatbestandlich die Voraussetzungen erfüllende Baueinstellungsverfügung die Ermessensausübung in Richtung des Einschreitens nicht rechtmäßig. Denn zunächst hat die Antragsgegnerin durch die Behandlung des Antrages im Genehmigungsfreistellungsverfahren zu erkennen gegeben, dass sie mit der beabsichtigten Herstellung des Balkons einverstanden ist. Jedenfalls aber handelt es sich hierbei nicht um eine Baueinstellungsverfügung, hinsichtlich derer die Antragstellerin die erforderliche Ermessensreduzierung auf Null dartun kann. Denn subjektiv-rechtlich ist bei der Antragstellerin zu berücksichtigen, dass sie sich nicht im Wege der Verpflichtung der Bauaufsichtsbehörde gegen eine Anlage in geringerer Dimensionierung und weiter von ihr entfernt wehren könnte, als es der ursprünglichen Genehmigung des Balkons bzw. „Holzdecks“ entspricht. Den Bedenken im Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Mai 2009 (1 ZB 07.1960), insbesondere S. 5 erster Absatz von oben des Entscheidungsabdrucks, ist damit ebenfalls Rechnung getragen, als der Balkon bzw. das „Holzdeck“ nun kleiner, weiter vom Grundstück der Antragstellerin entfernt und mit einem Sichtschutz zur Antragstellerin hin versehen ist. In der Ausgangsentscheidung des Verwaltungsgerichts (U. v. 24.05.2007 – M 11 K 06.1079) wurde bereits die ursprüngliche Version des Balkons bzw. „Holzdecks“ als mit dem Rücksichtnahmegebot für vereinbar gehalten.
Nach alledem ist der Antrag abzulehnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, 3 Halbsatz 1 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) unter Berücksichtigung der Nrn. 9.7.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2013, Beilage 2).

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