Aktenzeichen 9 CS 17.361
Leitsatz
1 Bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans hängt der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB davon ab, ob die Festsetzungen, von denen dem Bauherrn eine Befreiung erteilt wurde, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. (Rn. 12) (red. LS Alexander Tauchert)
2 Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB iVm § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO). (Rn. 12) (red. LS Alexander Tauchert)
3 Maßgebend dafür, ob Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen durch Bauilinien oder Baugrenzen (§ 23 BauNVO) nachbarschützend sind, ist, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen worden ist oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll. Anhaltspunkte für eine Nachbarschutz vermittelnde Festsetzung können sich aus dem Bebauungsplan, seiner Begründung oder aus sonstigen Unterlagen der planenden Gemeinde ergeben. (Rn. 13) (red. LS Alexander Tauchert)
Verfahrensgang
W 4 S 17.71 2017-02-06 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerinnen, Eigentümer der Grundstücke FlNr. … bzw. … und … der Gemarkung S…, wenden sich gegen die den Beigeladenen mit Bescheid der Stadt Aschaffenburg vom 12. Oktober 2016 erteilte Baugenehmigung für das Abbrechen und Erneuern des durch Wasserschaden und Holzbock beschädigten Dachstuhls am niedrigeren Gebäudeteil auf dem Grundstück FlNr. … der Gemarkung S…
Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 5/1 für das Sanierungsgebiet S… zwischen G…str., F…str., A…str., … B…, T…, A…, M…str., S… Str. u. n… – im Folgenden: Bebauungsplan Nr. 5/1. Das Bauvorhaben soll ohne Änderung der bisherigen Nutzung den bisherigen Baubestand mit Brandwand mit den bisherigen Abmessungen wiederherstellen; es weicht von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der Baugrenze ab. Die Baugenehmigung enthält eine Befreiung von den festgesetzten Baugrenzen. In der Begründung des Bescheids ist u.a. ausgeführt, im Vergleich zum bisherigen Bestand würden die Nachbarn durch die Baugenehmigung nicht beeinträchtigt. Die Befreiung vom Bebauungsplan sei auch unter Würdigung der nachbarlichen Belange vertretbar, zumal die strikte Einhaltung der Festsetzungen des Bebauungsplans zu einer unbilligen Härte führen würde und mit dem Bebauungsplan nicht die Absicht verfolgt worden sei, den unter Bestandsschutz stehenden niedrigeren Gebäudeteil vollständig abzubrechen.
Die Antragstellerinnen haben gegen die Baugenehmigung Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Ihre Anträge, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage anzuordnen, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 6. Februar 2017 abgelehnt. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerinnen.
Die Antragstellerinnen beantragen,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 6. Februar 2017 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beigeladenen beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die von den Antragstellerinnen dargelegten Gründe, auf die die Prüfung im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnet, hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt, weil die Klage der Antragstellerinnen gegen die Baugenehmigung vom 12. Oktober 2016 voraussichtlich keinen Erfolg haben wird.
Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass sich Dritte gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen können, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit (auch) auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans hängt der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB davon ab, ob die Festsetzungen, von der dem Bauherrn eine Befreiung erteilt wurde, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – juris Rn. 3). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 18.12.2017 – 9 CS 17.345 – juris Rn. 15; BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris Rn. 5 f).
1. Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen durch Baulinien oder Baugrenzen (§ 23 BauNVO) haben – anders als die Festsetzung von Baugebieten – grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung. Ob eine solche Festsetzung auch darauf gerichtet ist, dem Schutz eines Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab (vgl. BVerwG, B.v. 13.12.2016 – 4 B 29/16 – juris Rn. 5). Maßgebend ist, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen worden ist oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll. Anhaltspunkte für eine Nachbarschutz vermittelnde Festsetzung können sich aus dem Bebauungsplan, seiner Begründung oder aus sonstigen Unterlagen der planenden Gemeinde ergeben. Günstige Auswirkungen einer Festsetzung auf die Nachbargrundstücke reichen zur Annahme eines Nachbarschutzes aber nicht aus. Letztlich ausschlaggebend ist jedoch eine wertende Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs (zum Ganzen vgl. BayVGH, B.v. 18.12.2017 – 9 CS 17.345 – juris Rn. 16 m.w.N.).
Nach diesem Maßstab ist das Verwaltungsgericht bei seiner wertenden Betrachtung zu der Beurteilung gekommen, dass die im Bebauungsplan Nr. 5/1 festgesetzten Baugrenzen keine nachbarschützende Wirkung entfalten. Es hat dabei insbesondere darauf verwiesen, dass sich aus dem Bebauungsplan keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass mit der zeichnerischen Baugrenzenfestsetzung über die Aufstellung von Planungsgrundsätzen im Interesse einer geordneten städtebaulichen Entwicklung hinaus gerade den jeweiligen Grundstücksnachbarn im Sinne eines wechselseitigen Austauschverhältnisses schützenswerte Rechtspositionen eingeräumt werden sollten. Gegen ein über städtebauliche Gesichtspunkte hinaus gewolltes nachbarliches gegenseitiges Austauschverhältnis spreche insbesondere, das sich hier das festgelegte Baufenster über mehrere Grundstücke erstrecke und laut Bebauungsplanbeschreibung einer Ladenerweiterung in rückwärtiger Lage zur M…straße diene. Das Beschwerdevorbringen vermag diese Beurteilung des Verwaltungsgerichts nicht in Zweifel zu ziehen.
Entgegen dem Beschwerdevorbringen lässt sich eine drittschützende Wirkung der Baugrenzenfestsetzung nicht daraus herleiten, dass der Zugang für die oberen Stockwerke der an das Bauvorhaben angrenzenden Gebäude an der M…str. über deren Ostseite erfolgt. Denn der Zugang zu diesen Stockwerken wurde im Bebauungsplan, der zwischen der H… und der M…str. eine durchgängige erdgeschossige Erweiterung des Ladengeschosses (ohne Unterbrechungen für Zugänge zu den oberen Stockwerken der Bebauung zwischen M…str. und H…*) ermöglicht, nicht einmal ansatzweise geregelt.
Mangels drittschützender Wirkung der Baugrenzenfestsetzung des Bebauungsplans kommt es daher nicht darauf an, ob die Befreiung hiervon – wie die Antragstellerinnen meinen – die Grundzüge der Planung berührt. Die Antragstellerinnen haben insoweit auch keinen Anspruch auf Einhaltung der objektiv-rechtlichen Festsetzungen eines Bebauungsplans (vgl. BayVGH, B.v. 9.2.2018 – 9 CS 17.2099 – juris Rn. 15 m.w.N.).
2. Das Beschwerdevorbringen zeigt auch keine Anhaltspunkte dafür auf, dass die Stadt bei ihrer Ermessensentscheidung im Rahmen der Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen der Antragstellerinnen genommen hat.
Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass dem Gebot der Rücksichtnahme drittschützende Wirkung zukommt, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen dabei wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.2.2018 – 9 CS 17.2099 – juris Rn. 19 m.w.N.).
a) Davon ausgehend kann den Antragstellerinnen nicht gefolgt werden, soweit sie sich auf eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch die konkrete Situierung des Nachbargebäudes berufen. Denn die Situierung des Gebäudes ist weder Gegenstand des Bauantrags, noch Gegenstand der Baugenehmigung. Was Gegenstand der Baugenehmigung sein soll, bestimmt der Bauherr durch seinen Bauantrag. Der Inhalt der Baugenehmigung ergibt sich aus der Bezeichnung, den Regelungen und der Begründung im Baugenehmigungsbescheid, der konkretisiert wird durch die in Bezug genommenen Bauvorlagen und sonstigen Unterlagen (BayVGH, B.v. 18.5.2018 – 9 CS 18.10 – juris Rn. 13). Gegenstand des Bauantrags und der Baugenehmigung ist damit vorliegend nur das Bauvorhaben „Abbrechen und Erneuern des beschädigten Dachstuhls“ auf dem Erdgeschoss des niedrigeren Gebäudeteils auf dem Grundstück FlNr. … der Gemarkung S…, nicht aber – wie von den Antragstellerinnen behauptet – ein vollständiger Neubau auf einer (bereits bestehenden) Bodenplatte. Aus den von den Antragstellerinnen vorgelegten Lichtbildern ergibt sich nichts anderes, zumal sie angesichts der darauf erkennbaren Außenmauern des Erdgeschosses den von den Antragstellerinnen behaupteten Zustand des Gebäudes ohnehin nicht belegen.
Davon ausgehend hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass angesichts des laut Bauantrag bestehen bleibenden Erdgeschosses, der unverändert bleibenden Abmessungen und der Form des Dachstuhls sowie der gleichbleibenden Nutzung nicht von einer unzumutbaren Belastung der Interessen der Antragstellerinnen gesprochen werden könne. Dem sind die Antragstellerinnen nicht substantiiert entgegengetreten. Soweit sie in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass durch das Bauvorhaben der rückwärtige Zugang zu den Obergeschossen ihrer Anwesen „schlicht unmöglich“ werde, kann ihrem Vorbringen schon deshalb nicht gefolgt werden, weil – bei Fortbestand des Erdgeschosses – der Abriss und die geplante nachfolgende Erneuerung allein des Dachstuhls keinerlei Auswirkungen auf die Zugangsmöglichkeit zu ihren Räumlichkeiten haben.
b) Dem Beschwerdevorbringen lassen sich auch keine Anhaltspunkte für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots aufgrund einer erdrückenden Wirkung des Bauvorhabens entnehmen.
Hauptkriterien bei der Beurteilung einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung sind die Höhe des Bauvorhabens, seine Länge, sein Volumen sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung. Für die Annahme einer erdrückenden Wirkung eines Nachbargebäudes besteht grundsätzlich schon dann kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 9.2.2018 – 9 CS 17.2099 – juris Rn. 21 m.w.N.; B.v. 17.7.2013 – 14 ZB 12.1153 – juris Rn. 14).
Davon ausgehend hat das Verwaltungsgericht eine Einzelfallbeurteilung unter Berücksichtigung von Höhe, Länge und Bauvolumen der baulichen Anlage in Relation zur Bebauung auf den Grundstücken der Antragstellerinnen vorgenommen und eine erdrückende oder einmauernde Wirkung auf die Grundstücke der Antragstellerinnen verneint. Die bloße Berufung im Beschwerdevorbringen auf vorgelegte Fotografien, denen lediglich der gegenwärtige Zustand entnommen werden kann, genügt ebenso wenig wie der Hinweis auf die an die Terrassenwand der Antragstellerinnen angrenzende Giebelwand des Bauvorhabens, um diese Einzelfallbeurteilung in Frage zu stellen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen entspricht der Billigkeit, weil diese im Beschwerdeverfahren einen Antrag gestellt und damit ein Kostenrisiko übernommen haben (§ 154 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5, Nr. 9.7.1 und Nr. 1.1.3 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013; sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).