Baurecht

Ersetzung gemeindlichen Einvernehmens – Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans

Aktenzeichen  W 4 K 16.344

Datum:
16.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art. 67
BauGB BauGB § 31 Abs. 2, § 36

 

Leitsatz

Die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens im Baugenehmigungsverfahren über Art. 67 Abs. 1 S. 1 BayBO setzt voraus, dass der Bauherr einen Rechtsanspruch auf die Erteilung der Baugenehmigung hat. (redaktioneller Leitsatz)
Eine Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans, die für die Planung tragend sind, darf nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl vergleichbarer Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG BeckRS 9998, 50863). (redaktioneller Leitsatz)
Der Gemeinde steht bei der Entscheidung über das Einvernehmen zu einer Befreiung ein Gestaltungsspielraum zu, innerhalb dessen sie die Zustimmung zu dem Vorhaben von bauplanungsrechtlich relevanten Gesichtspunkten abhängig machen darf. In diesen Gestaltungsspielraum darf seitens der Bauaufsichtsbehörde im Rahmen der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehemns nach Art. 67 Abs. 1 BayBO nicht eingegriffen werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Landratsamts Miltenberg vom 14. Juli 2014 wird aufgehoben.
II.
Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Landratsamtes Miltenberg vom 14. Juli 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der Kläger ist in seiner durch Art. 28 Abs. 2 GG und Art. 11 Abs. 2 BV garantierten Selbstverwaltungshoheit verletzt. Der Kläger hat sein Einvernehmen nach § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB zu Recht verweigert; das Landratsamt Miltenberg hat es zu Unrecht gemäß Art. 67 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BayBO ersetzt.
1. Die verfahrensrechtlichen Vorgaben des Art. 67 Abs. 4 BayBO – Anhörung der Gemeinde und Gelegenheit, erneut über das gemeindliche Einvernehmen zu entscheiden – wurden zwar gewahrt. In materiellrechtlicher Hinsicht sind die Voraussetzungen des Art. 67 Abs. 1 Satz 1 BayBO jedoch nicht verwirklicht, da kein Rechtsanspruch der Beigeladenen auf die Erteilung der Genehmigung besteht.
2. In der Baugenehmigung ist nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO insbesondere über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens nach §§ 29 bis 38 BauGB zu entscheiden (Art. 68 Abs. 1 Satz 1, Art. 59 Satz 1 BayBO).
Über die Zulässigkeit von Bauvorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB wird im bauaufsichtlichen Verfahren von der Baugenehmigungsbehörde im Einvernehmen mit der Gemeinde entschieden, § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Das Erfordernis des gemeindlichen Einvernehmens dient dabei der Sicherung der in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BV verankerten gemeindlichen Planungshoheit. Das gemeindliche Einvernehmen ist ein als Mitentscheidungsrecht ausgestattetes Sicherungsinstrument des Baugesetzbuchs, mit dem die Gemeinde als sachnahe und fachkundige Behörde und als Trägerin der Planungshoheit in Genehmigungsverfahren mitentscheidend an der Beurteilung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens beteiligt wird (BVerwG, U.v. 14.4.2000 – 4 C 5/99 – BayVBl 2001, 22 ff.). Entspricht ein zulässiges Vorhaben nicht den planerischen Vorstellungen der Gemeinde, kann diese den Maßstab für die Zulässigkeitsprüfung durch Aufstellung oder Änderung eines Bebauungsplans ändern und planungssichernde Maßnahmen ergreifen. Ein fehlendes Einvernehmen darf die Baugenehmigungsbehörde nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB i. V. m. Art. 67 Abs. 1 Satz 1 BayBO nur ersetzen, wenn es zu Unrecht verweigert worden ist, weil das Vorhaben nach den §§ 31 und 33 bis 35 BauGB zulässig ist, und ein Rechtsanspruch auf Erteilung der jeweiligen Genehmigung besteht. Dies bedeutet im Ergebnis, dass auf die Klage einer Gemeinde gegen die Ersetzung ihres Einvernehmens bei einem Bauvorhaben die Voraussetzungen der §§ 30 ff. BauGB in vollem Umfang nachzuprüfen sind und sich eine Differenzierung danach, ob diese Voraussetzungen jeweils dem Selbstverwaltungsrecht zuzuordnen sind oder nicht, verbietet. Die zugunsten der Gemeinde in § 36 Abs. 1 BauGB normierte Beteiligungsbefugnis und ihre damit anerkannte hoheitliche Mitverantwortung schließen es aus, ihre Stellung mit der eines privaten Nachbarn im Verhältnis zu einem privaten Bauherrn zu vergleichen (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2008 – 1 ZB 08.1462 – juris; OVG Rheinl.Pfalz, U.v. 16.3.2006 – 1 K 2012/04 – juris; OVG Nieders., U.v. 10.1.2008 – 12 LB 22/07 – juris).
3. Die streitgegenständliche Baugenehmigung, die zugleich als Ersatzvornahme i. S.v. Art. 113 GO bezüglich der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens gilt (Art. 67 Abs. 3 Satz 1 BayBO), ist rechtswidrig. Es besteht kein Rechtsanspruch auf die Erteilung der Genehmigung, da in bauplanungsrechtlicher Hinsicht das Ermessen im Rahmen des hier einschlägigen § 31 Abs. 2 BauGB nicht auf Null reduziert ist. Auch hat der Kläger sein gemeindliches Einvernehmen rechtzeitig und eindeutig verweigert.
3.1. Der Kläger hat mit Beschluss des Marktgemeinderats vom 24. September 2013 sein gemeindliches Einvernehmen zur beantragten Baugenehmigung abgelehnt. Auf die Aufforderung des Beklagten unter Darlegung seiner abweichenden Rechtsauffassung hin, zu der Frage der Einvernehmenserteilung erneut Stellung zu nehmen, hielt der Kläger an der Beschlussfassung vom 24. September 2013 fest und lehnte mit Beschluss vom 17. Dezember 2013 die Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens erneut ab.
Das Ergebnis der Abstimmungen ergibt sich aus den Niederschriften über die Sitzungen des Marktgemeinderats am 24. September 2013 (Bl. 15 der Bauakte 1485/2013) und am 17. Dezember 2013 (Bl. 22 der Bauakte 1485/2013). Aus der Niederschrift vom 24. September 2013 lässt sich entnehmen, dass das Einvernehmen verweigert wurde aufgrund der Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten nördlichen Baugrenze um bis zu 4,80 m. Hiermit kommt zum Ausdruck, worauf der Kläger die Versagung des gemeindlichen Einvernehmens stützt. Die Anforderungen an die Protokollierung der Sitzungen des Marktgemeinderats dürfen dabei nicht überspannt werden; grundsätzlich ist die Erstellung eines Ergebnisprotokolls ausreichend. Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass in den Gemeinderatssitzungen, in welchen die Erteilung des Einvernehmens diskutiert wurde, verschiedene nicht in den Protokollen enthaltene Gesichtspunkte für und wider eine Erteilung einer Befreiung durch die Gemeinderatsmitglieder diskutiert wurden. Dies zeigt ein Blick in die Bauakte 1485/2013 (Bl. 54 f.), in welcher sich ein Bericht der Beigeladenen zum Ablauf der Gemeinderatssitzungen am 24. September 2013 und am 17. Dezember 2013 befindet. Hieraus ergibt sich, dass neben dem Aspekt der Nachbarunterschriften auch andere Punkte wie die Baugrenzenüberschreitung im Baugebiet und die Beeinträchtigung von Nachbarrechten thematisiert wurden. Im gerichtlichen Verfahren war es dem Kläger somit zudem möglich, weitere Überlegungen zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB, insbesondere auch zum Ermessen (vgl. § 114 Satz 2 VwGO) vorzutragen (vgl. Schriftsätze des Klägerbevollmächtigten vom 31. Oktober 2014, S. 7 f., und vom 24. März 2016, S. 11 ff.).
Des Weiteren war es für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens unbeachtlich, ob die Versagung des gemeindlichen Einvernehmens ausreichend begründet worden war, da es für eine Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens jedenfalls an der weiteren Voraussetzung des Art. 67 Abs. 1 Satz 1 BayBO fehlt, dass ein Rechtsanspruch auf die Erteilung der Genehmigung bestehen muss. Aus diesen Gründen konnte der in der mündlichen Verhandlung am 16. August 2016 gestellte Beweisantrag des Klägers zum Inhalt der Diskussion im Vorfeld der Gemeinderatsbeschlüsse als unbehelflich abgelehnt werden.
Ergänzend ist festzustellen, dass gemeindliche Beteiligungsrechte des Klägers nicht durch eine nachträgliche Abänderung der Planunterlagen beeinträchtigt wurden. Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung am 16. August 2016 dargelegt, dass die Planunterlagen nachträglich dahingehend geändert wurden, dass Stützen der Terrassenüberdachung nach hinten versetzt worden sind, um eine Einhaltung der Abstandsflächen sicherzustellen. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine wesentliche Modifizierung, die das Bauvorhaben qualitativ im Hinblick auf die bauplanungsrechtliche Beurteilung geändert hat und die Frage der Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens neu aufgeworfen hat. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die durch die Überklebungen in den Planunterlagen nachzuvollziehenden Änderungen der Planungen nach dem Gemeinderatsbeschluss vom September 2013 Eingang in die Planung gefunden haben, ist daher nicht von einer Verletzung der sich aus § 36 BauGB ergebenden Rechte der Gemeinde auszugehen, da eine erneute Befassung des Gemeinderats mit der Frage nach der Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans entbehrlich war.
3.2. Ein Rechtsanspruch auf die Erteilung der Baugenehmigung (vgl. Art. 67 Abs. 1 Satz 1 BayBO) besteht nicht, so dass die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens rechtswidrig ist. Die Beigeladenen haben keinen Anspruch auf eine Befreiung von den Festsetzungen des qualifizierten Bebauungsplanes „Mittelgewann“ (in Kraft getreten am 16. März 1979) für eine Terrassenüberdachung, die die festgesetzte Baugrenze im rückwärtigen Grundstücksbereich um bis zu 4,80 m überschreitet. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB sind nicht verwirklicht, da die Grundzüge der Planung berührt sind und das Ermessen nicht auf Null reduziert ist.
3.2.1. Es ist nicht von einer Funktionslosigkeit des Bebauungsplans „Mittelgewann“ auszugehen, soweit die Festsetzungen zu den Baugrenzen im rückwärtigen Grundstücksbereich betroffen sind. Es steht zwar nicht außer Frage, dass im Planbereich bereits einige Befreiungen von den Festsetzungen zu den Baugrenzen erfolgt sind. Die Voraussetzungen einer Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans sind jedoch nicht erfüllt.
Eine bauplanerische Festsetzung tritt wegen Funktionslosigkeit erst dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt, und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (vgl. BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75; BVerwG, B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris). Entscheidend ist dabei, ob die jeweilige Festsetzung überhaupt noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinn des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen sinnvollen Beitrag zu leisten (vgl. BayVGH, B.v. 9.9.2013 – 2 ZB 12.1544 – juris).
Für das Vorliegen einer teilweisen Funktionslosigkeit des Bebauungsplans unter diesen Vorgaben gibt es keine Anhaltspunkte. Zunächst ist zwischen der vorderen und der hinteren Baugrenze zu differenzieren. Die Anzahl an Befreiungen für die rückwärtige Baugrenze ist im Verhältnis zu den Vorhaben, die die Vorgaben einhalten, nicht überproportional hoch. Vielmehr zeigt sich, dass sich die bauliche Entwicklung weitgehend an den festgesetzten Bauräumen orientiert hat und im rückwärtigen Bereich der Grundstücke Freiräume und Ruhezonen vorhanden sind. Ein Großteil der Bebauung im Planbereich, insbesondere auch in der Limesstraße, der Frankenstraße und in der Straße „Im Mittelgewann“ hält wohl die Vorgaben des Bebauungsplans ein. Zumindest wurde im Verfahren nicht dargelegt, dass eine überwiegende Anzahl der Bauvorhaben die Baugrenze im rückwärtigen Bereich nicht beachtet und dies offensichtlich ist. Die Intention des Plangebers, eine einheitliche Bebauung in einer Reihe mit einer ausreichenden Freifläche im rückwärtigen Grundstücksbereich zu schaffen, ist daher umgesetzt bzw. kann noch umgesetzt werden, zumal bei mehreren Überschreitungen der Baugrenzen noch ein bauaufsichtliches Einschreiten in Betracht kommt.
3.2.2. Die Beigeladenen haben keinen Anspruch darauf, dass von den entsprechenden Festsetzungen des Bebauungsplanes befreit wird. Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplanes befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und
1. Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder
2. die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder
3. die Durchführung des Bebauungsplanes zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde
und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Es liegen bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für die notwendige Befreiung nicht vor, da durch eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der rückwärtigen Baugrenze die Grundzüge der Planung berührt werden.
Die Grundzüge der Planung bilden die den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrunde liegende und in ihnen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Mai 2016, § 31 Rn. 36). Wann die Grundzüge der Planung berührt werden, bestimmt sich nach der jeweiligen Planungssituation. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft, das sich aus den Festsetzungen des Bebauungsplans ergibt. Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür dienen, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Sie darf – jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind – nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – juris).
Ausgehend von diesen Grundsätzen scheidet die Erteilung der erforderlichen Befreiung hier aus. Entgegen der Auffassung der Beigeladenen werden die Grundzüge des Bebauungsplans durch die begehrte Befreiung berührt. Zum einen lässt sich eine klare Intention des Planerstellers bei der Festlegung der Baugrenzen dahingehend feststellen, dass der rückwärtige Bereich der relativ kleinen Baugrundstücke im Plangebiet freigehalten und die Bebauung im vorderen Bereich der Grundstücke angesiedelt werden soll. Dies zeigt vor allem der Blick auf die Planteilnummern 16 bis 19 des Bebauungsplans „Mittelgewann“ (vgl. Abruf über http://gis.kreismil.de /bpl /Kleinheubach /Mittelgewann /Rechtsplan.pdf). Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Festsetzung der Baugrenzen im rückwärtigen Bereich gewissermaßen „zufällig“ erfolgt ist und ein Eingriff in das Plangefüge quasi „isoliert“ werden kann (Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB/BauNVO, 7. Aufl. 2013, § 31 BauGB Rn. 14). Zum anderen handelt es sich bei einer Befreiung von der im Bebauungsplan festgesetzten rückwärtigen Baugrenze um die Verwirklichung einer Situation, die sich für eine Vielzahl der von den Festsetzungen betroffenen Grundstücke anführen ließe, so dass dementsprechend Bezugsfälle zu erwarten wären. Angesichts der geringen Grundstücksgrößen im Plangebiet betrifft die räumliche Beschränkung im hinteren Grundstücksbereich eine Vielzahl von Grundstücken, vor allem entlang der R…straße.
Die planerische Grundkonzeption ist durch die tatsächliche Entwicklung auch nicht so weit aufgeweicht, dass sie überholt ist (BayVGH, U.v. 9.8.2007 – 25 B 05.1337 – juris Rn. 41 f.). Der Klägerbevollmächtigte hat im Verfahren dargelegt, dass es im Plangebiet insgesamt lediglich in acht Fällen nachweislich zu Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans zur hinteren Baugrenze gekommen ist (vgl. Schriftsatz vom 24. März 2016, S. 9 f.), wobei bei den Anwesen R…straße 34 a und 34 b (Fl.Nrn. …00/102 und …00/163) und R…straße 50 (Fl.Nr. …00/145) Befreiungen für Terrassenüberdachungen bzw. Wintergärten vorliegen. Auf dem Grundstück der Beigeladenen ist durch Bescheid vom 12. Februar 1999 zudem eine Garage und Terrassenunterkellerung außerhalb der Baugrenze (allerdings ohne ausdrückliche Befreiung von der Festsetzung zu den Baugrenzen) genehmigt worden. Soweit andere Befreiungen gegeben sind, so sind diese in ihrer Art und der Reichweite nicht unmittelbar mit dem vorliegenden Fall vergleichbar. Auch ist es wohl so, dass es eine gewisse Anzahl an Bauvorhaben gibt, bei denen die Überschreitung der Baugrenzen nicht beantragt bzw. genehmigt wurde (vgl. Schriftsatz der Beigeladenenbevollmächtigten vom 9. August 2016). Die Grundentscheidung, im Baugebiet die hinteren Grundstücksbereiche von Bebauung freizuhalten, ist jedenfalls nicht konterkariert. Der mit der Planung verfolgte Interessenausgleich ist nicht nachhaltig gestört.
Da das Vorhaben die Grundzüge der Planung berührt, kommt es auf die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht mehr an.
3.2.3. Selbst wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB als gegeben angesehen würden, so steht den Beigeladenen dennoch kein Rechtsanspruch auf die Erteilung der Baugenehmigung zu, da die Erteilung der Befreiung im Ermessen des Beklagten steht. Dieses Ermessen ist im vorliegenden Fall nicht auf Null dahingehend reduziert, dass nur eine positive Entscheidung rechtmäßig ist (Simon/Busse, BayBO, Stand: Jan. 2016, Art. 67 Rn. 85).
Die Erteilung der Befreiung steht im pflichtgemäßen Ermessen der Baugenehmigungsbehörde (BVerwG, U.v. 19.9.2002 – 4 C 13/01 – BVerwGE 117, 50; Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Mai 2016, § 31 Rn. 61 m. w. N.). Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift „kann“ von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden.
Allerdings besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Ausübung dieses Ermessens nur wenig Raum, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung gegeben sind (BVerwG vom 19.9.2002, a. a. O.). Daraus folge jedoch nicht, dass der zuständigen Behörde entgegen dem Wortlaut der Vorschrift kein Ermessensspielraum zusteht oder dass das Ermessen auf Null reduziert ist, wenn die Voraussetzungen für eine Befreiung vorliegen. Erforderlich sei – so das Bundesverwaltungsgericht – für eine negative Ermessensentscheidung nur, dass der Befreiung gewichtige Interessen entgegenstehen (BVerwG vom 19.9.2002, a. a. O.), diese dem Interesse des Bauherrn im Gewicht also nicht kategorisch untergeordnet sind. Wenn die sich gegenüber stehenden Interessen und Belange in etwa gleichgewichtig sind, also nicht außer Verhältnis stehen, zwingt weder das Verfassungsrecht noch das einfache Gesetzesrecht zur Bevorzugung der Interessen des Bauherrn (umfassend hierzu BayVGH, U.v. 9.8.2007 – 25 B 05.1337 – juris Rn. 56 ff.).
Gemessen an diesen Vorgaben stellt sich ein Festhalten am Bebauungsplan vorliegend nicht als unverhältnismäßig und gleichheitswidrig dar. Das Interesse der Beigeladenen an der Durchführung ihres Vorhabens ist den entgegenstehenden öffentlichen Belangen und privaten Nachbarinteressen nicht bereits in einer Weise kategorisch übergeordnet, dass das Ermessen von vornherein auf Null reduziert wäre. Vielmehr sind sachliche Gründe ersichtlich, die eine Versagung der Befreiung rechtfertigen können.
Eine Ermessensreduzierung folgt vorliegend nicht aus einer Selbstbindung der Verwaltung und damit nicht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Dem Beklagten und den Beigeladenen ist zuzugestehen, dass für eine Befreiung durchaus Bezugsfälle vorhanden sind, soweit die Einhaltung der rückwärtigen Baugrenzen im Baugebiet betroffen ist. Insofern mag das Ermessen der Bauaufsichtsbehörde und des Klägers bei der Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen zwar eingeschränkt sein. Für die Frage, ob eine Ermessensreduzierung auf Null unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes vorliegt, ist jedoch darüber hinaus bedeutsam, ob die Bezugsfälle vergleichbar mit dem vorliegenden sind oder ob nicht aufgrund besonderer Aspekte eine Differenzierung möglich bzw. geboten ist.
Letzteres ist hier der Fall, da das Bauvorhaben der Beigeladenen im Vergleich zu anderen Befreiungen Besonderheiten aufweist, die der Kläger als Träger der Planungshoheit bei seiner Entscheidung berücksichtigen durfte. Insbesondere im Vergleich zu den Befreiungen für Terrassenüberdachungen bei den Anwesen R…straße 34 a (Fl.Nr. …00/102) und 34 b (Fl.Nr. …00/163) zeichnet sich das Bauvorhaben der Beigeladenen, die Terrassenüberdachung in ihrer konkreten Ausführung und in der Zusammenschau mit dem identischen Vorhaben auf dem Nachbargrundstück Fl.Nr. …00/51, durch eine besondere Massivität aus, die dazu führt, dass das Grundstück fast auf seine ganze Tiefe im hinteren Grundstücksteil überbaut wird. Wie auch der gerichtliche Augenscheinstermin ergeben hat, tritt auf dem relativ kleinen Grundstück eine im Vergleich zu den Nachbargrundstücken große Verdichtung ein, die so im Plangebiet nicht zu finden ist. In der Befreiungspraxis des Klägers sind bisher keine vergleichbaren Fälle zu verzeichnen, in denen die Grundstücksfläche derart massiv in Anspruch genommen wäre, insbesondere auch nicht auf den o.g. Grundstücken R…straße 34 a und 34 b (vgl. aber auch die aufgezeigten Vergleichsfälle R…straße 22, Bayernstraße 2 und 13, Grafenweg 2 a und 2 b, Limesstraße 19). Hinzu kommt, dass damit der Baukörper insgesamt näher an die Grundstücksgrenze zu den Nachbargrundstücken Fl.Nr. …00/49 und Fl.Nr. …00/50 heranrückt. Obwohl die Abstandsflächen gemäß den vorgelegten Plänen eingehalten sind, ist dieser Aspekt im Hinblick auf die Funktion der Baugrenzen, im rückwärtigen Grundstücksbereich einen ausreichenden Freiraum zu sichern, im vorliegenden Fall nicht zu vernachlässigen. Insofern spielt es auch eine Rolle, dass es sich bei der Terrassenüberdachung um eine Konstruktion handelt, die den räumlichen Umfang des Gebäudes der Beigeladenen vergrößert. Im Gegensatz zu der Terrassenunterkellerung und dem Garagenneubau an sich, die bereits die Baugrenze überschreiten (vgl. Baugenehmigung vom 12. Februar 1999, Nr. 64/99, Bauantrags-Verzeichnis-Nr. 716/006/99), wird damit das Erscheinungsbild des Gebäudes und dessen Kubatur insgesamt verändert.
Dieses Ergebnis einer fehlenden Ermessensreduzierung auf Null wird auch durch die Überlegung untermauert, dass der Kläger als Träger der gemeindlichen Planungshoheit in der Lage sein muss, seine Praxis bei der Erteilung von Befreiungen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben über §§ 36 i. V. m. 31 Abs. 2 BauGB zu steuern. Er muss sich nicht an einer erkannten Fehlentwicklung, hier hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenzen, festhalten lassen (BayVGH, U.v. 4.7.2003 – 2 B 02.1962 – juris Rn. 13). Im Sinne der Planungshoheit und der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinde (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) muss es dem Kläger möglich sein, die Rechtsgeltung eines Bebauungsplan durchzusetzen und ihm weiterhin eine Gestaltungsfunktion zu erhalten. Konkret bedeutet das, dass der Kläger bei Vorliegen ausreichender Gründe – welche vorliegend gegeben sind – die Umsetzung der Vorgaben des Bebauungsplans einfordern kann, um nicht sehenden Auges eine Funktionslosigkeit bezüglich der Festsetzung, hier zu den Baugrenzen, herbeizuführen. Der Gemeinde steht bei der Entscheidung über das Einvernehmen zu einer Befreiung ein Gestaltungsspielraum zu, innerhalb dessen sie ihre Zustimmung zu dem Vorhaben von bauplanungsrechtlich relevanten Gesichtspunkten abhängig machen darf, die die für die Erteilung der Befreiung zuständige Bauaufsichtsbehörde bei der Ermessensausübung berücksichtigen könnte (BayVGH, U.v. 30.3.2009 – 1 B 05.616 – juris Rn. 47 m. w. N.). In diesen Gestaltungsspielraum darf seitens der Bauaufsichtsbehörde im Rahmen der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens (gemäß Art. 67 Abs. 1 BayBO) nicht eingegriffen werden.
3.3. Da das Ermessen im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht auf Null reduziert ist und daher kein Rechtsanspruch auf die Erteilung der Genehmigung besteht (Art. 67 Abs. 1 Satz 1 BayBO), verletzt die dennoch erfolgte Einvernehmsersetzung den Kläger in seinen Rechten.
Der Bescheid des Landratsamtes Miltenberg vom 14. Juli 2014 war demzufolge aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Da sich die Beigeladenen ohne eigene Antragstellung keinem Prozesskostenrisiko ausgesetzt haben, können ihnen gemäß § 154 Abs. 3 VwGO keine Kosten auferlegt werden. Es entspricht deshalb auch der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Aufwendungen selbst zu tragen haben (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg, Hausanschrift: Burkarderstraße 26, 97082 Würzburg, oder Postfachanschrift: Postfach 11 02 65, 97029 Würzburg, schriftlich zu beantragen. Hierfür besteht Vertretungszwang.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist; die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder Postfachanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München, Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach, einzureichen.
Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4. das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte, Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder die in § 67 Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 15.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe:
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. 9.10 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (2013).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 EUR übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde.
Für die Streitwertbeschwerde besteht kein Vertretungszwang.
Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg, Hausanschrift: Burkarderstraße 26, 97082 Würzburg, oder Postfachanschrift: Postfach 11 02 65, 97029 Würzburg, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden. Im Fall der formlosen Mitteilung gilt der Beschluss mit dem dritten Tage nach Aufgabe zur Post als bekannt gemacht.

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