Baurecht

Faktische Baugrenze in einem Gewerbegebiet

Aktenzeichen  M 1 K 16.4000

Datum:
27.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 34
GO Art. 26 Abs. 2
BauNVO BauNVO § 8 Abs. 2

 

Leitsatz

Die Annahme einer faktischen Baugrenze setzt voraus, dass hinreichende Anhaltspunkte für eine städtebaulich verfestigte Situation bestehen. Die tatsächlich vorhandene Bebauung und die daraus folgende Baugrenze zu einer nicht überbaubaren Grundstücksfläche darf kein bloßes „Zufallsprodukt“ ohne städtebaulichen Aussagewert sein (vgl. VG München BeckRS 2015, 51788 mwN). (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 8. August 2016 verpflichtet der Klägerin eine Baugenehmigung zu ihrem Bauantrag vom … Februar 2016 zu erteilen.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 8. August 2016 ist rechtswidrig, da die Klägerin einen Anspruch auf die beantragte Baugenehmigung hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Baugenehmigung ist gemäß Art. 68 Abs. 1 i.V.m. Art. 59 BayBO zu erteilen, da dem Vorhaben keine öffentlich rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Das Vorhaben ist bauplanungsrechtlich nach § 34 BauGB zu beurteilen, da der für das Baugrundstück erlassene Bebauungsplan unwirksam ist (1.). Es fügt sich sowohl hinsichtlich der Art der Nutzung (2.) als auch hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche (3.) in die nähere Umgebung ein.
1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich nicht nach § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. dem Bebauungsplan der Beigeladenen, sondern nach § 34 BauGB.
Der Bebauungsplan in der Fassung der ersten Änderung ist wegen eines Ausfertigungsmangels unwirksam. Bebauungspläne sind durch den ersten Bürgermeister oder einen seiner Vertreter auszufertigen, bevor der Beschluss über den Bebauungsplan (§ 10 Abs. 3 Satz 1 BauGB) ortsüblich bekannt gemacht wird. Dies gebietet das in Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 3 Abs. 1 BV verfassungsrechtlich verankerte Rechtstaatsprinzip (BVerwG, B.v. 9.5.1996 – 4 B 60/96 – juris Rn. 3). Durch die Ausfertigung wird bestätigt und sichergestellt, dass der Inhalt der Satzung dem Beschluss des Gemeinderats entspricht. Das bayerische Landesrecht sieht in Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GO die Ausfertigung gemeindlicher Satzungen ausdrücklich vor. Hier ist der Bebauungsplan der Beigeladenen in seiner Ursprungsfassung am 20. August 1993 bekannt gemacht worden. Die erforderliche Ausfertigung wurde indes durch die Unterschrift des Bürgermeisters erst am 23. September 1993 vorgenommen. Der Bebauungsplan ist in seiner ursprünglichen Fassung damit unwirksam, weil seine Ausfertigung nach der Bekanntmachung erfolgte und damit nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht (BayVGH, U. v. 20.10.2009 – 1 N 06.1545 – juris Rn. 28 ff. mit weiteren Nachweisen).
Der Ausfertigungsmangel ist nicht durch die ordnungsgemäße Bekanntmachung und Ausfertigung der ersten Änderung des Bebauungsplans geheilt worden. Zwar kann die Ausfertigung nachgeholt und im Anschluss der Bebauungsplan erneut bekannt gemacht werden (BVerwG, B.v. 9.5.1996 – 4 B 60/96 – juris Rn. 4). Dies würde jedoch voraussetzen, dass der Änderungsbebauungsplan und das damit verbundene Verfahren den bisher unwirksamen Bebauungsplan umfassend überarbeitet und als neue Fassung bekanntmacht. Nur wenn der Änderungsbebauungsplan die bisherigen Festsetzungen ersetzt oder jedenfalls erneut in einen planerischen Abwägungsprozess einbezieht, entsteht ein eigenständiger Plan, der nicht mehr mit den alten Fehlern des Ursprungplans behaftet ist (BVerwG, B.v. 30.9.1992 – 4 NB 22/92 – juris Rn. 18). Werden demgegenüber nur einzelne Festsetzungen geändert, so kann der Bebauungsplan nur in Zusammenhang mit der alten Planung gesehen werden, was eine alleinige Gültigkeit des Änderungsbebauungsplans ausschließt (BVerwG, B. v. 30.9.1992 a.a.O.).
Bei Berücksichtigung dieser Vorgaben ergibt sich, dass die erste Änderung des Bebauungsplans keine Neufassung des Bebauungsplans darstellt, die eine Heilung des bisherigen Bekanntmachungsmangels rechtfertigen könnte. Aus der Begründung des Änderungsbebauungsplans ist ersichtlich, dass dieser ausschließlich die Zulassung einer größeren Gebäudehöhe auf einem Grundstück (FlNr. 2553 Gem. …) ermöglichen sollte. Im Rahmen der Abwägung hat sich der Bauausschuss der Beigeladenen ausschließlich mit dem Inhalt dieser Änderung befasst (vgl. Auszug aus der Niederschrift über die öffentliche Sitzung des Bauausschusses v. 13.2.2001). Eine Prüfung und Abwägung der übrigen Festsetzungen des Bebauungsplans hat nicht mehr stattgefunden. Auch aus der Bebauungsplanurkunde ist ersichtlich, dass lediglich bei den textlichen Festsetzungen unter Nr. 2.3 ein Absatz eingefügt wurde, der eine neue Traufhöhe aus dem Grundstück FlNr. 2553 Gem. … zulässt. Die übrigen Festsetzungen wurden aus der bisherigen Bebauungsplanurkunde unverändert kopiert. Es handelt sich deshalb nicht um eine Neufassung des Bebauungsplans, die den bisherigen Bekanntmachungsfehler heilen könnte, sondern nur um eine geringfügige Änderung.
Die Ausfertigung und Bekanntmachung des Änderungsbebauungsplans konnte auch nach dem Willen des ausfertigenden Bürgermeisters die ursprünglich durch die Ausfertigung nach Bekanntmachung verfehlte Beurkundungsfunktion nicht nachholen.
Die Ausfertigung dient dazu, die Übereinstimmung des Bebauungsplantextes und des Plans mit der Beschlussfassung des zuständigen Gremiums zu bestätigen. Diese Bestätigung ist beim ursprünglichen Erlass des Bebauungsplans nicht erfolgt. Die Ausfertigung der Änderung des Bebauungsplans am 20. Februar 2001 bezog sich nur auf den Beschluss des Bauausschusses mit dem dieser am 13. Februar 2001 die erste Änderung des Bebauungsplans beschlossen hat. Die Unterschrift des Bürgermeisters wollte und konnte damit nicht die Übereinstimmung des ursprünglichen Plans mit dem damaligen Satzungsbeschluss des zuständigen Gremiums vom 22. April 1993 bestätigen. Die Änderung selbst geht ins Leere, weil es wegen der Unwirksamkeit des in Bezug genommen Bebauungsplans an einer wirksamen Änderung der ursprünglichen Festsetzung fehlt (VG München, U.v. 29.4.2010 – M 11 K 08.4746 – juris Rn. 40).
Ob der Bebauungsplan darüber hinaus noch unter weiteren Mängeln wegen der Festsetzung eines immissionswirksamen, flächenbezogenen Schallleistungspegels in Nr. 4.3 leidet, kann somit dahinstehen. Die Kammer weist jedoch darauf hin, dass nach der Rechtsprechung die Verwendung des Begriffs „Grundfläche“ bei der Festsetzung eines immissionswirksamen, flächenbezogenen Schallleistungspegels grundsätzlich zu unbestimmt ist (BayVGH, U. v. 14.7.2009 – 1 N 07.2977 – Rn. 39). Zudem ist für die Bestimmtheit dieser Festsetzung auch die Angabe der Berechnungsmethode für die Schalleistungspegel erforderlich, die gemäß § 10 Abs. 3 Satz 2 BauGB in den zur Einsicht bereit zu haltenden Unterlagen enthalten sein muss (BayVGH, U.v. 25.10.2016 – 9 N 13.558 – Rn. 28 und U.v. 14.7.2009, a.a.O., Rn. 44).
2. Das geplante Vorhaben ist gem. § 34 Abs. 2 i.V.m. § 8 Abs. 2 BauNVO nach der Art der Nutzung bauplanungsrechtlich zulässig. Nach der übereinstimmenden Beurteilung der Parteien handelt es sich bei dem Baugrundstück und dessen näherer Umgebung um ein faktisches Gewerbegebiet i.S.v.
§ 8 BauNVO. Die Werbeanlage, die als Fremdwerbung als selbstständige gewerbliche Anlage zu qualifizieren ist, ist deshalb gemäß § 34 Abs. 2 i.V.m. § 8 Abs. 2 BauNVO allgemein zu lässig.
3. Das Vorhaben fügt sich auch nach der Grundstücksflache die überbaut werden soll gemäß § 34 Abs. 1 BauGB in die nähere Umgebung ein.
3.1 Die von der Beklagtenseite vermutete faktische Baugrenze, die durch die Nordseite der Gebäude auf dem Baugrundstück und dem anschließenden Grundstück FlNr. 2552/6 Gemarkung … gebildet werden soll, ist nach dem Ergebnis des gerichtlichen Augenscheins nicht zu erkennen.
Der maßgebliche Bereich zur Beurteilung der Frage, ob eine faktische Baugrenze vorhanden ist, beschränkt sich nicht allein auf das Vorhabengrundstück und das südöstlich benachbarte Grundstück FlNr. 2552/6. Bei dem gesamten Geltungsbereich des Bebauungsplans, handelt es sich um ein vergleichsweise kleinräumiges, aber einheitlich genutztes Gewerbegebiet. Innerhalb dieses Bereichs ist keine deutliche Zäsur zu erkennen, die eine getrennte Betrachtung des Baugrundstücks und des südöstlich davon gelegenen Nachbargrundstücks rechtfertigen könnte. Insbesondere ist die …-Straße, die als Ring Straße, sowohl nordwestlich als auch südöstlich des Gevierts verläuft, in dem das Baugrundstück liegt, weder von ihrer Größe noch von ihrer Verkehrsbedeutung geeignet, eine eigenständige Beurteilung dieses Bereichs zu rechtfertigen.
Bei der Prüfung der Frage des Vorliegens einer faktischen Baugrenze ist somit jedenfalls die südöstlich an die …-Straße anschließende Bebauung auf den FlNr. 2550/6 und 2550/4 mit einzubeziehen.
Die Annahme einer faktischen Baugrenze würde voraussetzen, dass hinreichende Anhaltspunkte für eine städtebaulich verfestigte Situation bestehen. Die tatsächlich vorhandene Bebauung und die daraus folgende Baugrenze zu einer nicht überbaubaren Grundstücksfläche darf kein bloßes „Zufallsprodukt“ ohne städtebaulichen Aussagewert sein (VG München, U.v. 18.6.2015 – M 11 K 14.1181 – juris Rn. 30 m.w.N.). Eine solche städtebaulich erkennbare Situation fehlt hier.
In dem beschriebenen Bereich lässt sich eine einheitliche Begrenzung der überbaubaren Grundstücksfläche durch vorhandene Gebäude Richtung Nordosten nicht erkennen. Vielmehr erscheint schon die Stellung der Gebäude auf dem Baugrundstück und dem benachbarten Grundstück FlNr. 2552/6 auf einer vergleichbaren Linie im Verhältnis zu den davor liegenden Stellplätzen eher zufällig. Die nach dem Lageplan als Bebauung auf einer Linie erscheinende Stellung der Gebäude …-Straße 1 und …-Straße 9 ist in der Realität nicht mehr so deutlich ablesbar. Während das Gebäude …-Straße 1 als einheitlicher Baukörper mit der gesamten Gebäudehöhe bis an seine Nordostgrenze heranreicht, ist das Gebäude …-Straße 9 an der Nordostseite mit einem abgeschleppten eingeschossigen Vorbau versehen. Durch diesen Vorbau wirkt das Gebäude …-Straße 9 im Verhältnis zu dem auf dem Baugrundstück befindlichen Gebäude …-Straße 1 zurückgesetzt. Dies verstärkt den Eindruck, dass die Bebauung sich in dem maßgeblichen Gebiet nicht an einer Linie orientiert, die als Baugrenze nicht überschritten werden soll. Die zufällig auf einer vergleichbaren Linie stehenden Gebäude auf dem Baugrundstück und auf dem südöstlich benachbarten Grundstück folgen keinem Ordnungsprinzip, sondern sind eher auf eine Anpassung der Bauten zweier benachbarter Grundstücke zurückzuführen. Die Stellung der Gebäude ergibt sich durch die gemeinsame Stellplatzfläche nördlich der Gebäude und ist nicht Ausdruck einer städtebaulichen Ordnung.
Sie findet vor allem keinerlei Fortsetzung in der Nachbarschaft. Auf den Grundstücken FlNr. 2550/3 und 2550/4 Gem. … stehen Gebäude deutlich weiter nach Norden vorgeschoben. Auch diese prägen das Baugrundstück hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche mit.
3.2 Selbst wenn man eine faktische Baugrenze annehmen wollte, wäre die Errichtung der Werbeanlage jenseits dieser faktischen Baugrenze nicht nach § 34 Abs. 1 BauGB unzulässig.
Ein Vorhaben, das den durch die Umgebung vorgegebenen Rahmen überschreitet, ist nach § 34 Abs. 1 BauGB ausnahmsweise zulässig, wenn es nicht geeignet ist städtebauliche Spannungen hervorzurufen oder zu erhöhen (BVerwG U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – juris Rn. 47). Bodenrechtlich beachtliche und bewältigungsbedürftige Spannungen liegen nur dann vor, wenn das Vorhaben die vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtert, stört oder belastet und das Bedürfnis hervorruft die Voraussetzungen für seine Zulassung unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung zu schaffen (BVerwG, U.v. 16.9.2010 – 4 C 7/10 – juris Rn. 23). Das Gebiet nordöstlich der Gebäude …-Straße 1 und …-Straße 6 ist durch gewerbliche Nutzung und durch eine Vielzahl von Stellplätzen geprägt. Darüber hinaus besteht bereits eine über die Dimensionen des geplanten Vorhabens weit hinausgehende Sammelwerbeanlage in der Nordost-Ecke des Baugrundstücks. Das Hinzutreten der beantragten Werbeanlage verschlechtert die Situation deshalb nicht in relevanter Weise und ruft im Hinblick auf die überbaubare Grundstücksfläche kein Bedürfnis nach einer Bauleitplanung hervor. Insbesondere besteht keine Vorbildwirkung, nachdem bereits eine große Werbeanlage vorhanden ist. Bei dem städtebaulichen Gesichtspunkt der überbaubaren Grundstücksfläche ist nicht entscheidend, dass es sich bei der beantragten Anlage um eine Anlage zur Fremdwerbung handelt, während die vorhandene Sammelwerbeanlage der Eigenwerbung der im Gebiet vorhandenen Betriebe dient (BayVGH, B. v. 12.1.2012 – 15 ZB 10.445 – juris Rn. 12). Die vorhandene Sammelwerbeanlage ist Vorbild für die streitgegenständliche Anlage. Eine erstmalige bauliche Nutzung des Stellplatzbereichs auf dem Baugrundstück durch die deutlich kleiner dimensionierte streitgegenständliche Werbeanlage erfolgt nicht. Sie kann daher nicht als Bezugsfall für weitere Anlagen gleichen Umfangs dienen und so städtebauliche Spannungen hervorrufen.
Nachdem weitere Vorschriften, die dem Vorhaben entgegengehalten werden könnten, weder vorgetragen wurden noch ersichtlich sind, war der Beklagte zu verpflichten die beantragte Baugenehmigung zu erteilen.
Der Beklagte hat als unterlegene Partei gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt gemäß § 162 Abs. 3 VwGO ihre außergerichtlichen Kosten selbst, da sie sich nicht durch die Stellung eines Antrags einem Kostenrisiko gemäß § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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