Baurecht

Keine nachbarschützende Wirkung der Festsetzung von Baugrenzen

Aktenzeichen  AN 3 K 17.00036

Datum:
22.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 5103
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Dass rückwärtige Grundstücksbereiche zu Erholungszwecken nutzbar sind, lässt für sich genommen noch nicht den Schluss zu, dass es sich bei der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenzen um nachbarschützende Regelungen handelt. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens sowie die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Kostenschuldner können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässigen Klagen sind unbegründet. Der streitgegenständliche Baugenehmigungsbescheid der Beklagten vom 9. Dezember 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung haben Nachbarn nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung einer Baugenehmigung weiter voraus, dass der Nachbar durch sie zugleich in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dies ist nur dann der Fall, wenn die zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führende Norm zumindest auch dem Schutz des Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (BVerwG U.v. 6.10.1989 – 4 C 40.87 – juris). Eine Verletzung derartiger Normen liegt vorliegend nicht vor.
Die Kläger werden durch das streitgegenständliche Vorhaben nicht in dem drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme verletzt, welches hinsichtlich der erteilten Befreiung in § 31 Abs. 2 BauGB im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ seinen Niederschlag gefunden hat, im übrigen § 15 Abs. 1 BauNVO zu entnehmen ist.
1. Dabei kann zugunsten der Kläger unterstellt werden, dass der Bebauungsplan Nr. … und die in ihm enthaltene Baugrenzenfestsetzung selbst noch Wirkung entfaltet – wovon auch die Beklagte ausgeht – und nicht durch die, wie auf aktuellen allgemein zugänglichen Luftaufnahmen ersichtlich, Bebauung der rückwärtigen Grundstücksbereiche mit Nebenanlagen und Wohnhäusern auf den FlNrn. … und …, deren Baugenehmigungen jeweils im Wege einer Befreiung erteilt wurden, funktionslos geworden geworden ist (vgl. BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – BVerwGE 54,5; BayVGH, B.v. 14.7.2016 – 1 ZB 15.443 – juris Rn. 4).
2. Die Festsetzung zu den überbaubaren Grundstücksflächen gewährt den Klägern kein Abwehrrecht gegen das streitgegenständliche Bauvorhaben, da ihr keine drittschützende Funktion zukommt.
Bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans hängt der Umfang des Rechtsschutzes des Nachbarn davon ab, ob die Festsetzungen, von welchen die Befreiung erteilt wird, Nachbarschutz vermitteln oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 25; BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – juris Rn. 3).
Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach dem im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebot. Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 a.a.O., Rn. 25 m.w.N.).
Nach der hier maßgeblichen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichthofes haben dabei Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baulinien oder Baugrenzen (§ 23 BauNVO) ebenso wie Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung – anders als Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung – grundsätzlich keine drittschützende Funktion im Rahmen eines nachbarlichen Gegenseitigkeits- und Austauschverhältnisses (BayVGH, B.v. 8.11.2016 – 1 CS 16.1864 – juris Rn. 4). Günstige Auswirkungen einer Festsetzung auf die Nachbargrundstücke reichen zur Annahme eines Nachbarschutzes nicht aus.
Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche können dann ausnahmsweise drittschützende Wirkung entfalten, wenn sich aus dem im Einzelfall zu ermittelnden Willen der Gemeinde als Planungsträger ergibt, dass diese Festsetzungen auch dem Schutz der Nachbarn dienen (BayVGH, B.v. 8.11.2016, a.a.O.; Blechschmidt in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand Oktober 2017, § 23 BauNVO Rn. 56; BVerwG, B.v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 – juris).
Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln. Ein entsprechender Wille muss sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan selbst, aus seiner Begründung oder auch aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung ergeben. Maßgebend ist, ob die Festsetzung auf Basis einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurde oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll (BayVGH, B.v.28.3.2017 – 15 ZB 16.1306 – juris Rn. 7, zum Ganzen z.B. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 34 m.w.N.).
Ein solchermaßen erkennbarer Wille der Beklagten (vgl. BayVGH v. 19.3.2013 – 2 B 13.99 – juris), dass die hier inmitten stehenden Festsetzungen dem Nachbarschutz dienen sollen, ist vorliegend nicht ersichtlich.
Zwar kann den zeichnerischen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … entnommen werden, dass die Wohngebäude entlang des Straßenverlaufs als Blockrandbebauung vorgesehen sind, wodurch im Innenbereich des Gevierts ein grundsätzlich von Bebauung freizuhaltender Bereich entsteht. Jedoch ergeben sich weder aus den textlichen Festsetzungen noch aus der Begründung des Bebauungsplans vom 9. September 1966 Anhaltspunkte dafür, dass über die Aufstellung von Planungsgrundsätzen im Interesse einer geordneten städtebaulichen Entwicklung hinaus mit den Baugrenzenfestsetzungen gerade den jeweiligen Grundstücksnachbarn im Sinne eines wechselseitigen Austauschverhältnisses schützenswerte Rechtspositionen eingeräumt werden sollten, etwa in der Art eines rückwärtigen Ruhebereiches oder einer Erholungszone.
Die textlichen Festsetzungen enthalten Regelungen zur Art und zum Maß der Nutzung sowie zur Bauweise. Aus dem Fehlen von Anhaltspunkten für einen entsprechenden Planungswillen der Gemeinde ist gerade nicht – wie der Prozessbevollmächtigte unter Berufung auf Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg ausführt – zu folgern, dass die Festsetzungen zu seitlichen und rückwärtigen Baugrenzen vorliegend an sich Nachbarschutz entfalten.
In der Begründung zur Satzungsänderung vom 1. September 1971 findet sich lediglich der Hinweis darauf, dass das Gebiet entsprechend der tatsächlichen Nutzung als „Gartenwohnsiedlung“ als reines Wohngebiet festgesetzt worden sei. Im Zuge der „Umwandlung“ zum allgemeinen Wohngebiet durch Änderungsatzung vom 2. Juni 1972 wurde mit weiterer Änderung vom 7. Januar 1975 die Errichtung von Nebenanlagen im Sinne des § 14 BauNVO zugelassen. Wie die Lagepläne des Gebiets zeigen, wurde von dieser Möglichkeit seitens der Grundstückseigentümer umfassend Gebrauch gemacht, der von Bebauung freizuhaltende Bereich verkleinerte sich durch die Errichtung von Schuppen und Gartenhäusern, die wohl hauptsächlich zur Bewirtschaftung der Nutzgärten gedient haben dürften, erheblich. Die Kläger haben nicht vortragen lassen, dass die – auch von der Beklagten angenommene Nutzung der rückwärtigen Grundstücksbereiche als Selbstversorgergärten für Obst – und Gemüseanbau im Sinne der „Reichsheimstätten“ – nicht vorgelegen habe.
Dass die rückwärtigen Grundstücksbereiche (auch) zu Erholungszwecken nutzbar sind – wie der Klägerbevollmächtigte aus dem Begriff des „Kleingartens“ folgert – lässt ohne das Hinzutreten der o.g. Kriterien für die Feststellung eines entsprechenden Planungswillens der Gemeinde nicht den Schluss zu, dass es sich bei der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenzen um nachbarschützende Regelungen handelt. Denn die jeweiligen Gartenbereiche sind zweifellos durch die jeweiligen Eigentümer zu Erholungszwecken nutzbar. Ein Anspruch auf das Fernbleiben jeglicher Bebauung in den Bereichen außerhalb der festgesetzten Baugrenzen auf den Nachbargrundstücken lässt sich aber auch daraus nicht herleiten.
Der Einschätzung des Prozessbevollmächtigten, für die Frage des entsprechenden Planungswillens der Gemeinde sei ausschließlich auf den Zeitpunkt des Erlasses des Bebauungsplans 1966 abzustellen, kann die Kammer nicht folgen. Zunächst ergeben sich aus der ursprünglichen Fassung – wie oben dargelegt – keine Anhaltspunkte für den Nachbarschutz der Festsetzungen. Darüber hinaus sind aber auch nachträgliche Änderungen des Bebauungsplans Äußerungen des Planungswillens der Plangeberin, die bei der Ermittlung der Frage, ob sie mit den Festsetzungen im Bebauungsplan jedenfalls auch nachbarschützende Belange verfolgte, zu berücksichtigen sind. Mit der Zulassung von Nebenanlagen nach § 14 BauNVO hat die Plangeberin den Charakter der rückwärtigen Grundstücksbereiche als Nutzfläche unterstrichen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Baugrenzenfestsetzung jedenfalls nicht einen Erholungsraum für das gesamte Geviert im Sinne einer schützenswerten Rechtsposition des einzelnen Grundstückseigentümer schaffen sollte.
Nach alldem ist aus den vorliegenden Unterlagen kein Planungswille der Gemeinde erkennbar – auch nicht durch wertende Betrachtung des Festsetzungszusammenhangs – mit den Baugrenzenfestsetzungen zu Gunsten der jeweiligen Grundstückseigentümer einen Ruhe- oder Erholungsbereich zu schaffen, der eine schützenswerte Rechtsposition aufgrund eines wechselseitigen Austauschverhältnisses und damit einen Abwehranspruch gegen Bauvorhaben außerhalb dieser Baugrenzen vermitteln könnte.
Sonstige Belange, aus welchen sich eine Unzumutbarkeit des Vorhabens für die Kläger aufgrund der erteilten Befreiung ergeben könnte, sind nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere können sich die Kläger nicht mit Erfolg darauf berufen, dass vorrangig die straßenseitig gelegene FlNr. … mit einem neuen Wohnhaus zu bebauen sei. Dieses Interesse ist rechtlich nicht geschützt.
3. Auch eine Verletzung des drittschützenden Rücksichtnahmegebots ist vorliegend nicht gegeben.
Gegen eine Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens spricht zum einen bereits, dass – unbestritten – die bauordnungsrechtlich erforderlichen Abstandsflächen eingehalten sind und damit eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung, wie von Art. 6 BayBO gefordert, gewährleistet ist (vgl. z.B. BVerwG v. 11.1.1999, 4 B 128.98, BayVBl. 1999, 568).
Eine Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Grundstück der Kläger ergibt sich auch nicht aus den durch das streitgegenständliche Bauvorhaben verwirklichten Größen- und Lageverhältnissen.
Eine derartige Wirkung des Bauvorhabens kann nur dann vorliegen, wenn ein durch seine Ausmaße und Gestaltung als außerordentlich zu qualifizierender Baukörper den Bewohnern des Nachbargrundstücks den Eindruck des „Eingemauertseins“ vermittelt (vgl. z.B. BVerwG v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris; BayVGH v. 17.7.2013 – 14 ZB 12.1153 – juris). Dies kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benach-barten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BayVGH v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris, m.w.N.). Dabei stellt, wie oben bereits ausgeführt, die – vorliegend gegebene – Einhaltung der landes-rechtlichen Abstandsflächen ein Indiz dafür dar, dass keine erdrückende Wirkung vorliegt (vgl. BayVGH v. 30.9.2015 – 9 CS 15.1115 – juris). Aus den sich bei den Akten befindlichen Planunterlagen ergeben sich für eine derartige Wirkung aufgrund Ausmaß und Höhenentwicklung des Bauvorhabens keinerlei Anhaltspunkte.
Demnach waren die Klagen abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Da die Beigeladene einen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Kosten den Klägern aufzuerlegen, § 162 Abs. 3 VwGO.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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