Baurecht

Keine Verletzung subjektiver Rechte bei Befreiung von nicht nachbarschützender Festsetzung

Aktenzeichen  1 CS 17.693

Datum:
23.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3, § 146 Abs. 4 S. 6
BauGB BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 55776). (Rn. 3) (red. LS Andreas Decker)
2 Bei einer Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung richtet sich der Nachbarschutz dagegen nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots. (Rn. 3) (red. LS Andreas Decker)
3 Der Inhalt eines nicht bestandskräftigen Vorbescheids ist in der Baugenehmigung erneut zu regeln. (Rn. 5) (red. LS Andreas Decker)

Verfahrensgang

M 11 SN 16.5738 2017-02-27 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die von der Antragstellerin innerhalb der gesetzlichen Begründungsfrist dargelegten Beschwerdegründe‚ auf deren Prüfung der Senat im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO)‚ rechtfertigen keine Änderung der angefochtenen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Klage der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird und das Interesse des Beigeladenen am Sofortvollzug demnach das gegenläufige Interesse der Antragstellerin überwiegt. Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses mit Stellplätzen unter (teilweiser konkludenter) Befreiung von den textlichen Festsetzungen 2.2 (Festsetzung von Baugrenzen), 2.6 (Zahl der festgesetzten Wohnungen in Wohngebäuden und „familiengerechte“ Ausbildung von mindestens zwei Wohnungen“) sowie 2.8 (Zulassung von Nebenanlagen – hier Errichtung von überdachten Fahrradstellplätzen – außerhalb der Baugrenzen) des Bebauungsplans „Nr. 35“ verletzt die Antragstellerin nicht in ihren Rechten.
Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin aufgrund der dem Beigeladenen erteilten Befreiungen (§ 31 Abs. 2 BauGB) in subjektiven Rechten verletzt wird. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – BauR 2013, 2011). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – NVwZ-RR 1999, 8). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verletzen die Befreiungen – selbst wenn man vorliegend davon ausginge, dass die erteilten Befreiungen objektiv rechtswidrig sind – mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Rechte der Antragstellerin. Vorliegend kommt nur die zweite Fallgestaltung in Betracht. Die Antragstellerin selbst macht eine nachbarschützende Wirkung der dem Vorhaben entgegenstehenden Festsetzungen des Bebauungsplans nicht geltend.
Eine Rücksichtslosigkeit aufgrund der Überschreitung der östlichen Baugrenze auf dem Grundstück der Beigeladenen liegt hier nicht vor. Angesichts des Umstands, dass nordöstlich des Grundstücks der Antragstellerin bereits die Baugrenze im rückwärtigen Grundstücksbereich überschritten ist in Gestalt eines Anbaus an ein bestehendes Wohngebäude und auch unter Berücksichtigung der besonderen Grundstückssituation (Tiefe der Grundstücke des Beigeladenen und der Antragstellerin im Mittel zwischen ca. 72 m und ca. 61 m) kann insoweit nicht von unzumutbaren Auswirkungen auf das Grundstück der Antragstellerin gesprochen werden. Denn bereits mit diesem Anbau wurden erstmals eine bauliche Nutzung und damit ein vergleichbares Störpotential in die ruhigen Grundstücksbereiche gebracht. Es kommt daher nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass es sich bei dem Vorhaben des Beigeladenen um ein zweites Wohngebäude im rückwärtigen Grundstücksbereich handelt. Im Übrigen hätte es der Bebauungsplan zugelassen, dass ein durchgängiges 24 m langes und gleich hohes Gebäude errichtet wird. Gleichermaßen ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragstellerin aufgrund der besonderen Tiefe ihres Grundstücks auch weiterhin im rückwärtigen Grundstücksbereich noch ein im Mittel ca. 30 m tiefer und von Bebauung freigehaltener Grundstücksbereich zur Verfügung steht. Das zu errichtende Vorhaben des Beigeladenen befindet sich im Übrigen weder an noch in der Nähe der Grundstücksgrenze zur Antragstellerin. Weiter ist in den Blick zu nehmen, dass auch die Errichtung von Garagen und Stellplätzen bereits nach der Festsetzung 4.1 des Bebauungsplans außerhalb der Baugrenzen zulässig ist. Eine zahlenmäßige Beschränkung ist nur für den Vorgartenbereich vorgesehen. Angesichts der in der Umgebung vorhandenen Garagen bzw. Stellplätze kann daher nicht mehr von einem erstmaligen Eindringen des Parkverkehrs in den Gartenbereich mit den damit verbundenen Belästigungen gesprochen werden. Im Übrigen führt weder die Erhöhung der Zahl der Wohneinheiten von fünf auf sechs Wohneinheiten zu einer Änderung des Gebietscharakters eines „allgemeinen Wohngebiets“, noch wird die Antragstellerin aufgrund der zu errichtenden Fahrradstellplätze unzumutbar beeinträchtigt.
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin können die erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans auch zweifelsfrei der Baugenehmigung entnommen werden. Die Antragstellerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass eine ausdrückliche Befreiung in Nummer II der Baugenehmigung nur für die Errichtung von überdachten Fahrradstellplätzen außerhalb der Baugrenzen ausgesprochen wurde. Die im Vorbescheid vom 3. August 2016 erteilten Befreiungen hinsichtlich der Überschreitung der östlichen Baugrenze und der Anzahl der Wohneinheiten sowie der Nichteinhaltung der Wohnungsgrößen waren, da der Vorbescheid gegenüber der Antragstellerin nicht bestandskräftig geworden ist, in der Baugenehmigung erneut zu regeln (vgl. BVerwG, U.v. 17.3.1989 – 4 C 14.85 – NVwZ 1989, 863). Diesen Vorgaben wird insoweit Rechnung getragen, als mit den Ausführungen in den Gründen der Baugenehmigung die beiden (bereits erteilten) Befreiungen noch einmal aufgenommen und damit zumindest konkludent erteilt wurden. Die im Zusammenhang mit den erteilten Befreiungen vorgenommene Auseinandersetzung mit den Belangen der Antragstellerin, die sich ausweislich des Wortlauts auf alle Befreiungen bezieht, ist nicht zu beanstanden. Damit war der Regelungsgehalt der Befreiungen auch für die Antragstellerin vollständig erkennbar. Dies gilt umso mehr, als auch nach dem genehmigten Plan das Ausmaß der Überschreitung der östlichen Baugrenze und die Erhöhung der Zahl der Wohnungen klar erkennbar sind. Aber auch unterstellt, dass vorliegend keine konkludenten Befreiungen erteilt oder aber in der Baugenehmigung erstmals Befreiungen erteilt worden wären, würde die Antragstellerin nicht eine für sie günstigere Rechtsposition erhalten. Denn der Drittschutz würde sich ausweislich der vorstehenden Ausführungen für die Antragstellerin im Ergebnis nicht verbessern.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass der Beigeladene seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt, weil er sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1‚ § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und orientiert sich an Nummer 9.7.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (vgl. Beilage 2/2013 zu NVwZ Heft 23/2013).

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