Baurecht

Nachbarklage gegen Baugenehmigung wegen behaupteter Verschlechterung der Hochwassersituation und wasserrechtliche Genehmigung

Aktenzeichen  RN 6 K 15.1980

Datum:
27.9.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 128063
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
WHG § 78 Abs. 3

 

Leitsatz

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Nachbar nicht in seinem Anspruch auf Wahrung des baurechtlichen Rücksichtnahmegebots iSv § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO verletzt wird, wenn eine bauliche Anlage ausnahmsweise in einem festgesetzten oder vorläufig gesicherten Überschwemmungsgebiet zugelassen wird. Die gesetzlichen Genehmigungsvoraussetzungen des § 78 Abs. 3 WHG sind deutlich strenger als der Maßstab der Unzumutbarkeit in § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO und lassen daher im Regelfall für seine Anwendung keinen Raum. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist in Ziffer II vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die im Hauptantrag zulässige Klage ist nicht begründet.
Die streitgegenständliche Baugenehmigung im Bescheid des Landratsamts … vom 14.10.2015 (Buchstabe A) verletzt die Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Wer als Nachbar eine Baugenehmigung anficht, kann damit nur Erfolg haben, wenn die Baugenehmigung gegen die zu prüfenden nachbarschützenden Vorschriften verstößt. Nachbar ist dabei nur derjenige, der ein eigenes dingliches Recht an einem Grundstück hat, das von dem Bauvorhaben tatsächlich und rechtlich betroffen sein kann. Zu den nachbarschützenden Vorschriften gehört auch das partiell nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme. Für den Anspruch eines Nachbarn ist es dagegen nicht maßgeblich, ob die Baugenehmigung in vollem Umfang und in allen Teilen rechtmäßig ist, insbesondere ob die Vorschriften über das Baugenehmigungsverfahren eingehalten wurden (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren prüft die Bauaufsichtsbehörde die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 – 38 BauGB und den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinn des Art. 81 Abs. 1 BayBO (Nr. 1), beantragte Abweichungen im Sinn des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Nr. 2) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Nr. 3).
Es ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass durch die Errichtung des streitgegenständlichen Bauvorhabens nachbarschützende Vorschriften, insbesondere das im Einzelfall nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme verletzt wird. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens richtet sich nach § 34 BauGB. Grundsätzlich endet der im Zusammenhang bebaute Ortsteil mit der letzten Bebauung, also vorliegend an der westlichen Grenze des Baugrundstücks, an der sich ein im Zuge des Bauvorhabens abzureißendes Nebengebäude befand. Das zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Genehmigung auf dem Baugrundstück befindliche Wohngebäude wurde im auszugsweise in Ablichtung vorgelegten Baugenehmigungsverfahren B-1 … baurechtlich genehmigt, nach Angaben des Beklagten liegt unter dem Aktenzeichen B-2 … auch die Genehmigung für die Errichtung eines Nebengebäudes vor. Dass das Gebäude seit längerem nicht mehr bewohnt war, spielt für die Abgrenzung des Innenbereichs zum Außenbereich keine entscheidende Rolle. Eine zeitlich begrenzte, auch länger andauernde Nutzungsunterbrechung im Innenbereich lässt die Wirksamkeit der Baugenehmigung grundsätzlich unberührt und rechtfertigt nicht den Schluss, der Inhaber einer Baugenehmigung habe die genehmigte Nutzung endgültig aufgegeben oder auf die Nutzung verzichten wollen (BayVGH, U.v. 1.2.2007 – 2 B 05.2470 – juris). Die Beseitigung des letzten zum Bebauungszusammenhang gehörenden Gebäudes zum Zweck der alsbaldigen Errichtung eines Ersatzbauwerks, die hier im Übrigen im maßgeblichen Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung noch nicht erfolgt war, bewirkt nicht, dass das Grundstück seine Innenbereichsqualität einbüßt und zu einem Außenbereichsgrundstück wird (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 121. EL Mai 2016 § 34 Rn.25).
Bei Vorhaben im nicht beplanten Innenbereich ist das Gebot der Rücksichtnahme entweder Bestandteil des Tatbestandsmerkmals des Einfügens im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77) oder es findet in den Fällen des § 34 Abs. 2 BauGB Anwendung über (den im Planbereich nach § 30 BauGB unmittelbar geltenden) § 15 Abs. 1 BauNVO, der eine Ausprägung des baurechtlichen Gebots der Rücksichtnahme ist und Anlagen für unzulässig erklärt, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden. Letztlich kann offenbleiben, ob § 34 Abs. 2 BauGB Anwendung finden kann, weil die Eigenart der Umgebung des Baugrundstücks unter Berücksichtigung der von den Klägern vorgetragenen Nutzung ihrer Grundstücke sowie des südlich befindlichen Gewerbes einem Baugebiet der Baunutzungsverordnung entspricht. Die Nutzung als Wohngebäude wäre sowohl in einem hier in Frage kommenden allgemeinen Wohngebiet als auch in einem Dorf- oder Mischgebiet unter Beachtung des Rücksichtnahmegebotes der Art nach zulässig bzw. die hier genehmigte Wohnnutzung fügt sich nach § 34 Abs. 1 BauGB in die nähere Umgebung, in der sich überwiegend Wohnbebauung befindet, ein.
Das genehmigte Wohnhaus ist auch nicht im Einzelfall rücksichtslos gegenüber den Klägern. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt nach der Rechtsprechung wesentlich von den jeweiligen Umständen ab (vgl. BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5/93 – juris). Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, welcher das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls wesentlich auf die Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 25.10.2010 – 2 CS 10.2137).
Soweit der Klägerin zu 1) auf dem Grundstück FlNr. 472 mit Bescheid vom 9.5.1995, … ein Pferdestall für die Unterbringung von maximal 2 Pferden zur Hobbytierhaltung genehmigt wurde, führt dies nicht zu einer Rücksichtslosigkeit des streitgegenständlichen Bauvorhabens. Das klägerische Bauvorhaben ist nicht privilegiert, da die Nutzung – wie auch in den vorgenannten Bauvorlagen ausdrücklich so bezeichnet – nicht einer Landwirtschaft, sondern einer Hobbytierhaltung dient. Dass die Kläger eine privilegierte Landwirtschaft im Sinne des BauGB betreiben, ist weder durch Vorlage entsprechender Bestätigungen belegt noch in irgendeiner Form ersichtlich. Unter dem Begriff der Landwirtschaft versteht man nach der in § 201 BauGB enthaltenen Legaldefinition u.a. den Ackerbau, die Wiesen- und Weidewirtschaft einschließlich Tierhaltung, soweit das Futter überwiegend auf den zum landwirtschaftlichen Betrieb gehörenden landwirtschaftlich genutzten Flächen erzeugt werden kann. Die Haltung der beiden Pferde wurde bereits von der Klägerin zu 1) selbst als Hobbytierhaltung bezeichnet. Ein landwirtschaftlicher Ackerbaubetrieb bzw. eine Wiesen- und Weidewirtschaft erfordert eine unmittelbare, planmäßige und eigenverantwortliche Bodenbewirtschaftung zur Gewinnung pflanzlicher Erzeugnisse. Ferner müsste die Tätigkeit nachhaltig, ernsthaft und mit Gewinnerzielungsabsicht erfolgen. Hierfür sind derzeit keine Anhaltspunkte erkennbar.
Nach der Baugenehmigung vom 9.5.1995 ist festgesetzt, dass die von der Gesamtanlage ausgehenden Geräusche (Heuboden, Stall, Futterbereich inklusive Pferde) an der nächstgelegenen Bebauung in einem Mischgebiet die Immissionsrichtwerte von tags 60 dB(A) und nachts 45 dB(A) nicht überschreiten dürfen. Der Stall befindet sich mehr als 100 Meter vom Bauvorhaben der Beigeladenen entfernt und muss bereits auf eine Vielzahl näher gelegener Wohnhäuser Rücksicht nehmen. Gleiches gilt für die Nutzung des näher zum Grundstück der Beigeladenen gelegenen Grundstücks Fl.Nr.473/2 als Pferdekoppel.
Selbst wenn das Bauvorhaben der Beigeladenen dem Außenbereich zuzuordnen wäre, ergäbe sich unabhängig von der nicht vorliegenden Privilegierung der klägerischen Nutzung ihrer Grundstücke sowie der darüber hinaus nicht erkennbaren konkreten Möglichkeit einer solchen Nutzungsaufnahme kein Aufhebungsanspruch, da nicht entsprechend dargelegt ist, in welcher Form konkrete und beachtliche Einschränkungen für die Kläger entstehen sollten. Allenfalls theoretisch denkbare, aber nicht in irgendeiner Form konkretisierte Nutzungsmöglichkeiten können im Rahmen der Prüfung des Rücksichtnahmegebots keine Berücksichtigung finden.
Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot kann auch nicht aus einer von den Klägern behaupteten Verschlechterung der Hochwassersituation, die sich negativ auf ihre angrenzenden Grundstücke auswirke, hergeleitet werden. Letztlich kann dahingestellt bleiben, ob die Frage der Verschlechterung der Hochwassersituation neben dem wasserrechtlichen Verfahren zusätzlich auch noch im baurechtlichen Verfahren im Rahmen des Rücksichtnahmegebots zu prüfen ist, weil das Vorhaben der Beigeladenen im Hinblick auf die Belange des Hochwasserschutzes den Klägern gegenüber jedenfalls nicht rücksichtslos ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Nachbar nicht in seinem Anspruch auf Wahrung des baurechtlichen Rücksichtnahmegebots i.S.v § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verletzt wird, wenn eine bauliche Anlage ausnahmsweise in einem festgesetzten oder vorläufig gesicherten Überschwemmungsgebiet zugelassen wird. Die gesetzlichen Genehmigungsvoraussetzungen des § 78 Abs. 3 WHG sind deutlich strenger als der Maßstab der Unzumutbarkeit in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO und lassen daher im Regelfall für seine Anwendung keinen Raum (OVG Hamburg, B.v. 28.1.2016 – 2 Bs 254/15, NVwZ-RR 2016, 6686). Demnach kann es vorliegend nicht darauf ankommen, ob die Berechnung des der Beigeladenen auferlegten Retentionsausgleichs wie von der Klägerseite behauptet möglicherweise Mängel aufweisen könnte. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes käme – wenn überhaupt – allenfalls dann in Betracht, wenn die Kläger durch das Bauvorhaben eine erhebliche Verschlechterung der bisherigen Situation mit erheblichen Nachteilen hinnehmen müssten. Ein Grundstückseigentümer hat unter Berufung auf das Rücksichtnahmegebot nicht das Recht, jegliches in seiner Nachbarschaft geplante Vorhaben, das die Wasserverhältnisse verändert, insbesondere eine situationsbedingt ohnehin vorhandene Hochwassergefahr steigern kann, abzuwehren. Es muss sich um spürbare, nicht völlig unerhebliche Nachteile handeln (VG Regensburg, U.v. 27.11.2014 – RO 2 K 13.842 unter Hinweis auf BayVGH, B.v. 6.6.2000 – 22 ZS 1252, BayVBl 2001,20). Wie unwahrscheinlich nachteilige Beeinflussungen sein müssen, hängt auch von den zu schützenden Rechtsgütern ab. Sind Gefahren für Leben, Gesundheit oder bedeutende Sachwerte denkbar, ist der erforderliche Grad der Unwahrscheinlichkeit höher als wenn es um die Abwehr „reversibler“ Schäden an landwirtschaftlich genutzten Grundstücken geht (BayVGH, B.v. 6.6.2000, a.a.O). Gemessen hieran ist bei Berücksichtigung der ausführlichen und plausiblen Erhebungen zur Hochwassersituation, der Beurteilung der wasserwirtschaftlichen Fachbehörde sowie der Nebenbestimmungen des wasserrechtlichen Bescheids eine solche nachteilige Beeinflussung der Verhältnisse nicht erkennbar. Unabhängig davon wäre nicht davon auszugehen, dass eine allenfalls bei sehr seltenen Hochwasserereignissen denkbare geringfügige Verschlechterung den Klägern unter Berücksichtigung des baurechtlich nachbarschützenden Rücksichtnahmegebots nicht mehr zumutbar wäre. Das von den Klägern geltend gemachte Interesse an einer Nutzung der bereits jetzt zumindest teilweise im Überschwemmungsgebiet gelegenen Grundstücke als Pferdeweide bzw. Grünland ist nicht so hoch zu bewerten, dass das Interesse der Beigeladenen an der Errichtung des Ersatzbaus auf dem bereits bebauten Grundstück dahinter zurücktreten müsste.
Die Klage kann auch unter dem Gesichtspunkt eines möglichen Abstandsflächenverstoßes sowie im Hinblick auf die behauptete mangelnde Einhaltung der Vorschriften über Brandschutz und Standsicherheit keinen Erfolg haben, weil die Frage der Einhaltung der diesbezüglichen bauordnungsrechtlichen Vorschriften nicht Gegenstand der Baugenehmigung ist. Dass der Baukörper und insbesondere die grenzständige Garage den Klägern gegenüber nicht zumutbar und damit rücksichtslos wäre, ist im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke nicht erkennbar.
Da nach alledem kein Verstoß gegen zu prüfende nachbarschützende Vorschriften vorliegt, musste die Klage im Hauptantrag abgewiesen werden.
Die in der mündlichen Verhandlung als Hilfsantrag erhobene Verpflichtungsklage auf bauaufsichtliches Einschreiten ist bereits unzulässig. Die Kläger haben bisher keinen entsprechenden Vorantrag bei der Behörde gestellt. Es fehlt daher am Rechtsschutzbedürfnis für die Klage.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO i.V.m § 100 Abs. 1 ZPO. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da diese keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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