Baurecht

Nachbarklage gegen Vorbescheid für die Errichtung eines Einfamilienhauses mit Carport (“faktische” Baugrenze)

Aktenzeichen  Au 5 K 16.285

Datum:
9.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 34 Abs. 1, § 36
BauNVO BauNVO § 23
BayBO BayBO Art. 6, Art. 71

 

Leitsatz

Eine nicht durch Bebauungsplan festgesetzte “faktische” Baugrenze hat keine nachbarschützende Wirkung. Dies schließt eine erfolgreiche Berufung eines Dritten auf die Einhaltung tatsächlicher “faktischer” Baugrenzen oder Baulinien aus. (redaktioneller Leitsatz)
Regelungen über das Maß baulicher Anlagen sind grundsätzlich ausschließlich im öffentlichen Interesse an der Erhaltung und Fortentwicklung der städtebaulichen Ordnung erlassen und nicht (auch) dem Schutz der Nachbarn zu dienen bestimmt. (redaktioneller Leitsatz)
Bei Einhaltung der landesrechtlich gebotenen Abstandsflächen ist den geschützten nachbarlichen Belangen Belichtung, Besonnung und Belüftung ausreichend Rechnung getragen und bleibt für eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme grundsätzlich kein Raum. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bauvorbescheid des Beklagten erweist sich zwar als rechtswidrig, verletzt aber keine Rechte des Klägers (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Für Rechtsbehelfe gegen den auf der Grundlage des Art. 71 BayBO erteilten Vorbescheid gelten dieselben Grundsätze wie für Rechtsbehelfe gegen die Baugenehmigung selbst (Decker in Simon/Busse BayBO, Stand: Januar 2016, Art. 71 Rn. 149). Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B. v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung bzw. der Bauvorbescheid gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstoßen, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind.
Das mit dem streitgegenständlichen Bauvorbescheid für grundsätzlich genehmigungsfähig erachtete Bauvorhaben des Beigeladenen (Bebauungsgenehmigung) verstößt weder in bauplanungsrechtlicher noch in bauordnungsrechtlicher Hinsicht gegen drittschützende Rechte des Klägers. Jedenfalls verletzt das streitgegenständliche Bauvorhaben keine in einem vereinfachten Genehmigungsverfahren zu prüfende Rechtsvorschriften, die auch dem Schutz des Klägers dienen, Art. 71 Satz 4, Art. 68 Abs. 1 Satz 1, Art. 59 Satz 1 BayBO.
2. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des mit dem Vorbescheid des Beklagten vom 27. Januar 2016 für genehmigungsfähig erachteten Bauvorhabens des Beigeladenen richtet sich vorliegend nach § 34 Abs. 1 bzw. 2 BauGB, wonach innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig ist, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Ein Vorhaben fügt sich im Allgemeinen ein, wenn es sich innerhalb des Rahmens hält, der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Ein den Rahmen überschreitendes Vorhaben ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn es keine „städtebaulichen Spannungen“ hervorruft (vgl. BVerwG, U. v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – BayVBl 1979, 152 ff).
Bei dem hier unter den Beteiligten im Wesentlichen streitigen Einfügen des Bauvorhabens hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche der näheren Umgebung wird zur Konkretisierung dieser Anforderungen auf die Vorschrift des §§ 23 BauNVO zurückgegriffen. Die planungsrechtlichen Instrumente Baugrenze, Baulinie und Bebauungstiefe (§ 23 Abs. 1 bis 4 BauNVO), mit denen die überbaubare Grundstücksfläche in einem Bebauungsplan festgesetzt werden kann, werden auch im Rahmen des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB zur näheren Bestimmung dieses Zulässigkeitskriteriums herangezogen (BayVGH, B. v. 19.12.2006 – 1 ZB 05.1371 – juris Rn. 16).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach den vorliegenden Plänen und Lichtbildern und insbesondere unter Berücksichtigung des im gerichtlichen Ortstermins gewonnenen Eindrucks fügt sich das Bauvorhaben des Beigeladenen hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein, weil es den für dieses Kriterium in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB der prägenden Umgebungsbebauung zu entnehmenden Rahmen überschreitet und im Falle seiner Realisierung bodenrechtlich bewältigungsbedürftige Spannungen auslöst (2.1). Ungeachtet dessen, dass das fehlende Einfügen des streitgegenständlichen Bauvorhabens hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche der näheren Umgebung zur objektiven Rechtswidrigkeit des Bauvorbescheides des Beklagten vom 27. Januar 2016 führt, ist dieser Umstand nicht geeignet, den Kläger in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten zu verletzen und einen Erfolg seiner Klage zu begründen (2.2).
2.1 In materiell-rechtlicher Hinsicht verstößt das Bauvorhaben des Beigeladenen gegen das Gebot des Einfügens in § 34 Abs. 1 BauGB. Zwar ist es hinsichtlich seiner Art der baulichen Nutzung unproblematisch zulässig, fügt sich aber jedenfalls hinsichtlich der Grundstückfläche nicht in die insoweit maßgebliche nähere Umgebung ein.
Das Vorhaben ist seiner Art nach – was zwischen den Beteiligten auch nicht strittig
ist – zulässig. Dies gilt unabhängig davon, ob vorliegend § 34 Abs. 1 oder § 34 Abs.
2 BauGB zur Anwendung kommt, da sich in der näheren Umgebung jedenfalls zahl
reiche Wohnhäuser befinden, so dass die Errichtung eines weiteren Wohngebäudes
zweifelsohne zulässig ist. Nach § 34 Abs. 2 BauGB beurteilt sich die Zulässigkeit des
Vorhabens, wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der
BauNVO entspricht, nach der Art seiner baulichen Nutzung allein danach, ob es nach
der Verordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre. Vorliegend fügt sich ein Einfamilienhaus von der Art der baulichen Nutzung ohne weiteres in die von Wohnnutzung geprägte nähere Umgebung ein. Dabei kann an dieser Stelle dahinstehen, ob das maßgebliche Bauquartier hier lediglich auf den Verlauf von …- und …-straße im Bereich zwischen den Grundstücken Fl.Nr. … (…-straße …) und Fl.Nr. … (…-straße …) zu beschränken ist, oder ob insoweit auch die weiteren vorhandenen Gebäude im westlichen Verlauf von …- und …-straße bis zum abschließenden Grundstück Fl.Nr. … (…-straße …) an der maßgeblichen näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BauGB teilnehmen. Ungeachtet der Reichweite der näheren Umgebung hinsichtlich des Merkmals „Art der baulichen Nutzung“ fügt sich ein weiteres Einfamilienhaus hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung in die von Wohnnutzung geprägte nähere Umgebung ein. Das von …- und …-straße gebildete Straßengeviert wird ungeachtet seiner Ausdehnung im Westen ausschließlich durch Wohnbebauung geprägt. Insoweit liegt die Annahme eines reinen Wohngebiets im Sinne von § 3 BauNVO nahe. Letztlich bedarf dies keiner abschließenden Entscheidung, denn Wohnnutzung enthält bauplanungsrechtlich kein Konfliktpotential gegenüber einer Wohnnutzung im Übrigen. Der Sinn und Zweck der Zulassung unterschiedlicher Nutzungsarten in den verschiedenen Baugebieten besteht darin, Konflikte widerstreitender Nutzungsarten durch eine Verweisung in ein anderes Baugebiet zu lösen. Ein solcher Widerspruch besteht vorliegend nicht, weil Wohnnutzung lediglich auf weitere Wohnnutzung trifft.
Das Bauvorhaben fügt sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche (§ 23 BauNVO) jedoch nicht in die insoweit maßgebliche nähere Umgebung ein.
Als nähere Umgebung ist grundsätzlich der umliegende Bereich anzusehen, soweit sich die Ausführung des Vorhabens auf ihn auswirken kann und soweit er seinerseits den bodenrechtlichen Charakter des zur Bebauung vorgesehenen Grundstücks prägt oder beeinflusst (vgl. BVerwG, U. v. 26.5.1978 – 4 C 9.77 – juris Rn. 33; B. v. 20.8.1998 – 4 B 79/98 – juris Rn. 7). Bei einem inmitten eines Wohngebiets gelegenen Vorhaben gilt in der Regel als Bereich gegenseitiger Prägung, der, der die maßgeblich nähere Umgebung eingrenzt, das Straßengeviert und die gegenüberliegende Straßenseite (vgl. BayVGH, B. v. 1.12.2011 – 14 CS 11.2577 – juris Rn. 26; B. v. 27.9.2010 – 2 ZB 08.2775 – juris Rn. 4). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist dabei eine Frage des Einzelfalles. Dabei ist die nähere Umgebung für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Bezugsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil diese jeweils eine Prägung mit unterschiedlicher Reichweite und Gewichtung entfalten können (BVerwG, B. v. 6.11.1997 – 4 B 172/97 – NVwZ-RR 1998, 539 f.; BayVGH, B. v 19.12.2006 – 1 ZB 05.1371 – juris Rn. 19).
Bei der hier im Wesentlichen streitigen überbaubaren Grundstücksfläche ist der maßgebliche Bereich in der Regel enger zu begrenzen als etwa bei der Art der baulichen Nutzung, weil die von den überbauten Grundstücksflächen ausgehende Prägung in ihrer Reichweite im Allgemeinen hinter den von der Art der baulichen Nutzung ausgehenden Wirkungen zurückbleibt (vgl. BayVGH, B. v. 25.4.2005 – 1 CS 043461 – juris Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, U. v. 23.9.1993 – 8 S 1281/93 – juris Rn. 22; OVG NRW, U. v. 7.11.1996 – 7 A 4820/95 – juris Rn. 36). Entscheidend ist auch hinsichtlich des Kriteriums der überbaubaren Grundstücksfläche, wie weit die wechselseitigen Auswirkungen im Verhältnis von Vorhaben und Umgebung im Einzelfall reichen.
Nach den dem Gericht vorliegenden Lageplänen, Luftbildern und den beim Orts-
augenschein gewonnenen Erkenntnissen beschränkt sich das für das Kriterium der überbaubaren Grundstücksfläche in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB maßgebliche Bauquartier vorliegend auf die sieben zwischen dem östlichen Ende der …-straße (Fl.Nr. … -…-straße … -) und dem im Westen an der kurzen Verbindung von …- und …-straße gelegenen Grundstück Fl.Nr. … (…-straße …) gelegenen Grundstücke. Denn dieses Quartier weist eine deutlich wahrnehmbare homogene Bebauungsstruktur auf, die sich östlich und westlich im weiteren Verlauf von …- bzw. …-straße so nicht fortsetzt. Die einheitliche Prägung dieser sieben Grundstücke und ihrer Bebauung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich in den vorderen, zur …-straße gerichteten Bereichen die Hauptgebäude finden und der rückwärtige Bereich dieser Grundstücke grundsätzlich im Sinne eines frei gehaltenen Gartenbereichs unbebaut ist und sich hier allenfalls vereinzelt kleinere Nebengebäude wie Garagen oder Schuppen befinden. Die Bebauung auf den vorbezeichneten maßgeblichen sieben Grundstücken folgt augenscheinlich einer erkennbaren Ordnungsstruktur, die durch das Fehlen von Hauptgebäuden im rückwärtigen Grundstücksbereich – von der Erschließungsstraße …-straße aus betrachtet – geprägt ist. Da sämtliche sieben maßgeblichen Baugrundstücke im Straßengeviert eine derartige einheitliche Bebauungsstruktur aufweisen, ist von einer wechselseitigen Prägung der Grundstücke im Sinne einer rückwärtigen „faktischen Baugrenze“ in den südlich ausgerichteten, von Hauptnutzungen freigehaltenen Grundstücksbereichen auszugehen. Sämtliche bislang im maßgeblichen Quartier vorhandenen Hauptnutzungen – auch die später hinzugekommenen – folgen dieser Bebauungsstruktur im Sinne einer rückwärtigen Baugrenze. Durchbrechungen mit einem Hauptgebäude in den südlich ausgerichteten Ruhezonen der Grundstücke finden sich in diesem Bauquartier bislang nicht.
Entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten ist hinsichtlich der maßgeblichen überbaubaren Grundstücksflächen nicht auf die Bereiche im östlichen Verlauf der …-straße bzw. westlich des abschießenden Grundstücks Fl.Nr. … abzustellen. Diese Bereiche westlich bzw. östlich des maßgeblichen Bauquartiers weisen bereits eine gänzlich andere Baustruktur als die einheitlich und homogen geprägten Grundstücke zwischen Fl.Nr. … und Fl.Nr. … auf. Insoweit liegt auch ein gänzlich anderer Grundstückszuschnitt mit kleineren Grundstücken insbesondere auf den Grundstücken Fl.Nr. …, …, …, … und … vor. Auch die Verbindung zwischen …- und …-straße, die im weiteren Verlauf in die …-straße mündet, bildet eine deutlich wahrnehmbare Zäsur zum einheitlich geprägten Bereich zwischen den Grundstücken an der …-straße … bis … Auch die gebotene engräumigere Betrachtungsweise hinsichtlich des Kriteriums der überbaubaren Grundstücksfläche und der insoweit nicht so stark ausgebildeten wechselseitigen Prägung der Baugrundstücke und ihrer Bebauung gebietet hinsichtlich der Prüfung des Merkmals „Einfügens“ im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB hier den aufgezeigten kleinräumigeren Ansatz.
Der Annahme einer rückwärtigen „faktischen“ Baugrenze steht nicht entgegen, dass sich im maßgeblichen Bauquartier vereinzelt in den Gartenbereichen kleinere bis mittlere Nebengebäude wie Garagen bzw. Schuppen etc. befinden. Für die Frage, ob eine hintere „faktische“ Baugrenze besteht, ist grundsätzlich nur die Hauptnutzung in den Blick zu nehmen, so dass eine Bebauung im rückwärtigen Bereich auch dann unzulässig ist, wenn dieser Bereich zwar nicht gänzlich unbebaut ist, sich dort jedenfalls aber nur Nebenanlagen wie Garagen oder Schuppen befinden (vgl. BVerwG, B. v. 6.11.1997 – 4 B 172/97 – juris; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: November 2015, § 34 Rn. 57). Lediglich in Fällen, in denen die Garagen- oder Nebengebäudebebauung derart groß und massiv ist, dass sie den Block-
innenbereich maßgeblich mitprägt, kann sie dazu führen, dass in diesem Bereich auch dort gegenwärtig nicht vorhandene Wohnnutzung zulässig ist. Dies bedarf vorliegend keiner Vertiefung, da zum einen die Nebennutzungen nur vereinzelt im maßgeblichen Bauquartier festzustellen sind, und darüber hinaus die vom Beigeladenen beabsichtigte Wohnnutzung noch weiter in den rückwärtigen Bereich eindringen soll, als die bislang im Bauquartier vorhandenen Nebengebäude.
Zusammenfassend lässt sich mit hinreichender Deutlichkeit für das maßgebliche Bauquartier hinsichtlich des Kriteriums der „überbaubaren Grundstücksfläche“ eine rückwärtige „faktische“ Baugrenze ablesen. Diese verläuft an den südlichen Fassaden der Hauptgebäude der Grundstücke …-straße … bis … (Grundstücke Fl.Nr. … bis …). Dieser Rahmen wird durch das streitgegenständliche Bauvorhaben deutlich überschritten und die festzustellende einheitliche Ordnungsstruktur aufgebrochen.
Das den durch die nähere Umgebung gezogenen Rahmen überschreitende Vorhaben ist auch nicht ausnahmsweise zulässig, weil es die Situation nicht in negativer Weise in Bewegung bringt oder verschlechtert. Ein Vorhaben, das den aus der Umgebung ableitbaren Rahmen zwar überschreitet, kann sich dennoch nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls einfügen, wenn es keine bodenrechtlich beachtlichen, bewältigungsbedürftigen Spannungen begründet oder erhöht. Ein solcher Fall ist jedoch dann nicht gegeben, wenn das Vorhaben selbst oder infolge seiner Vorbildwirkung die vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtert, stört oder belastet. Das geplante Bauvorhaben wäre hier wegen einer nicht auszuschließenden Vorbildwirkung geeignet, bodenrechtlich beachtliche Spannungen zu begründen oder vorhandene Spannungen zu erhöhen (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, a. a. O. § 34 Rn. 30). Als erster Siedlungsansatz in zweiter Reihe in einem Bereich, der bislang einheitlich durch zur …-straße hin ausgerichtete Hauptgebäude mit freigehaltenen rückwärtigen Garten- bzw. Ruhezonen geprägt wird, kommt dem Bauvorhaben eine negative Vorbildwirkung zu. Das Bauvorhaben würde die den bislang unversiegelten Flächen zukommende städtebauliche Funktion im Sinne einer rückwärtigen Ruhezone beeinträchtigen. Diese prägenden rückwärtigen Grundstücksbereiche sind derzeit unbebaut, aber aufgrund ihrer vergleichbaren Größe durchaus mit einem zusätzlichen weiteren Hauptgebäude bebaubar. Die Zulassung des Vorhabens des Klägers hätte somit eine erhebliche Veränderung, nämlich eine für das maßgebliche kleinräumige Gebiet bislang untypische Baudichte zur Folge und würde städtebauliche Spannungen auslösen.
Der Annahme einer rückwärtigen Baugrenze auf den maßgeblichen Grundstücken steht schließlich nicht entgegen, dass diese auch von der südlich verlaufenden …-straße dem Grunde nach erschlossen werden. Für das Vorhandensein einer „faktischen“ Baugrenze kommt es nicht darauf an, ob ein Baugrundstück von einer oder von mehreren Erschließungsstraßen erschlossen wird. Liegt im Falle einer Mehrfacherschließung eine von der einen Straße aus gesehen (hier …-straße) „rückwärtige“ Baugrenze vor, schließt das nicht aus, diese von der …-straße aus gesehen als „vordere“ Baugrenze zu qualifizieren (vgl. BayVGH, B. v. 19.12.2006 – 1 ZB 05.1371 – juris Rn. 21).
2.2 Die im maßgeblichen Bauquartier gebildet aus dem teilweisen Verlauf von …- und …-straße festzustellende faktische rückwärtige Baugrenze führt für sich betrachtet zur Rechtswidrigkeit des mit der Klage angegriffenen Bauvorbescheids, ist jedoch nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen und einen Erfolg seiner Klage zu begründen.
Dabei kann dahinstehen, ob mit wohl überwiegender Rechtsprechung Baugrenzen als Element des Maßes der baulichen Nutzung generell nachbarschützende Wirkung abgesprochen wird (vgl. VG München, B. v. 1.9.2010 – M 8 SN 10.3907 – juris) oder ob davon auszugehen ist, dass im Rahmen eines Bebauungsplans festgesetzte seitliche Baugrenzen und Baulinien regelmäßig nachbarschützend sind (vgl. VGH Baden-Württemberg, B. v. 2.6.2003 – 8 S 1098/03 – juris). Dies bedarf vorliegend keiner Entscheidung, denn soweit in der Rechtsprechung Baugrenzen überhaupt nachbarschützende Wirkung beigemessen wird, bezieht sich dies stets auf durch Bebauungsplan förmlich festgesetzte Baugrenzen (vgl. BayVGH, B. v. 23.11.2015 – 1 CS 15.2207 – juris Rn. 8). Vorliegend handelt es sich indes um eine faktische, einer gemeindlichen Zweckbestimmung im Rahmen der planerischen Entscheidung mithin entzogene Baugrenze. Dieser kommt keine drittschützende Wirkung zu (vgl. Geiger in Birkl, Stand: September 2015, Bauplanungs- und Immissionsschutzrecht, Rn. E 150). Dem maßgeblich objektiv-rechtlichen Rücksichtnahmegebot – hier entnommen aus dem Begriff des „Einfügens“ in § 34 Abs. 1 BauGB – kommt nur ausnahmsweise eine drittschützende Wirkung zu. Eine Ausnahme in diesem Sinne liegt nur vor, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Dies schließt eine erfolgreiche Berufung auf die Einhaltung tatsächlicher faktischer Baugrenzen oder Baulinien aus. Ob Baugrenzen oder Baulinien nachbarschützend sind oder ausschließlich städtebauliche Aussagen treffen, beurteilt sich nach ihrer Zweckbestimmung (Fickert/Fieseler, BauNVO, 11. Aufl. 2008, § 23 Rn. 6). Eine Zweckbestimmung lässt sich nur im Fall der Festsetzung von Baugrenzen oder Baulinien in einem Bebauungsplan nachvollziehen. Im Fall einer faktischen Baugrenze oder Baulinie ist hierfür kein Raum, da es an einer für die drittschützende Wirkung maßgeblichen planerischen Entscheidung der Gemeinde fehlt (VGH Baden-Württemberg, B. v. 15.11.1994 – 8 S 2937/94 – juris Rn. 3; OVG Sachsen, B. v. 20.10.2005 – 1 BS 251/05 – BauR 2006, 1104 ff.).
Ob auch im Übrigen ein Verstoß des angegriffenen Bauvorbescheids hinsichtlich des Einfügens bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung (§ 34 Abs. 1 BauGB, §§ 16-21 BauNVO) gegeben ist, kann dahinstehen. Die das Maß der baulichen Nutzung betreffenden Vorschriften vermitteln grundsätzlich keinen Nachbarschutz, weil sie in aller Regel den Gebietscharakter unberührt lassen und – anders als die Bestimmungen über die Art zulässiger Nutzungen – kein nachbarliches Austauschverhältnis der betroffenen Grundstücke begründen. Regelungen über das Maß baulicher Anlagen sind grundsätzlich ausschließlich im öffentlichen Interesse an der Erhaltung und Fortentwicklung der städtebaulichen Ordnung erlassen und nicht (auch) dem Schutz der Nachbarn zu dienen bestimmt (vgl. BVerwG, B. v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 – BauR, 82 f.; BayVGH, B. v. 25.1.2013 – 15 ZB 13.68 – juris).
Schließlich ist auch keine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme, dem Drittschutz beizumessen ist, festzustellen. Das mit Bauvorbescheid des Beklagten vom 27. Januar 2016 für genehmigungsfähig erachtete Bauvorhaben des Beigeladenen erweist sich nicht als ausnahmsweise gegenüber dem Kläger rücksichtslos. Werden die bauordnungsrechtlich erforderlichen Abstandsflächen (Art. 6 BayBO) eingehalten, so scheidet eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots im Hinblick auf die geltend gemachten Belange der ausreichenden Belichtung, Belüftung und Besonnung und der Wahrung des Wohnfriedens, die auch städtebauliche Bedeutung haben, in der Regel zumindest aus tatsächlichen Gründen aus (vgl. BayVGH, B. v. 8.8.2005 – 14 CS 05.2048 – juris).
Ein Verstoß des Vorhabens gegen das nicht im Prüfprogramm des Art. 59 Satz 1 BayBO enthaltenden Abstandsflächenrechts hat der Kläger schon nicht substantiiert geltend gemacht. Ein solcher ist auch nicht ersichtlich, da der vom Beigeladenen an der östlichen Grundstücksgrenze vorgesehene Carport für sich betrachtet die abstandsflächenrechtliche Privilegierung in Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO in Anspruch nehmen kann.
In der Rechtsprechung zum Rücksichtnahmegebot ist ferner anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots auch dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten bzw. in Aussicht gestellten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Bei der insoweit notwendigen Würdigung der konkreten Situation im Einzelfall ist jedoch zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die Verhinderung einer unzumutbaren einmauernden oder erdrückenden Wirkung auch zum Regelungszweck der landesrechtlichen Abstandsflächenbestimmungen gehört und daher mit Blick auf bauplanungsrechtliche Anforderungen zumindest aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot im Regelfall dann nicht verletzt ist, wenn die maßgeblichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten werden (vgl. BayVGH, B. v. 6.11.2008 – 14 ZB 08.2326 – juris Rn. 10; BVerwG, U. v. 11.1.1999 – 4 B 128/98 – NVwZ 1999, 879 f.).
Unter Anwendung dieser Grundsätze führt das vom Beklagten in Aussicht gestellte Bauvorhaben des Beigeladenen nicht zu unzumutbaren Auswirkungen für den Kläger. Es hat auf das Grundstück bzw. Gebäude des Klägers keine „abriegelnde“ oder „erdrückende“ Wirkung, die vor allem bei nach Höhe und Volumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B. v. 5.7.2011 – 14 CS 11.814 – juris Rn. 21). Ungeachtet dessen, dass aufgrund der festzustellenden Geländetopographie bei Verwirklichung des Bauvorhabens dieses deutlich und wahrnehmbar höher als das Wohngebäude des Klägers zu liegen käme, schließt bereits die Entfernung der Gebäude zueinander und die Tatsache, dass das geplante Wohngebäude des Beigeladenen einer auf dem Grundstück des Klägers unbebauten Fläche gegenüberläge, die Annahme einer erdrückenden Wirkung aus. Das Grundstück des Klägers würde zwar durch das Bauvorhaben in zweiter Reihe einen rechtlich nicht geschützten Lagevorteil verlieren. Jedoch stellt die Möglichkeit der vermehrten Einsichtnahme bzw. der Erhalt einer rückwärtigen Ruhezone kein Kriterium im Rahmen des Einfügens nach § 34 Abs. 1 BauGB dar, so dass auch insoweit ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot im Regelfall ausscheidet (vgl. BayVGH, B. v. 18.10.2010 – 2 ZB 10.1800 – juris). Für die Ausgestaltung des klägerischen Wohngebäudes als Niedrigenergiehaus mit nach Westen und Süden ausgerichteten großflächigen Glasfronten im Erd- bzw. Obergeschoss, hat letztlich nichts anderes zu gelten. Zwar mag es zutreffen, dass es bei Verwirklichung des Bauvorhabens des Beigeladenen insbesondere in den Wintermonaten zu einer deutlichen Beeinträchtigung bzw. Verschlechterung der Sonneneinstrahlung auf das Wohngebäude des Klägers kommen würde, jedoch genügt diese Annahme nicht für die Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme.
Die konkrete Konzeption eines Wohngebäudes kann nicht dazu führen, dass eine – hier aus anderen städtebaulichen Gründen nicht gegebene – Bebaubarkeit der rückwärtigen Bereiche des unmittelbar angrenzenden Grundstücks ausgeschlossen wird. Bei Einhaltung der landesrechtlich gebotenen Abstandsflächen ist den geschützten Belangen, Belichtung, Besonnung und Belüftung ausreichend Rechnung getragen und bleibt für eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme grundsätzlich kein Raum.
3. Nach allem ist der streitgegenständliche Bauvorbescheid des Beklagten vom 27. Januar 2016 zwar wegen der Verletzung einer rückwärtigen „faktischen“ Baugrenze rechtswidrig, verletzt den Kläger aber nicht in ihn schützenden subjektiv-öffentlichen Rechten. Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Da sich der Beigeladene ohne eigene Antragstellung keinem Prozesskostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlich entstandenen Aufwendungen selbst zu tragen hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg,
Hausanschrift: Kornhausgasse 4, 86152 Augsburg, oder
Postfachanschrift: Postfach 11 23 43, 86048 Augsburg,
schriftlich zu beantragen.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstr. 23, 80539 München, oder
Postfachanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München,
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4. das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind die in § 67 Absatz 2 Satz 1 und Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch die in § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO genannten Personen vertreten lassen.
Der Antragsschrift sollen 4 Abschriften beigefügt werden.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 7.500,- EUR festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz – GKG i. V. m. Nr. 9.7.1der Empfehlungen des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 200,- EUR übersteigt oder die Beschwerde zugelassen worden ist.
Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg,
Hausanschrift: Kornhausgasse 4, 86152 Augsburg, oder
Postfachanschrift: Postfach 11 23 43, 86048 Augsburg,
schriftlich einzureichen oder zu Protokoll der Geschäftsstelle einzulegen; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend. Der Mitwirkung eines Bevollmächtigten bedarf es hierzu nicht.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift sollen 4 Abschriften beigefügt werden.

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