Baurecht

Nachbarrechtsschutz gegen grenzüberschreitenden Anbau

Aktenzeichen  9 CS 15.1695

Datum:
24.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
BayBO BayBO Art. 6
BauNVO BauNVO § 22

 

Leitsatz

Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann (auch) vorliegen, wenn sich ein Vorhaben entgegen § 34 Abs. 1 BauGB nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Ergibt eine Bestandsaufnahme des Vorhandenen, dass die den Maßstab bildende Bebauung Gebäude mit und ohne seitlichen Grenzabstand umfasst, ohne dass eine Ordnung zu erkennen ist, die als abweichende Bauweise (vgl. § 22 Abs. 4 S. 1 BauNVO) eingestuft werden kann, dann hält sich sowohl ein Gebäude mit als auch ohne seitlichen Grenzabstand im Rahmen des Vorhandenen. (redaktioneller Leitsatz)
Für einen Überbau kann – anders als beim grenznahen Anbau – Art. 6 Abs. 5 S. 4 BayBO keine Anwendung finden, weil der Überbau keine “abweichende Abstandsflächentiefe” in Anspruch nimmt, sondern – ebenso wie der Grenzanbau – auf dem (Bau-)Grundstück keine Abstandsflächentiefe wahrt (vgl. Art. 6 Abs. 2 S. 1 BayBO). Im Ergebnis dürfte ein Überbau bei der Anwendung der abstandsrechtlichen Vorschriften einem Grenzanbau gleichzustellen sein. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 5 S 15.618 2015-07-28 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die den Beigeladenen vom Landratsamt M. erteilte Baugenehmigung vom 11. Juni 2015 i. d. F. des Ergänzungsbescheids vom 29. September 2015 für das Vorhaben „Anbau eines Büroraums und Errichtung einer Doppelgarage sowie eines Carports“ auf den Grundstücken Fl. Nr. 74 und 74/2 (Baugrundstück). Der genehmigte Büroanbau (neu) schließt im Osten an einen als grenznahen Überbau bereits vorhandenen Büroanbau (Baugenehmigung vom 8.10.2003) auf dem Beigeladenengrundstück an und ist, ebenfalls als Überbau, auf eine Länge von 7,925 m und einer Höhe von etwa 4,40 m im Bereich der gemeinsamen Grenze des Antragstellergrundstücks Fl. Nr. 74/1 und des Grundstücks der Beigeladenen geplant; der genehmigte Büroanbau (neu) schließt in seinem Westteil auf eine Länge von ca. 3,50 m bündig an ein insgesamt ca. 6,50 m langes Nebengebäude des Antragstellers an, das der Anbau (neu) um ca. 0,6 m überragt. Im Übrigen, also auf eine Länge von ca. 4,50 m, liegt der genehmigte Büroanbau (neu) zum Antragstellergrundstück hin frei. Der geplante Carport schließt im Wesentlichen bündig an ein grenzständiges Gebäude (z.T. ebf. ein Überbau) des Antragstellers im östlichen Teil der gemeinsamen Grundstücksgrenze an. Die genehmigte Doppelgarage soll an der vom Antragstellergrundstück abgewandten Nordgrenze des Baugrundstücks errichtet werden.
Gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 11. Juni 2015 hat der Antragsteller am 9. Juli 2015 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden wurde (Az.: W 5 K 15.67). Gleichzeitig beantragte der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen. Das Verwaltungsgericht lehnte den Eilantrag mit Beschluss vom 28. Juli 2015 ab. Auf eine etwaige Verletzung abstandsflächenrechtlicher Vorschriften könne sich der Antragsteller nicht berufen, weil über die einzuhaltenden Abstandsflächen im vereinfachten Genehmigungsverfahren nicht entschieden worden sei. Ein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot liege voraussichtlich nicht vor. Der Antragsteller habe im Jahr 2013 einer vorausgegangenen, bauaufsichtlich genehmigten, aber nicht realisierten Eingabeplanung zugestimmt, die sich nicht wesentlich von der gegenständlichen Eingabeplanung unterscheide.
Am 29. September 2015 ergänzte der Antragsgegner die Baugenehmigung vom 11. Juni 2015 um eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zum Grundstück des Antragstellers hin. Der Antragsteller hat seinen Klageantrag beim Verwaltungsgericht am 9. Oktober 2015 insoweit erweitert. Die Abweichungsentscheidung umfasst der Bescheidsbegründung nach den Grenzüberbau im westlichen Bereich der südlichen Grundstücksgrenze auf eine Länge von ca. 12,89 m (davon ca. 5 m vorhandener Büroanbau + 7,925 m geplanter Büroanbau/neu).
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Er ist der Ansicht, das Vorhaben der Beigeladenen beeinträchtige sein Grundstück unzumutbar, insbesondere dessen Gartennutzung. Die Abstandsflächen seien nachbarschützend; das Bauvorhaben halte auf eine Länge von 12,89 m keinen Abstand ein. Der soziale Wohnfriede sei beeinträchtigt, die Ermessensentscheidung des Landratsamts sei nicht nachvollziehbar. Darin liege eine wesentliche Beeinträchtigung des Grundstücks des Antragstellers.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 28. Juli 2015 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Baugenehmigungsbescheid des Landratsamts vom 11. Juni 2015 in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 29. September 2015 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die angegriffene Baugenehmigung verletze den Antragsteller nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht in eigenen Rechten. Das Wohnhaus des Antragstellers sei ca. 10 m von Vorhaben der Beigeladenen entfernt. Ein solcher Abstand sei bei Würdigung der Gesamtumstände als ausreichend anzusehen, um einen Rücksichtnahmeverstoß ausschließen zu können. Eine Verschattung des Gartens des Antragstellers sei nicht zu besorgen, weil das Vorhaben nördlich des Antragstellergrundstücks zu liegen komme. Im Übrigen sei der Ergänzungsbescheid vom 29. September 2015 ergangen, mit dem hilfsweise eine Abweichung von den gesetzlichen Abstandsflächen erteilt worden sei.
Die Beigeladenen sind der Auffassung, der Antragsteller habe den am 11. September 2013 genehmigten Bauplan genau studiert und insoweit auch eine statische Berechnung gefordert.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Behördenakten des Landratsamts verwiesen.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf die die Prüfung im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz jedenfalls im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Es sind auch keine Änderungen eingetreten, die ein dem Antragsteller günstigeres Ergebnis herbeiführen könnten.
1. Der zwischen den Beteiligten umstrittenen Frage, ob dem Antragsteller der Umfang des mit Bescheid vom 11. September 2013 genehmigten Bauvorhabens bewusst war, muss nicht weiter nachgegangen werden. Die Beigeladenen haben im Baugenehmigungsverfahren erklärt, das der Baugenehmigung vom 11. September 2013 zugrunde liegende Vorhaben nicht mehr auszuführen (ausweislich der Feststellungen des Landratsamts wurde das mit Bescheid vom 11. September 2013 genehmigte Vorhaben zum Teil planabweichend begonnen). Die Baugenehmigung vom 11. September 2013 ist deshalb erloschen. Mit dem Erlöschen der Baugenehmigung wird die in der Unterschrift liegende Zustimmung des Nachbarn gegenstandslos (vgl. Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, Stand Januar 2016, Art. 66 Rn. 163 f. m. w. N.). Davon abgesehen erfasst die Nachbarzustimmung des Antragstellers lediglich einen Büroanbau (neu) mit einer Länge von 7,185 m. Die Unterschrift des Nachbarn auf den Bauvorlagen deckt aber keine späteren Änderungen oder Tekturen (vgl. Dirnberger in Simon/Busse, a. a. O., Art. 66 Rn. 149 f. m. w. N.).
2. Die Ausführungen des Antragstellers zur Beeinträchtigung seines Grundstücks durch den zugelassenen Büroanbau lassen keine Rechtsverletzung des Antragstellers erkennen.
a) Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Baugenehmigung das nachbarschützende Rücksichtnahmegebot zulasten des Antragstellers voraussichtlich nicht verletzt.
Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im unbeplanten Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn die angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Dies ist der Fall, wenn das genehmigte Vorhaben zwar in jeder Hinsicht den aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmen wahrt, sich aber gleichwohl in seine Umgebung nicht einfügt, weil es an der gebotenen Rücksicht auf die sonstige, also vor allem auf die in unmittelbarer Nähe vorhandene Bebauung fehlt. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann (auch) vorliegen, wenn sich ein Vorhaben entgegen § 34 Abs. 1 BauGB nach den dort genannten Merkmalen nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Maßgebend für den Verstoß gegen Rechte eines Nachbarn ist insoweit, dass sich aus den individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet (st. Rspr., vgl. z. B. BVerwG, U. v. 19.3.2015 – 4 C 12.14 – NVwZ 2015, 1769 = juris Rn. 9 ff. m. w. N.).
Wie der im Genehmigungsverfahren eingereichte Lageplan M 1:1000 erkennen lässt, sind in der näheren Umgebung Gebäude sowohl in offener als auch in halboffener Weise (z.T. auch nur grenznah) vorhanden. Ergibt die im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB durchzuführende Bestandsaufnahme des Vorhandenen, dass die den Maßstab bildende Bebauung Gebäude mit und ohne seitlichen Grenzabstand umfasst, ohne dass eine Ordnung zu erkennen ist, die als abweichende Bauweise (vgl. § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO) eingestuft werden kann, dann hält sich sowohl ein Gebäude mit als auch ein Gebäude ohne seitlichen Grenzabstand im Rahmen des Vorhandenen (vgl. BayVGH, U. v. 25.11.2013 – 9 B 09.952 – juris Rn. 46; vgl. auch BVerwG, B. v. 11.3.1994 – 4 B 53.94 – NVwZ 1994, 1008 = juris Rn. 4). Angesichts der tatsächlichen Umstände ist deshalb wohl davon auszugehen, dass in der hier nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB zu beurteilenden planungsrechtlichen Situation an die Grenze gebaut werden darf (vgl. BayVGH, B. v. 8.10.2013 – 9 CS 13.1636 – juris Rn. 11 m. w. N.) oder doch zumindest, dass die Errichtung des Büroanbaus im Grenzbereich den Rahmen der Umgebungsbebauung hinsichtlich der Einfügensmerkmale des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nach der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht verlässt.
Einschränkend ist vorliegend zu berücksichtigen, dass das Hauptgebäude auf dem Antragstellergrundstück an keiner Seite grenzständig oder grenznah situiert ist; Zweifel hieran können allerdings angesichts der vom Antragsteller mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Lichtbilder Nr. 1 und 2 aufkommen, die wahrscheinlich ein Aufenthaltszwecken dienendes Geschoss über der Grenzgarage des Hauptgebäudes erkennen lassen. Die Errichtung des Büroanbaus ohne seitlichen Grenzabstand kann unter Beachtung des im Begriff des Einfügens i. S. d. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgehenden Gebots der Rücksichtnahme bzw. entsprechend dem Rechtsgedanken des § 22 Abs. 3 BauNVO im Einzelfall unzulässig sein, wenn die vorhandene Bebauung auf dem Antragstellergrundstück eine Abweichung erfordert. Dies ist aufgrund einer Abwägung zwischen den auf der vorhandenen Bebauung beruhenden, objektiv für ein Abrücken von einer seitlichen Grundstücksgrenze sprechenden Gründen auf der einen und dem Interesse des Bauherren, die an sich gegebene Möglichkeit des Grenzanbaus auszunutzen, auf der anderen Seite zu bestimmen (vgl. König in König/Roeser/Stock, BauNVO, 3. Auflage 2014, § 22 Rn. 26 m. w. N.).
Für ein besonders gewichtiges Interesse des Antragstellers am Abrücken des Büroanbaus im Bereich der gemeinsamen Grundstücksgrenze spricht hier wenig. Der insgesamt ca. 12,90 m lange Büroanbau (alt und neu) im Grenzbereich wird auf eine Länge von ca. 6,50 m weitgehend vom Nebengebäude des Antragstellers verdeckt. Aufgrund der Situierung des Büroanbaus im Westteil des Baugrundstücks (Fl. Nr. 74/2 und 74) und des deutlich schrägen Verlaufs der Westgrenze des Antragstellergrundstücks entfaltet der Büroanbau nachteilige Wirkungen vornehmlich auf den Westteil des Antragstellergrundstücks. Dieser Teil des Antragstellergrundstücks mit dreieckigem Zuschnitt wird nach Angaben des Antragstellers gärtnerisch genutzt; er erscheint des spitzwinkligen Verlaufs der Westgrenze wegen für eine weitergehende Bebauung mit einem Hauptgebäude nur bedingt geeignet. Angesichts der Lage des Wohnhauses im östlichen Teil des Antragstellergrundstücks ist deshalb nicht ersichtlich, dass die Situierung des Büroanbaus im Bereich der Grundstücksgrenze eine gegenüber dem Antragstellergrundstück unzumutbare abriegelnde oder erdrückende Wirkung auslösen würde. Der Einwand des Antragstellers, sein Nutzgarten werde verschattet, überzeugt nicht, weil der Büroanbau im Bereich der Nordgrenze des Antragstellergrundstücks zur Ausführung kommen soll. Weshalb der zum Antragstellergrundstück hin öffnungslose Büroanbau den „sozialen Wohnfrieden“ gefährden soll, ist nicht nachvollziehbar. Sonstige Umstände, die eine vorhabenbedingte Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme zulasten des Antragstellers begründen könnten, sind nicht ersichtlich. In der Gesamtschau sind die vom Vorhaben ausgehenden Wirkungen zulasten des Antragstellergrundstücks demnach voraussichtlich noch zumutbar. Bei Würdigung der tatsächlichen Umstände überwiegt deshalb voraussichtlich das Interesse der Beigeladenen, die aus der Umgebungsbebauung folgende Möglichkeit eines Grenzanbaus auszunutzen, das gegenläufige Interesse des Antragstellers, vor einer Grenzbebauung verschont zu bleiben.
b) Die im Ergänzungsbescheid vom 29. September 2015 erteilte Abweichung von den gesetzlichen Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1, Abs. 4 und Abs. 5 BayBO wegen fehlender Abstandsfläche des Büroanbaus (alt und neu) auf einer Länge von ca. 12,90 m zu dem Grundstück des Antragstellers konnte vom Verwaltungsgericht noch nicht berücksichtigt werden. Sie verletzt nach summarischer Prüfung voraussichtlich keine nachbarschützenden Rechte des Antragstellers.
Nach der dem Städtebau den Vorrang einräumenden Bestimmung in Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an den Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder – wie hier – gebaut werden darf (vgl. Dhom/Franz/Rauscher in Simon/Busse, BayBO, Stand Januar 2016, Art. 6 Rn. 47 m. w. N.). Dass der Büroanbau teilweise als Überbau errichtet ist bzw. werden soll, hindert die Anwendung des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO wohl nicht; diese Bestimmung dürfte in der konkreten baulichen Situation jedenfalls entsprechend anzuwenden sein. Dem steht die Entscheidung des 1. Senats des Verwaltungsgerichtshofs (B. v. 3.4.2014 – 1 ZB 13.2536 – juris Rn. 11 m. w. N.), auf die das Verwaltungsgericht hinweist, nicht entgegen. Denn im Unterschied zu dieser Entscheidung geht es vorliegend nicht um einen „grenznahen Anbau mit Abstandsflächen, die kleiner als die gesetzlich vorgeschriebenen sind“, sondern um einen grenzüberschreitenden Anbau. Für einen Überbau kann – anders als beim grenznahen Anbau – Art. 6 Abs. 5 Satz 4 BayBO aber keine Anwendung finden, weil der Überbau gerade keine „abweichende Abstandsflächentiefe“ in Anspruch nimmt, sondern – ebenso wie der Grenzanbau – auf dem (Bau-) Grundstück keine Abstandsflächentiefe wahrt (vgl. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO). Da das Gebot des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO, wonach Abstandsflächen auf dem Baugrundstück selbst liegen müssen, weder dazu dient, einen Überbau (§§ 912 ff. BGB) abzuwenden, noch bezweckt, einen Überbau besser zu stellen als ein ohne Einhaltung der erforderlichen Abstandsflächen an oder nahe der Grenze stehendes Gebäude, dürfte ein Überbau bei der Anwendung der abstandsrechtlichen Vorschriften im Ergebnis einem Grenzanbau gleichzustellen sein. Diese Handhabung erscheint auch mit Blick auf die zivilrechtliche Lösung des Problems von Überbauten sachgerecht. Muss der Grundstückseigentümer gemäß § 912 Abs. 1 BGB den Überbau des Nachbarn dulden, unterliegt der hinübergebaute Gebäudeteil nicht der in § 94 Abs. 1, § 946 BGB enthaltenen Grundregel, dass der Duldungspflichtige Eigentümer ist; vielmehr tritt entsprechend § 95 Abs. 1 Satz 2 BGB die Wirkung ein, dass der Gebäudeteil als Scheinbestandteil des überbauten Grundstücks gemäß § 93, § 94 Abs. 2 BGB wesentlicher Bestandteil des Grundstücks bleibt, von welchem aus übergebaut wurde. Dessen Eigentümer ist auch Eigentümer des überbauten Gebäudeteils (vgl. BGH, U. v. 17.1.2014 – V ZR 292.12 – MDR 2014, 460 = juris Rn. 23 m. w. N.). Für die öffentlich-rechtlichen Abstände gilt § 912 Abs. 1 BauGB nicht (vgl. Dhom/Franz/Rauscher in Simon/Busse, a. a. O., Art. 6 Rn. 646). Obschon die Pflicht zur Freihaltung von Abstandsflächen an die Lage der Gebäudeaußenwand anknüpft, erscheint es in Ansehung der eigentumsrechtlichen Stellung des Überbauenden am übergebauten Bauteil, der aus § 912 Abs. 1 BGB folgenden Duldungspflicht des durch den Überbau Belasteten, die ihn daran hindert, vom Erbauer das Zurücksetzen des Gebäudes zu fordern, und der aus dem Abstandsflächenrecht folgenden schutzwürdigen Nachbarbelange unbillig, wenn sich die Abstandsflächen des übergebauten Bauteils auch ohne Abstandsflächenübernahmeerklärung des durch den Überbau Belasteten auf dessen Grundstück erstrecken würden. Ein solch unbilliges Ergebnis wird vermieden, wenn ein Überbau zugunsten des zu seiner Duldung verpflichteten Nachbarn wie ein Grenzanbau behandelt wird.
Nicht zu prüfen ist allerdings, ob der errichtete und neue Büroanbau die Anforderungen des § 912 Abs. 1 BGB erfüllt. Denn die öffentlich-rechtliche Baugenehmigung gibt dem Bauherrn kein privates oder öffentliches Recht zum Überbau und legt dem Nachbarn keine Pflicht auf, den Überbau zu dulden (Art. 68 Abs. 4 BayBO; vgl. Lechner in Simon/Busse, BayBO, Stand Januar 2016, Art. 68 Rn. 258, 268 m. w. N.; vgl. BayVGH, U. v. 8.9.1998 – 27 B 96.1407 – BayVBl 1999, 215; BayVGH, B. v. 11.7.2013 – 15 ZB 13.1238 – juris Rn. 6 m. w. N.).
Findet Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO demnach Anwendung, weil der Überbau wie ein Grenzanbau zu behandeln sein dürfte, dann geht die erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften hinsichtlich der seitlichen Grundstücksgrenze hier ins Leere (vgl. Dhom/Franz/Rauscher in Simon/Busse, BayBO, Stand Januar 2016, Art. 6 Rn. 47 m. w. N.). Zugunsten des Antragstellers würde durch die erteilte Abweichung in erster Linie klargestellt, dass sich keine Abstandsflächen des Überbaus auf sein Grundstück erstrecken.
Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht billigem Ermessen, dass die Beigeladenen die ihnen im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten selbst tragen, weil sie keinen wesentlichen Beitrag im Beschwerdeverfahren geleistet haben (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen