Baurecht

Offenkundiger Mangel eines Bebauungsplanes durch Widerspruch zwischen (hier: hydrologischem) Gutachten und Planfestsetzungen

Aktenzeichen  15 N 15.292, 15 N 15.293

Datum:
19.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 7007
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 1 Abs. 6 Nr. 12, Abs. 7, § 2 Abs. 3, § 214, § 215

 

Leitsatz

1 Widersprechen die zeichnerischen und textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans den Vorgaben des hydrologischen Gutachtens und damit auch dem Willen der Gemeinde, die Bebauung im Bereich des Überschwemmungsgebiets diesen Vorgaben anzupassen, handelt es sich hierbei um einen offenkundigen Mangel des Abwägungsergebnisses, der die Unwirksamkeit der Festsetzungen zur Folge hat. (Rn. 18) (red. LS Alexander Tauchert)
2 Hätte die Gemeinde nach ihrem im Planungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen den Bebauungsplan nicht ohne den unwirksamen Teil beschlossen, führt die Unwirksameit eines Teils des Bebauungsplans zu dessen Gesamtunwirksamkeit. (Rn. 19) (red. LS Alexander Tauchert)

Tenor

I. Der am 15. November 2014 und erneut am 26. November 2016 bekannt gemachte Bebauungsplan mit Grünordnungsplan „GE/MI K. Deckblatt 4“ der Stadt M. ist unwirksam.
II. Die Antragsgegnerin und die Beigeladene zu 1 tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte. Die Beigeladenen zu 2 bis 6 tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Normenkontrollanträge haben Erfolg.
1. Die Normenkontrollanträge sind zulässig. Der Antragsteller ist bereits deshalb antragsbefugt, weil er Eigentümer von im Plangebiet gelegenen Grundstücken ist und sich (u.a.) gegen Festsetzungen wendet, die für seine Grundstücke gelten sollen. Die Antragstellerin als Erbbauberechtigte der an das Plangebiet angrenzenden und bereits bebauten Grundstücke mit den FlNrn. 538 und 539 kann ihre Antragsbefugnis jedenfalls aus den im Rahmen der planerischen Abwägung zu berücksichtigenden Belangen des Hochwasserschutzes (§ 1 Abs. 6 Nr. 12 BauGB) herleiten, die unmittelbar auch ihre Grundstücke betreffen. Sonstige Zweifel an der Zulässigkeit der Normenkontrollanträge bestehen nicht.
2. Die Normenkontrollanträge sind auch begründet.
a) Der Einwand der Antragsteller, die Antragsgegnerin habe die Vorbelastung des Plangebiets durch betrieblichen Lärm auf außerhalb des Plangebiets liegenden Grundstücken (Gaststätte mit Biergarten auf FlNr. 1076 sowie diverse Gewerbebetriebe auf den FlNrn. 538 und 539) zum Nachteil der künftigen Wohnnutzung im geplanten Mischgebiet (MI 4: Betreutes Wohnen) und im geplanten Sondergebiet „Seniorenzentrum“ (SO 1 – 3) nicht beachtet, hat sich allerdings als nicht gerechtfertigt erwiesen. Die im gerichtlichen Verfahren vorgelegten ergänzenden schalltechnischen Gutachten und Stellungnahmen vom 18. Januar 2017 und 21. Februar 2018 haben vielmehr die im Planverfahren vorgenommene Einschätzung der Antragsgegnerin bestätigt, dass die Lärmvorbelastung des Plangebiets durch die Betriebe auf den Grundstücken mit den FlNrn. 538, 539 und 1076 als irrelevant einzustufen ist, da sie an den für die Beurteilung maßgeblichen Immissionsorten die einschlägigen Immissionsrichtwerte der TA Lärm von 60 dB(A) tags und 45 dB(A) nachts deutlich um mindestens 18 dB(A) tags bzw. 8 dB(A) nachts unterschreitet.
b) Die im Bebauungsplan zum Mischgebiet (MI) 4 (Betreutes Wohnen) getroffenen Festsetzungen sind jedoch unwirksam, weil die Antragsgegnerin den im Planverfahren hierzu ermittelten Belangen des Hochwasserschutzes nicht Rechnung getragen hat. Damit leiden die Festsetzungen an einem beachtlichen Abwägungsmangel (§ 1 Abs. 7, § 2 Abs. 3, §§ 214, 215 BauGB), der – weil darin ein Mangel des Abwägungsergebnisses liegt – ohne Änderung der Festsetzungen des Bebauungsplans auch durch eine erneute Abwägung nicht heilbar ist.
aa) Dem Planverfahren liegt ein hydrologisches Gutachten vom Oktober 2010, ergänzt im August 2011, zu Grunde, welches die Auswirkungen des im festgesetzten Überschwemmungsgebiet (und im MI 4) liegenden Bauvorhabens (Wohnbau Betreutes Wohnen mit Verkehrsflächen) auf die Hochwassersituation bei einem 100-jährlichen Hochwasserereignis berechnen sollte. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass sich durch das Bauvorhaben nur dann keine Verschlechterung der Hochwassersituation für Dritte ergibt, wenn – abgesehen von einem Verlust des Retentionsraums durch die Bebauung, der an anderer Stelle auszugleichen ist – südlich des Bauvorhabens und der daran angrenzenden Verkehrsflächen das Gelände hin zum Öchslhofer Bach, der unmittelbar entlang der südlichen Grundstücksgrenze verläuft, auf eine Höhe von 417 m über NN abgetragen wird (vgl. Seite 13, Abbildung 11 des hydrologischen Gutachtens vom Oktober 2010 über die vorzunehmenden Geländeveränderungen [= „Dritter Optimierungsschritt“], die notwendig sind, damit das Bauvorhaben mit den dazugehörigen Verkehrsflächen keine Verschlechterung der Hochwassersituation für Dritte zur Folge hat und nur noch ein lokal begrenzter Bereich mit einem Wasserspiegelanstieg auf dem Baugrundstück selbst verbleibt). In der mündlichen Verhandlung hat der Ersteller des Gutachtens – ohne dass dies von einem der Beteiligten in Zweifel gezogen worden wäre – nochmals klargestellt, dass die im dritten Optimierungsschritt für das Gebiet MI 4 dargestellte Geländeabtragung im südlichen Bereich des Grundstücks auf eine Höhe von 417 m über NN zwingend vorzunehmen ist.
bb) Die zuständigen Fachbehörden (Wasserwirtschaftsamt und Landratsamt) haben im Rahmen des Planverfahrens stets darauf hingewiesen, dass eine Bebauung im MI 4 aus wasserwirtschaftlicher Sicht nur dann hingenommen werden kann, wenn der Bebauungsplan den Vorgaben des hydrologischen Gutachtens (unter anderem in Bezug auf die vorzunehmenden Geländeveränderungen) Rechnung trägt. Dies ist jedoch entgegen der Annahme der Antragsgegnerin tatsächlich nicht der Fall. Die Antragsgegnerin hat zwar im Bebauungsplan festgesetzt, dass Geländeveränderungen im MI 4 außerhalb der zulässigen überbaubaren Grundstücksflächen wie folgt vorzunehmen sind: „Gelände im Süden der Bebauung auf 417,00 m ü. NN“ und „Gelände im Norden und Osten der Bebauung auf 416,85 m ü. NN“ (vgl. Nr. 5.7.2 der textlichen Festsetzungen). Sie hat jedoch gleichzeitig die zu den überbaubaren Grundstücksflächen gehörenden Verkehrsflächen räumlich bis hinunter zur südlichen Grenze des Baugrundstücks festgesetzt. Die Verkehrsflächen grenzen damit unmittelbar an den Öchslhofer Bach an. Für die im hydrologischen Gutachten in diesem südlichen Grundstücksbereich geforderte Geländeabtragung auf 417 m über NN ist damit nach den Festsetzungen des Bebauungsplans kein Raum mehr. Darüber hinaus setzt der Bebauungsplan für die Verkehrsflächen (ebenso wie für die geplante Bebauung) in MI 4 eine Höhenlage von mindestens 417,35 m über NN fest (vgl. Nr. 5.7.1 der textlichen Festsetzungen). Damit normiert der Bebauungsplan anstatt der im hydrologischen Gutachten geforderten Geländeabtragung im südlichen Grundstücksbereich sogar eine Erhöhung des Geländes auf mindestens 417,35 m über NN. Im Übrigen lässt der Bebauungsplan nach seinen Festsetzungen in den Verkehrsflächen unstreitig auch den Bau (massiver) Garagenanlagen zu, obwohl – wie der Ersteller des hydrologischen Gutachtens in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt hat – im südlichen Grundstücksbereich derartige bauliche Anlagen keinesfalls errichtet werden dürfen.
cc) Die zeichnerischen und textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans zum MI 4 widersprechen nach alledem den Vorgaben des hydrologischen Gutachtens und damit auch dem Willen der Antragsgegnerin, die Bebauung im Bereich des Überschwemmungsgebiets diesen Vorgaben anzupassen (vgl. hierzu Nr. 7.2.4 der Begründung zum Bebauungsplan, dort Seite 25). Sie haben – wie die im hydrologischen Gutachten angegebenen Berechnungen bis zur Durchführung des dritten Optimierungsschritts belegen – stattdessen eine daraus zwangsläufig resultierende und von der Antragsgegnerin nicht gewollte Verschlechterung der Hochwassersituation für Dritte – insbesondere zum Nachteil der außerhalb des Plangebiets liegenden benachbarten Grundstücke mit den FlNrn. 538 und 539 – zur Folge. Es handelt sich hierbei um einen offenkundigen Mangel des Abwägungsergebnisses (vgl. hierzu z.B. BayVGH, U.v. 12.5.2015 – 15 N 13.2533 – juris Rn. 46 m.w.N.), der die Unwirksamkeit der Festsetzungen zum MI 4 zur Folge hat.
c) Die Unwirksamkeit der Festsetzungen zum MI 4 führt zur Gesamtunwirksamkeit des Bebauungsplans (vgl. hierzu z.B. BayVGH, U.v. 4.8.2017 – 15 N 15.1713 – NVwZ-RR 2017, 953 = juris Rn. 40 m.w.N.). Denn die Antragsgegnerin hätte nach ihrem im Planungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen den Bebauungsplan nicht ohne den unwirksamen Teil beschlossen. Die Antragsgegnerin ist bei der Festsetzung der Emissionskontingente für die Gewerbegebiete (GE) 1 – 7 und die Mischgebiete (MI) 1 – 3 davon ausgegangen, dass mit der im Mischgebiet (MI) 4 geplanten Wohnanlage für Betreutes Wohnen keine relevanten anlagenbezogenen Geräuschentwicklungen verbunden sind und sich dort auch der für die Festsetzung der Emissionskontingente maßgebliche Immissionsort befindet (vgl. hierzu auch Nr. 1.2 des schalltechnischen Gutachtens vom 9.12.2013, dort Seite 5). Die Festsetzung der Emissionskontingente, einer der maßgeblichen Ziele des streitgegenständlichen Bebauungsplans (vgl. Nr. 3.1 der Begründung zum Bebauungsplan, dort Seite 9), ist jedoch wesentlich davon abhängig, ob es sich bei der zum MI 4 gehörenden Fläche um ein Baugebiet handelt und welche Nutzung dort künftig geplant ist. Die Antragsgegnerin würde die Festsetzung der Emissionskontingente an geänderte Verhältnisse anpassen und – bei Unwirksamkeit der Festsetzungen zum MI 4 – nicht etwa in der gegenwärtigen Fassung belassen. Im Übrigen zielt der streitgegenständliche Bebauungsplan darauf ab, bei Inkrafttreten alle seine Vorgängerfassungen, welche die zum MI 4 gehörende Fläche bereits als Mischgebiet ausgewiesen haben, außer Kraft zu setzen (vgl. hierzu auch den Hinweis unter Nr. 4.1 der Begründung zum streitgegenständlichen Bebauungsplan, dort Seite 11). Die bloße Teilunwirksamkeit der Festsetzungen zum MI 4 würde danach nicht zu einem (teilweisen) Wiederaufleben früherer auf diese Fläche bezogener bauplanerischer Festsetzungen führen. Die Antragsgegnerin will indes der zum MI 4 gehörenden Fläche die bisherige Baulandqualität keinesfalls gänzlich entziehen.
d) Auf den Einwand der Antragsteller, es handele sich hinsichtlich der festgesetzten Gebietsarten Mischgebiet und Sondergebiet um einen „Etikettenschwindel“, weil im MI 4 und im Sondergebiet nach dem Planungswillen der Antragsgegnerin lediglich Wohnen zulässig sein solle, kommt es für die gerichtliche Entscheidung nicht mehr an. Bei einer Gesamtbetrachtung des in Vorgängerfassungen des streitgegenständlichen Bebauungsplans bereits festgesetzten Mischgebiets, das nun erstmals in MI 1 – 4 gegliedert wird, dürfte die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets (§ 1 Abs. 5, § 6 BauNVO) wohl noch gewahrt sein. Ob das Seniorenzentrum, in dem Wohnungen/Appartements für Senioren und Aufsichtspersonen sowie Pflege-, Betreuungs- und Aufenthaltsräume zulässige Nutzungen sein sollen, deshalb als Sondergebiet festgesetzt werden darf, weil die planungsrechtlich gewünschte Nutzung derart einseitig wäre, dass die allgemeine Zweckbestimmung eines ansonsten in Betracht kommenden anderen Baugebiets nicht mehr gewahrt bliebe (vgl. § 3 Abs. 4, § 11 Abs. 1 BauNVO und hierzu z.B. BayVGH, U.v. 30.6.2009 – 9 N 07.541 – juris Rn. 12), lässt der Senat offen. Auf die weiteren von den Antragstellern im gerichtlichen Verfahren genannten Einwände, welche der Senat für nicht durchgreifend hält, kommt es für die gerichtliche Entscheidung ebenfalls nicht mehr an.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO. Die Beigeladenen zu 2 bis 6 tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst, weil sie keinen Antrag gestellt und sich damit auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt haben (§ 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).
4. Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO muss die Antragsgegnerin die Ziffer I. der Entscheidungsformel nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils in derselben Weise veröffentlichen, wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre.

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