Aktenzeichen M 11 K 15.2893
Leitsatz
Aus dem System der nachbarlichen Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten folgt, dass derjenige, der selbst mit seinem Gebäude den erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, billigerweise nicht verlangen kann, dass der Nachbar die Abstandsflächen frei hält, wobei in der Regel eine gewisse Gleichwertigkeit der Abstandsflächenüberschreitung vorliegen muss. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Nachbarn können, wie sich aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergibt, eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn sie hierdurch in einem ihnen zustehenden subjektiv-öffentlichen Recht verletzt sind. Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke dienen.
Zwar hat der Bevollmächtigte der Klägerin die Verletzung von Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO durch das Vorhaben gerügt, jedoch hat der Beklagte entsprechend Art. 59 BayBO in dem Bescheid keine Regelung zu den Abstandsflächen getroffen. Er hat lediglich einen Hinweis angefügt, in dem er begründet, weswegen er der Auffassung ist, dass eine abstandsflächenrechtliche Neubewertung nicht erforderlich ist.
Nachdem der Beklagte keine Regelung hinsichtlich der Abstandsflächen im Bescheid getroffen hat, kann die Klägerin auch insoweit nicht in ihren Rechten verletzt sein.
Eine baurechtliche Nachbarklage kann allerdings auch dann Erfolg haben, wenn ein Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt (BVerwG, U. v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – BVerwGE 52, 122).
Es liegt hier keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots im Sinne des § 34 BauGB vor.
Sowohl das streitgegenständliche Vorhaben als auch das Wohngebäude der Klägerin halten die Abstandsflächen nicht ein.
Die Geltendmachung einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots verstößt hier gegen Treu und Glauben und stellt eine unzulässige Rechtsausübung dar. Aus dem System der nachbarlichen Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten folgt, dass derjenige, der selbst mit seinem Gebäude den erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, billigerweise nicht verlangen kann, dass der Nachbar die Abstandsflächen frei hält (VG München, B. v. 9.10.2007 – Az: M 8 SN 07.3075; VGH Baden-Württemberg, U. v. 18.11.2002 – Az: 3 S 882/02).
Das Gebäude der Klägerin steht näher an der Grundstücksgrenze, dafür tritt es vom Grundstück der Beigeladenen nur erdgeschossig in Erscheinung, das Gebäude des Beigeladenen hingegen dreigeschossig.
Grundsätzlich wird zwar von der Rechtsprechung verlangt, dass eine gewisse Gleichwertigkeit der Abstandsflächenüberschreitung vorliegt, jedoch gilt dies hier aufgrund der besonderen Umstände dieses Einzelfalls nicht.
Das streitgegenständliche ehemalige Klinikgebäude wurde 1921 unstreitig als Wohnhaus gebaut. Später erfolgte eine Umnutzung als Klinik. Als das Gebäude der Klägerin (ehemaliges Chefarztgebäude) 1956 gebaut wurde, befanden sich beide Gebäude auf einem Grundstück. Die Bayerische Bauordnung von 1962 galt damals noch nicht, die Vorgängerregelung (Bayerische Bauordnung) beinhaltete keine Abstandsflächenregelung wie heute in Art. 6 BayBO. Zwischen 1956 und 1976 ist die Teilung des Grundstücks erfolgt. Das klägerische Gebäude liegt noch näher an der Grundstücksgrenze als das der Beigeladenen, ist aber nicht so hoch. In den Jahren 1975/76/77 und 1988 wurden nach dem Schriftsatz des Beklagten vom 8. Januar 2016 An- und Umbauten (so auch der „Neubautrakt“) der Klinik durchgeführt und genehmigt. 2002 wurde die Klinik aufgegeben und das Gebäude als Studentenwohnheim genutzt.
Die Vorgänger der Klägerin und die Klägerin selbst haben sich bisher nicht (erfolgreich) gegen diese Nutzungsänderungen und Bauten gewandt.
Selbst wenn die Nutzung als Studentenwohnheim oder/und auch die vorherigen Nutzungen nicht mehr bestandsgeschützt sein sollten, verstößt es bei dieser (historischen) Betrachtung gegen Treu und Glauben, wenn nun mit der Verletzung von Abstandsflächen argumentiert wird.
Die Bauherrin kann hier nicht so gestellt werden, als wenn sie neu bauen würde und daher auf die Einhaltung der Abstandsflächen verwiesen werden könnte. Vielmehr ist hier zu berücksichtigen, dass das Gebäude seit 1921 steht und ursprünglich als Wohngebäude errichtet wurde.
Dies gilt vor allem auch deshalb, da durch die Änderung der Nutzung als Studentenwohnheim bzw. Klinik in Wohnnutzung keine ungünstigeren Auswirkungen auf die Belichtung, Besonnung und Belüftung zu erwarten sind, da sich am Gebäude insoweit nichts ändert.
Auch der Wohnfriede wird nicht mehr beeinträchtigt. Da die Fenster und Türen nicht verändert werden, bleiben die Einblicksmöglichkeiten gleich.
Selbst wenn die Bewohner der Klinik oder des Studentenwohnheims weniger durch die Fenster geblickt sowie – wie der Bevollmächtigte der Klägerin behauptet – den Garten weniger genutzt hätten, hätten sie dennoch das Recht dazu gehabt, ständig durch die Fenster zu blicken und den Garten zu nutzen. Ob davon tatsächlich Gebrauch gemacht wurde, ist unerheblich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Klägerin trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, weil diese einen Sachantrag gestellt und sich damit einem Prozessrisiko ausgesetzt hat (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 7.500,- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG- i. V. m.
dem Streitwertkatalog).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.