Baurecht

Städtebauliches Vorkaufsrecht: Wenn der Verwendungszweck nicht genau genug feststeht, ist die Ermessensausübung fehlerhaft

Aktenzeichen  M 9 K 16.4828

Datum:
29.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 147111
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayVwVfG Art. 40
BauGB § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3 S. 1 u. S. 2
VwGO § 114 S. 1

 

Leitsatz

1 Wenn alle der aufgeführten Nutzungsmöglichkeiten durch das allgemeine Wohl gerechtfertigt sind, lässt die fehlende Konkretisierung nicht bereits den Tatbestand der Ausübung des Vorkaufsrechts entfallen, vielmehr ist es eine Frage der Ermessensausübung im Einzelfall, in welchem Grad der Verwendungszweck konkretisiert sein und wie damit die Ermessensausübung korrespondieren muss. (Rn. 22) (red. LS Alexander Tauchert)
2 Bei der Ermessensausübung muss die Gemeinde sich über den konkreten Verwendungszweck iSd § 24 Abs. 3 S. 2 BauGB bewusst sein, um die Ausübung des Vorkaufsrechts mit den dafür und dagegen sprechenden Umständen abwägen zu können. Steht der konkrete Verwendungszweck nicht genau genug fest, ist die Ermessensausübung nicht ordnungsgemäß. (Rn. 30) (red. LS Alexander Tauchert)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 14. Oktober 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.
Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Der Bescheid ist entgegen der Auffassung der Klägerseite nicht formell rechtswidrig. Die Anhörung des Klägers, Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG, ist zwar im vorgelegten Behördenvorgang nicht dokumentiert. Es ist aber davon auszugehen, dass sie stattgefunden hat. Laut dem angefochtenen Bescheid hat der Kläger mehrmals vorgesprochen, wobei zumindest ein konkretes Vorsprachedatum genannt wird (27. Juni 2016; der Kläger habe dabei „auf eine schnelle Ausübung des Vorkaufsrechts gedrängt“). Dass das nicht stimmt, hat der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht.
Der angefochtene Bescheid ist jedoch materiell rechtswidrig.
Rechtsgrundlage für die Ausübung des Vorkaufsrechts ist § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Var. 1, Abs. 3 BauGB. Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB steht der Gemeinde beim Kauf von Grundstücken in einem förmlich festgesetzten Sanierungsgebiet und städtebaulichen Entwicklungsbereich ein Vorkaufsrecht zu. Die Entscheidung über die Ausübung des Vorkaufsrechts steht im Ermessen der Gemeinde. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage, insbesondere das Tatbestandsmerkmal des allgemeinen Wohls, liegen vor (nachfolgend 1.). Jedoch ist das Ermessen nicht richtig ausgeübt (nachfolgend 2.).
1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Vorkaufsrechts liegen vor.
Der Vorkaufsfall ist eingetreten. Dem Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Var. 1 BauGB unterliegen nur rechtswirksame, sanierungsrechtlich genehmigte Verträge (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 BauGB). Ein unwirksamer Vertrag lässt die Ausübung des Vorkaufsrechts ins Leere gehen. Hier hat die Beklagte jedoch in § 3 der Sanierungssatzung von der Befugnis gemäß § 142 Abs. 4 Hs. 2 BauGB Gebrauch gemacht und die Genehmigungspflicht nach § 144 BauGB insgesamt ausgeschlossen.
Das Vorkaufsrecht ist von der Beklagten rechtzeitig ausgeübt worden, § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB. Die beiden Grundstücke liegen im förmlich festgesetzten Sanierungsgebiet, § 142 Abs. 3 Satz 1 BauGB, so dass der Tatbestand des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Var. 1 BauGB einschlägig ist.
Die Ausübung des Vorkaufsrechts ist auch durch das Wohl der Allgemeinheit gerechtfertigt, § 24 Abs. 3 Satz 1 BauGB. In förmlich festgelegten Sanierungsgebieten rechtfertigt das Wohl der Allgemeinheit die Ausübung des Vorkaufsrechts, wenn damit die besonderen Maßnahmen unterstützt werden, die zur Beseitigung städtebaulicher Missstände erforderlich sind. Den breiten Einsatzmöglichkeiten des Sanierungsrechts entspricht ein umfassend anwendbares Vorkaufsrecht (Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 127. EL, Stand: Oktober 2017, § 24 Rn. 70).
Unter Berücksichtigung der Begründung der Sanierungssatzung (Bl. 63 – 66 der Behördenakte) und der in der Sitzung des Bauausschusses aufgefächerten Nutzungs- und Verwendungsmöglichkeiten (Bl. 71 – 76 der Behördenakte) ist festzustellen, dass alle der dort genannten Nutzungsmöglichkeiten eine mit den Zielen des Sanierungsgebiets korrespondierende Ausrichtung am allgemeinen Wohl darstellen. Der Einwand des Klägerbevollmächtigten, dass die Beklagte im angegriffenen Bescheid lediglich einen bunten Strauß unterschiedlichster Nutzungsmöglichkeiten für das Bahnhofsgebäude aufführe, jedoch noch nichts konkret beschlossen habe, führt nicht zum Fehlen der Voraussetzung des allgemeinen Wohls. Denn wenn wie hier alle der aufgeführten Nutzungsmöglichkeiten durch das allgemeine Wohl gerechtfertigt sind, lässt die fehlende Konkretisierung nicht bereits den Tatbestand der Ausübung des Vorkaufsrechts entfallen, vielmehr ist es eine Frage der Ermessensausübung im Einzelfall, in welchem Grad der Verwendungszweck konkretisiert sein und wie damit die Ermessensausübung korrespondieren muss.
2. Die Ausübung des Ermessens im angefochtenen Bescheid ist nicht rechtmäßig, § 114 Satz 1 VwGO, Art. 40 und Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG. Die Anforderung gemäß § 24 Abs. 3 Satz 2 BauGB nach der Angabe des Verwendungszwecks ist nicht ausreichend beachtet (nachfolgend 2.1), was als solches zwar noch nicht zu einem beachtlichen Fehler führt, was sich hier aber in einer fehlerhaften Ermessensausübung niederschlägt (nachfolgend 2.2), weil der Bescheid nicht ausreichend erkennen lässt, welchen Verwendungszweck genau die Beklagte verfolgt, weshalb die Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht ordnungsgemäß erfolgt ist.
2.1. Gemäß § 24 Abs. 3 Satz 2 BauGB hat die Gemeinde bei der Ausübung des Vorkaufsrechts den Verwendungszweck des Grundstücks anzugeben. Diese spezielle Regelung ergänzt das allgemeine Begründungserfordernis für einen in Rechte des Betroffenen eingreifenden Verwaltungsakt. Welche Anforderungen an die Angabe der Gemeinde zu stellen sind, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls und lässt sich nicht vorab nach allgemeinen Maßstäben festlegen (Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 127. EL, Stand: Oktober 2017, § 24 Rn. 81).
Der Beklagten ist zuzugestehen, dass sie keinen einzelnen, ganz genau begrenzten Zweck nennen muss, da sie sich sonst jedes stadtplanerischen Spielraums begeben würde. Außerdem bestünde bei einer zu engen Auslegung des anzugebenden Verwendungszwecks in vielen Fällen die Gefahr einer Entschädigungspflicht wegen zweckwidriger Verwendung, § 28 Abs. 3 Satz 7 BauGB, obwohl es praktisch oft Fälle geben wird, in denen sich eine bestimmte Nutzung aus Gründen, die der Gemeinde nicht vorwerfbar sind, nicht realisieren lässt.
Der angefochtene Bescheid lässt aber auch unter Berücksichtigung dieser Maßgaben nicht ausreichend erkennen, welchen Verwendungszweck genau die Beklagte mit der Ausübung des Vorkaufsrechts verfolgt.
Die Angabe im angefochtenen Bescheid, dass das Vorkaufsrecht für die Errichtung eines (Gesamt-) Kulturhauses, insbesondere Volkshochschule, Tourismusbüro und Musikschule, aber auch für andere kulturelle Nutzungen (z.B. noch Stadtkapelle), ausgeübt werden soll, würde einen ausreichend konkreten Verwendungszweck darstellen. Zwar entspricht die Nennung dieses Zwecks nicht exakt den Vorgaben der zugrundeliegenden Bauausschusssitzung, in der die Nutzungsvariante „Nutzungsvariante III – Musikschule/ Stadtkapelle“ mit einem etwas abweichenden Inhalt in den Vordergrund gestellt wird, ohne die anderen Nutzungsvarianten auszuschließen. Vor dem Hintergrund, ausgerichtet am Zweck des § 24 BauGB, der Gemeinde einen ausreichenden Spielraum für ihre beabsichtigten Nutzungen zu verschaffen, lassen sich die kulturellen Nutzungen in den Nutzungsvarianten IV und V noch zum Nutzungszweck (Gesamt-) Kulturhaus dazuzählen. Jedoch belässt es der angefochtene Bescheid nicht damit, sondern nennt als weitere Nutzungszwecke auch noch Parkflächen, studentisches Wohnen und geförderten Wohnungsbau, teilweise entsprechend den im Bauausschuss ebenso aufgeführten Nutzungsvarianten I und II. Schließlich nennt der Bescheid auch noch den in der Niederschrift der Bauausschusssitzung gar nicht besprochenen Nutzungszweck der streitgegenständlichen Grundstücke als Erweiterungsfläche für das benachbarte Altenheim H.-G.-Spital auf FlNr. 825. Mit der Nennung einer solchen Vielzahl möglicher, z.T. einander widersprechender Nutzungen der zu erwerbenden Grundstücke ist der von § 24 Abs. 3 Satz 2 BauGB verlangten Angabe des Nutzungszwecks nicht mehr genügt (VG Würzburg, U.v. 23.7.2015 – W 5 K 14.1105 – juris Rn. 65, bestätigt durch BayVGH, B.v. 22.1.2016 – 9 ZB 15.2027 – juris). Nach dem Wortlaut des § 24 Abs. 3 Satz 2 BauGB muss der Verwendungszweck genannt werden. Unter der oben dargestellten Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 24 BauGB ist ein Verwendungszweck für eine miteinander in Beziehung stehende Vielzahl von einzelnen Nutzungen davon noch umfasst, nicht mehr jedoch mehrere, nicht miteinander zu vereinbarende Nutzungszwecke, von denen nur einer verwirklicht werden könnte.
2.2. Die fehlende Angabe des Nutzungszwecks gemäß § 24 Abs. 3 Satz 2 BauGB führt hier zu einem Ermessensfehler.
Wird der Verwendungszweck nicht im Einklang mit § 24 Abs. 3 Satz 2 BauGB angegeben, ist die Ausübung des Vorkaufsrechts nach der überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. BVerwG, B.v. 15.2.1990 – 4 B 245.89 – juris; Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 127. EL, Stand: Oktober 2017, § 24 Rn. 81 und VG Würzburg, B.v. 12.3.2015 W 5 K 14.808 juris Rn. 28, jeweils m.w.N. auch zur Gegenauffassung) nicht zwangsläufig rechtswidrig. Eine nicht ordnungsgemäße Angabe des Verwendungszwecks kann aber auf die Ermessensentscheidung durchschlagen, diese also gegebenenfalls gleichsam „infizieren“ (VG Würzburg a.a.O. m.w.N.; Spieß in: Jäde/Dirnberger, 8. Auflage 2017, § 24 BauGB Rn. 24).
So ist es hier. Die Besonderheit liegt darin, dass die Beklagte für die streitgegenständlichen Grundstücke als solche gar keine konkrete Nutzung angibt, die sie mit deren Erwerb isoliert verfolgt. Vielmehr geht die Beklagte ausweislich des Bescheids und des Protokolls der Bauausschusssitzung davon aus, dass sich die aufgeführten Verwendungszwecke auf das Bahnhofsgebäude und dessen angestrebte Nutzung beziehen. Die beiden Grundstücke, für die das Vorkaufsrecht ausgeübt wurde, sollen nach der Verwendungsabsicht der Beklagten dazu dienen, sicherzustellen, dass die beabsichtigten Nutzungen des Bahnhofgebäudes nicht daran scheitern, dass dieses dafür zu wenig Platz bietet. Insofern schreibt die Beklagte den beiden streitgegenständlichen Grundstücken die Funktion zu, als Erweiterungsfläche für die angedachten Nutzungen des Bahnhofgebäudes zu dienen. Ein solches Vorgehen ist auch grundsätzlich nicht zu beanstanden. Eine entsprechende, ordnungsgemäße Ermessensausübung würde aber voraussetzen, dass der Verwendungszweck des Bahnhofsgebäudes genau genug bezeichnet ist, um der Vorgabe des § 24 Abs. 3 Satz 2 BauGB zu genügen. Weil das nicht der Fall ist, fehlt für die Ermessensausübung im angefochtenen Bescheid eine wesentliche tatsächliche Grundlage. Die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 22.1.2016 – 9 ZB 15.2027 – juris Rn. 13) verlangt für die ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens bei der Ausübung des Vorkaufsrechts nach§ 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB, dass die wesentlichen Entscheidungsgesichtspunkte dargestellt und dass die sich gegenüberstehenden öffentlichen und privaten Interessen gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. In der hier vorliegenden Konstellation ist es dafür erforderlich, sich über den konkreten Verwendungszweck i.S.d. § 24 Abs. 3 Satz 2 BauGB bewusst zu sein, um die Ausübung des Vorkaufsrechts mit den dafür und dagegen sprechenden Umständen abwägen zu können. Da der konkrete Verwendungszweck nicht genau genug feststeht, ist die Ermessensausübung nicht ordnungsgemäß.
Eine Ergänzung der Ermessenserwägungen fand nicht statt.
Nach alledem wird der angefochtene Bescheid aufgehoben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst. Das entspricht der Billigkeit, weil der Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich dadurch auch selbst keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§§ 154 Abs. 3 Hs. 1, 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO, § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. Die Zulassung der Berufung stützt sich auf § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.

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