Aktenzeichen AN 17 K 19.00631
Leitsatz
1. Wenn die Übernahme der Abstandsfläche auf dem betroffenen Nachbargrundstück wegen dessen Bebauung nicht gewährleistet werden kann, ist die Übernahmeerklärung ungültig bzw. unbeachtlich. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dachterrassen lösen – anders als ebenerdige Terrassen – selbst Abstandflächen aus (vgl. VGH München, BeckRS 2015, 50396 Rn. 10). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Gründe
Die von den Klägern erhobene Verpflichtungsklage auf Genehmigung des mit Bauantrag vom 29. April 2016 (mit) beantragten, mit Bescheid vom 12. Oktober 2016 jedoch abgelehnten Balkons ist zulässig, aber unbegründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf baurechtliche Genehmigung des Balkons i.S.v. § 113 Abs. 5 Satz 1 Satz VwGO. Auch der Antrag auf Neuverbescheidung des Bauantrags nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO ist abzuweisen, da kein Ermessensfehler im Zusammenhang mit dem versagenden Bescheid des Beklagten vorliegt.
1. Die Klage ist als isolierte Verpflichtungsklage bezogen nur auf den abgelehnten Balkon des Gebäudes zulässig. Die Kläger waren nicht gehalten, auf Genehmigung des Gesamtvorhabens ohne Teilablehnung des Balkons zu klagen. Sie konnten die Baugenehmigung im Übrigen unangegriffen und in Bestandskraft erwachsen lassen. Sie haben beim Landratsamt … im Rahmen der Besprechungen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die Baugenehmigung notfalls ohne Balkon wünschen, das Bauvorhaben also aus ihrer Sicht teilbar ist und das Gesamtvorhaben nicht mit der Errichtung des Balkons stehen und fallen soll. Auch aus Sicht des Beklagten wurde das Bauvorhaben insoweit als teilbar bewertet und nur hinsichtlich des Balkons abgelehnt, im Übrigen aber genehmigt. An der Statthaftigkeit bzw. dem Rechtschutzbedürfnis der Klage besteht in dieser Situation kein Zweifel.
2. Die Klage ist in ihrem Haupt- also auch in ihrem Hilfsantrag unbegründet.
Die Kläger haben keinen Anspruch nach Art. 68 Abs. 1 Halbs. 1 i.V.m. Art. 59 Satz 1 BayBO auf Genehmigung des Balkons an der Westseite des Einfamilienhauses, da der geplante Balkon die notwendigen Abstandsflächen nach Art. 6 Abs. 1 BayBO zur westlichen Grundstücksgrenze nicht einhält und auch keine wirksame Abstandsflächenübernahme nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO des Nachbarn vorliegt.
Beim Bauvorhaben der Kläger handelt es sich nicht um einen Sonderbau nach Art. 2 Abs. 4 BayBO und es sind auch nicht die Verfahren nach Art. 56 bis 58, 72 und 73 BayBO einschlägig, so dass das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO eingreift, vgl. Art. 55 Abs. 1 BayBO. Die Baugenehmigung ist im vereinfachten Verfahren nach Art. 59 BayBO zwar grundsätzlich ungeachtet eventueller bauaufsichtsrechtlicher Erfordernisse zu erteilen. Die bauaufsichtsrechtlichen Abstandsflächen sind seit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes vom 10. Juli 2018 (GVBl.S. 523), das am 1. September 2018 in Kraft trat, jedoch im Baugenehmigungsverfahren vom Amts wegen wieder zu prüfen, vgl. Art. 59 Satz 1 Nr. 1b) BayBO. Da bei Verpflichtungsklagen grundsätzlich der Sach- und Rechtsstand im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich ist, ist vorliegend auf diese geänderte Rechtslage abzustellen. Unerheblich ist, dass der Bauantrag noch unter Geltung von Art. 59 Satz 1 BayBO in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. August 2007, zuvor zuletzt geändert durch § 3 des Gesetzes vom 24. Juli 2015 (GVBl. S. 296) beantragt und die Baugenehmigung unter Geltung der alten Rechtslage ergangen ist.
Der streitgegenständliche Balkon löst Abstandsflächen aus. Er ist Teil des Gesamtgebäudes nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO und bleibt nicht aufgrund von Art. 6 Abs. 8 Nr. 2 BayBO abstandsflächenrechtlich unberücksichtigt. Danach bleiben untergeordnete Vorbauten wie Balkone und eingeschossige Erker außer Betracht, wenn sie insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Breite der Außenwand des Gebäudes, höchstens 5 m einnehmen, nicht mehr als 1,50 m vor die Außenwand vortreten und mindestens 2 m von der gegenüberliegenden Nachbargrenze entfernt liegen. Die letzte Voraussetzung erfüllt der Balkon nicht; nach den Planunterlagen verbleibt kein Abstand von 2 m zum Nachbargrundstück FlNr. 195.
Abstandsflächen sind nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO auf dem eigenen Grundstück nachzuweisen. Ausreichend ist nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO auch die Vorlage einer wirksamen Abstandsflächenübernahme durch den baurechtlichen Nachbarn, eine solche liegt aber nicht vor. Die Wirksamkeit einer Abstandsflächenübernahme erfordert nicht nur die Einhaltung formaler Kriterien, insbesondere der Einhaltung der Schriftform (Art. 6 Abs. 3 Satz 2 BayBO), sondern auch die inhaltlich unbedingte, klare und ernstzunehmende Erklärung des verfügungsbefugten Nachbarn, die Abstandsfläche auf seinem Grundstück zu übernehmen. Wenn die Übernahme der Abstandsfläche auf dem betroffenen Nachbargrundstück wegen dessen Bebauung nicht gewährleistet werden kann, ist die Übernahmeerklärung ungültig bzw. unbeachtlich. Dies ist hier der Fall, weil sich auf dem Grundstück FlNr. 195 ein Carport mit Dachterrasse, angebaut an das Gebäude auf der FlNr. 196 befindet und sich die Abstandsflächen der Dachterrasse und des Bauvorhabens des Klägers überschneiden. Die Abstandsflächen des klägerischen Bauvorhabens reichen nämlich nach dem vorgelegten Abstandsflächenplan vom 18. August 2016 unmittelbar an die Dachterrasse auf dem Grundstück FlNr. 195 heran. Dachterrassen lösen nach der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung und der Rechtsprechung der Kammer – anders als ebenerdige Terrassen – aber selbst Abstandflächen aus (vgl. VG Ansbach, B.v. 15.11.2018 – AN 17 S 18.01535 – juris, auch BayVGH, B.v. 10.7.2015 – 15 ZB 13.2671 – juris Rn. 10 ff, OVG Weimar, U.v. 26.2.2002 – 1 KO 305/99 – juris Rn. 45 ff.). Von ihnen gehen nämlich insbesondere andere Einsichtsmöglichkeiten aus und sie sind brandschutzrechtlich und immissionsschutzrechtlich anders zu beurteilen als ebenerdige Terrassen (zur nicht notwendigen Einhaltung von Abstandsflächen für Terrassen im Erdgeschoss, vgl. Simon/Busse, a.a.O, Art. 6 Rn. 20). Für Dachterrassen greift damit Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO. Es handelt es sich um Anlagen, von denen Wirkungen wie von Gebäuden ausgehen. Bei der Garage mit Dachterrasse handelt es sich auch nicht um eine in den Abstandflächen zulässige Grenzbebauung nach Art. 6 Abs. 9 BayBO. Lösen beide Gebäude Abstandsflächen aus, kommt es zu einer Überdeckung derselben. Da ausgeschlossen werden kann, dass die … … … als Eigentümerin der FlNr. 195 und 196 mit der abgegebenen Abstandsflächenerklärung vom 8. Dezember 2015 ihre Bereitschaft erklären wollte, die eigene Dachterrasse zu beseitigen, ist die abgegebene Erklärung unbeachtlich.
Im Übrigen erfolgte die Erklärung der Abstandsflächenübernahme der Kirchenstiftung nicht zu den Plänen vom 25. August 2016 (2. Tektur), sondern nur zu den Planunterlagen der 1. Tektur (Bauantrag vom 8.12.2015), was sich eindeutig aus dem Datum der Unterzeichnung am 8. Dezember 2015 ergibt. In der Planung zur 1. Tektur war der Balkon aber noch nicht enthalten, so dass eine Zustimmung zu diesem nicht vorliegt. Selbst wenn der Balkon im Vergleich zum Restgebäude rechtlich keine zusätzlichen Abstandsflächen auslösen sollte (was offenbleiben kann), können sich die Kläger nicht auf die Erklärung vom 8. Dezember 2015 für die geänderte Planung berufen. Eine Abstandsflächenübernahmeerklärung bezieht sich stets auf das tatsächlich geplante Vorhaben, nicht abstrakt auf die benötigte Fläche (BeckOK, BauordnungsR Bayern/Schönfeld BayBO Art. 6 Rn. 117, Simon/Busse, a.a.O, Art. 6 Rn. 122), so dass eine geänderte Planung eine neue Abstandsflächenübernahme erforderlich macht, selbst wenn mit ihr keine andere abstandsflächenrechtliche Beurteilung einhergeht. Für die Nachbarn bedeutet die Abgabe einer Übernachmeerklärung ein freiwilliges Aufgeben ihrer Rechte aus der Eigentümerposition, zu der sie nicht gezwungen werden können. Sie sind in ihren Erwägungen und Motiven bei der Erklärung völlig frei und nicht an rechtlich orientierte oder vernünftige Erwägungen gebunden. Es kann auch keinesfalls davon ausgegangen werden, dass die Kirchenstiftung die Erklärung auf jeden Fall in gleicher Weise auch dann abgegeben hätte, wenn ihr die Errichtung des Balkons bekannt gewesen wäre. Die Errichtung des Balkons stellt durchaus einen Umstand dar, der als zusätzliche Belastung wahrgenommen werden kann. Zur Akzeptanz des Balkons durch die Nachbarn haben die Kläger auch nichts vorgetragen und ist nichts nachgewiesen.
Die Erklärung vom 8. Dezember 2015 führt somit nicht zum Genehmigungsanspruch. Die Genehmigung des Balkons ist damit nur bei Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO möglich. Eine solche Abweichung kann erteilt werden, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Eine Abweichung ist nach der Rechtsprechung dann gerechtfertigt, wenn die Ziele der Abstandsflächen entweder auf andere Art und Weise erreicht werden oder Gründe vorliegen, durch die sich das konkrete Vorhaben vom Regelfall so unterscheidet, dass deswegen die Einbuße an den geschützten Schutzgütern ausnahmsweise hingenommen werden können (Simon/Busse, a.a.O. Art. 63 Rn. 22, BayVGH, U.v. 28.6.2005, 15 BV 04.2876 – juris, VG Ansbach, B.v. 15.11.2018 – AN 17 S 18.01535 – juris). Vorliegend ist keine Kompensation für das Zusammenrücken der Gebäude in Bezug auf Brandschutz, Belichtung, Belüftung und Wohnfrieden erkennbar und auch keine atypische Fallkonstellation festzustellen. Das Gebäude ist nämlich auch ohne den streitgegenständlichen Balkon zumutbar nutzbar. Die durch seine geringe Größe, durch die vorhandene Umgebungsbebauung und seinen Zuschnitt eingeschränkte Nutzbarkeit des Grundstücks müssen die Kläger, die das Grundstück in diesem Wissen erworben haben, grundsätzlich selbst tragen. Sie können eine maximale Ausnutzung ihres Eigentums zu Lasten der Nachbarschaft und der öffentlichen Belange nicht verlangen. Erst bei einem unabweisbaren Interesse der Eigentümer könnten diese Belange zurücktreten (Simon/Busse, a.a.O. Art. 63 Nr.30). Hier ist den Klägern seitens des Beklagten und der Beigeladenen bereits durch zahlreiche andere Abweichungen von der BGS und auch von den Abstandsflächen entgegengekommen worden. Für eine weitere Abweichung von den Abstandsflächen bestand mangels vorliegender atypischer Fallgestaltung kein zwingender Anlass.
3. Auf die Frage, ob das Vorhaben § 12 BGS widerspricht bzw. ob eine Ausnahme insoweit zu Unrecht abgelehnt worden ist, kommt es damit nicht mehr streitentscheidend an.
Auch insoweit erkennt das Gericht jedoch keinen Rechtsfehler des Beklagten. Die Übereinstimmung mit der BGS bzw. die Erteilung einer Abweichung war vom Beklagten nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1c) BayBO zu prüfen, nachdem eine Abweichung von § 12 BGS von den Klägern im Bauantrag vom 29. April 2016 beantragt worden war. Bei der BGS handelt es sich um eine örtliche Bauvorschrift im Sinne vom Art. 59 Satz 1 Nr. 1c), Art. 81 Abs. 1 BayBO (bzw. Art. 91 Abs. 1 BayBO in der bei Erlass der BGS gültigen Fassung).
§ 12 BGS ist nicht – wie die Kläger meinen – nichtig. Insbesondere ist § 12 BGS nicht zu unbestimmt oder unklar. Ausdrücklich und unmissverständlich verbietet § 12 Satz 1 BGS grundsätzlich „Balkone und Loggien“ und erfasst damit auch klar den streitgegenständlichen Balkon. Auch die Überschrift des § 12 BGS erfasst „Balkone“, sodass kein Widerspruch innerhalb der Vorschrift erkennbar ist.
Ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ausnahme nach § 12 Satz 2 BGS gegeben sind, kann letztlich dahinstehen; fraglich ist insoweit allenfalls, ob der Balkon störend auf den Gesamteindruck des Straßenbildes wirkt. Jedenfalls hat der Beklagte das durch § 12 Satz 2 Halbs. 1 BGS eröffnete Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt. Nach Art. 63 Abs. 3 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von örtlichen Bauvorschriften nur im Einvernehmen mit der Gemeinde zulassen. Art. 67 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO ermöglicht der Bauaufsichtsbehörde die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens nur bei einer rechtswidrigen Versagung desselben und nur, wenn der Bauherr einen Anspruch auf Erteilung der Genehmigung hat. Liegen nicht beide Voraussetzungen vor, besteht keine Möglichkeit der Ersetzung für den Beklagten und auch kein Anspruch der Kläger auf Ersetzung des Einvernehmens, Art. 67 Abs. 1 Satz 2 BayBO (s. auch Simon/Busse, a.a.O., Art. 63 Rn. 70 ff. und 83 ff.). Einen Anspruch auf die begehrte Abweichung haben die Kläger nicht. Vielmehr stellt die Vorschrift des § 12 Satz 2 BGS eine Ermessensvorschrift dar, ohne dass eine Ermessensreduzierung auf null vorliegt und ohne dass ein intendiertes Ermessen der Norm des § 12 BGS anzunehmen ist. Eine Verpflichtung des Beklagten kommt damit nicht in Frage.
Dass das Einvernehmen durch die Beigeladenen rechtswidrig versagt worden wäre, ist ebenfalls nicht zu erkennen, so dass auch der Hilfsantrag auf Neuverbescheidung scheitert. Das Protokoll der Sitzung des Bau- und Umweltausschusses der Beigeladenen vom 6. Juni 2016 gibt keinen Hinweis auf unsachliche oder willkürliche oder sonst ermessensfehlerhafte Erwägungen. Insbesondere wurden dort die nachbarlichen Belange, Erwägungen des Denkmalschutzes sowie die den Klägern im Rahmen eines Kompromisses bereits erteilte Ausnahmen diskutiert und in nicht zu beanstandender Weise abgewogen.
Dass das Einvernehmen vom zuständigen Ausschuss versagt worden ist, steht angesichts der positiven Formulierung des Beschlusstextes und der Abstimmung mit zwei Jazu elf Nein-Stimmen außer Zweifel. Die Formulierung der Niederschrift lässt eine andere Interpretation des Abstimmungsergebnisses objektiv nicht zu. Die Versagung des Einvernehmens wurde von der Beigeladenen auch schriftsätzlich und vom Bürgermeister der Beigeladenen nochmals in der mündlichen Verhandlung klar bestätigt.
Nach alledem war die Klage sowohl im Haupt- als auch im Hilfsantrag abzuweisen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Nachdem die Beigeladene sich mit einem eigenen Antrag am Verfahren beteiligt hat und sich dem Kostenrisiko nach § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat, entspricht es billigem Ermessen, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten von den Klägern erstattet bekommt, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.