Aktenzeichen M 8 K 15.459
Leitsatz
Die Zulassung der Abweichung von bauaufsichtsrechtlichen Anforderungen setzt Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Belüftung im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen. Diese können sich aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Baugenehmigung vom 7. Januar 2015, Az.: … wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte und die Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Anfechtungsklage der Nachbarin ist zulässig und begründet, da die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 7. Januar 2015 rechtswidrig ist und die Klägerin hierdurch in ihren drittschützenden Rechten verletzt wird, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Klägerin ist im Hinblick auf ihr Grundstück mit der Fl.Nr. … auch nicht nach Treu und Glauben daran gehindert, diesen Verstoß zu rügen.
1.1 Dritte können sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U. v. 13.6.1969 – IV C 234.65 – BayVBl 1969, 390 – juris Rn. 15; BVerwG, U. v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – BayVBL 1977, 639 – juris Rn. 25; BVerwG, U. v. 19.9.1986 – 4 C 8/84 – BayVBl 1987, 151 – juris Rn. 9; BVerwG, U. v. 26.9.1991 – 4 C 5/87 – BvVerwGE 89, 69 – juris Rn. 18) gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtenen Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit (auch) auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B. v. 26.7.2011 – 14 CS 11.535 – juris Rn. 21; BayVGH, B. v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Dabei ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung auch nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (vgl. BayVGH, B. v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
1.2 Das beantragte Bauvorhaben wurde im vereinfachten Genehmigungsverfahren gemäß Art. 59 BayBO genehmigt. Da die Beigeladene Abweichungen von den Vorschriften des Abstandsflächenrechts nach Art. 6 BayBO beantragt und die Beklagte diese gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO erteilt hat, gehören die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO insoweit auch zum Prüfumfang der streitgegenständlichen Baugenehmigung, so dass sie im Rahmen des vorliegenden Nachbarrechtsbehelfes zu prüfen sind (vgl. BayVGH, B. v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – juris Rn. 36; BayVGH, B. v. 5.11.2015 – 15 B 15.1371 – juris Rn. 15).
2. In bauordnungsrechtlicher Hinsicht stellt sich jedenfalls die in der Baugenehmigung vom 7. Januar 2015 erteilte Abweichung gegenüber dem klägerischen Hinterliegergrundstück mit der Fl.Nr. … als materiell rechtwidrig dar und die Klägerin ist mangels wechselseitigem Abstandsflächenverstoß auch nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben daran gehindert, sich hierauf zu berufen.
2.1 Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Die Zulassung einer Abweichung setzt Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Belüftung im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen (vgl. BayVGH, B. v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 16). Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (vgl. BayVGH, B. v. 13.2.2002 – 2 CS 01.1506 – juris Rn. 16; B. v. 23.5.2005 – 25 ZB 03.881 – juris Rn. 8; B. v. 15.11.2005 – 2 CS 05.2817 – juris Rn. 2; B. v. 29.11.2006 – 1 CS 06.2717 – juris Rn. 24; B. v. 11.1.2007 – 14 B 03.572 – juris Rn. 22; B. v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 16; B. v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23; B. v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 3; U. v. 22.12.2011 – 2 B 11.2231, BayVBl. 2012, 535 – juris Rn. 16; B. v. 20.11.2014 – 2 CS 14.2199 – juris Rn. 4; B. v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.530 – juris Rn. 3; B. v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 16). Es müssen rechtlich erhebliche Unterschiede vorliegen, die das Vorhaben als einen sich von der Regel unterscheidenden atypischen Fall erscheinen lassen und dadurch eine Abweichung rechtfertigen können (vgl. BayVGH, B. v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – juris Rn. 15; B. v. 11.12.2014 – 15 CS 14.1710 – juris Rn. 19). Diese können sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben (vgl. BayVGH, B. v. 22.9.2006 – 25 ZB 01.1004 – juris Rn. 4; B. v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 16; BayVGH, B. v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23; BayVGH, B. v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.530 – juris Rn. 3; B. v. 20.11.2014 – 2 CS 14.2199 – juris Rn. 4; B. v. 2.12.2014 – 2 ZB 14.2077 – juris Rn. 4; B. v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 16; B. v. 14.6.2016 – 2 CS 16.735). In solchen Lagen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung rechtfertigen (vgl. BayVGH, U. v. 22. 12.2011 – 2 B 11.2231 – juris Rn. 18; BayVGH, B. v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23). Hingegen begründen allein Wünsche eines Eigentümers, sein Grundstück stärker auszunutzen, als dies ohnehin schon zulässig wäre, noch keine Atypik, da Maßnahmen, die nur der Gewinnmaximierung dienen sollen, auch in Ballungsräumen nicht besonders schützenswert sind (vgl. BayVGH, B. v. 20.11.2014 – 2 CS 14.2199 – juris Rn. 4; B. v. 2.12.2014 – 2 ZB 14.2077 – juris Rn. 3).
2.2 Liegt die erforderliche Atypik nicht vor, erweist sich eine trotzdem erteilte Abweichung von der Einhaltung der gesetzlich vorgeschrieben Abstandsflächen von vornherein als rechtswidrig; die Baugenehmigung ist auf eine Nachbarklage hin aufzuheben (vgl. BayVGH, B. v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 16).
2.3 Liegt die erforderliche Atypik vor, ist weitere Voraussetzung die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Interessen. Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz – wie bei dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme – eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn (BayVGH, B. v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 17).
3. Im vorliegenden Fall ist nach diesen Maßstäben eine derartige Sondersituation (Atypik) hinsichtlich der streitgegenständlichen Abweichung in Bezug auf das klägerische Hinterliegergrundstück Fl.Nr. … nicht gegeben.
Entscheidend für die Bejahung einer Atypik ist, ob sich die Vorhabensituation vom normativen Regelfall unterscheidet (vgl. BayVGH, B. v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris). Grundsätzlich kann sich eine Atypik etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben (vgl. BayVGH, B. v. 22.9.2006 – 25 ZB 01.1004 – juris Rn. 4; B. v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 16; BayVGH, B. v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23; BayVGH, B. v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.530 – juris Rn. 3; B. v. 20.11.2014 – 2 CS 14.2199 – juris Rn. 4; B. v. 2.12.2014 – 2 ZB 14.2077 – juris Rn. 4; B. v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 16; B. v. 14.6.2016 – 2 CS 16.735). In dicht bebauten innerstädtischen Bereichen ist eine atypische Situation dann anzunehmen, wenn jedwede bauliche Veränderung geeignet ist, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen (vgl. BayVGH, B. v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23).
3.1 Im vorliegenden Fall ist das Baugrundstück weder in einem historischen Ortskern gelegen, noch ist eine aus dem Rahmen fallende Bebauung auf dem Vorhaben-grundstück oder den Nachbargrundstücken und auch kein atypischer Grundstückszuschnitt erkennbar, so dass keine besondere städtebauliche Situation vorliegt.
Vorliegend ist es in dem Geviert, das im Grundsatz durch eine nahezu geschlossene Blockrandbebauung geprägt ist und das nur wenige Bauten im Geviertinnere aufweist, von denen die Hälfte nach dem amtlichen Plan eingeschossige (Neben-) Gebäude darstellen, nicht so, dass alle oder auch nur die Mehrzahl der Grundstücke im Geviert bereits ähnlich intensiv bebaut sind, wie das mit dem streitgegenständlichen Vorhaben beabsichtigt ist. Vielmehr ist es so, dass das Geviertinnere weitgehend unbebaut ist. Lediglich zwei Grundstücke, die jedoch wesentlich größer sind als das streitgegenständliche Grundstück, haben jeweils einen viergeschossigen rückwärtigen Anbau. Hinzu kommt ein weiterer, jedoch nur zweigeschossiger rückwärtiger Anbau. Die übrigen elf Grundstücke im Quartier zwischen …-Straße, …straße, …straße und …platz haben keine rückwärtigen Wohnhausanbauten, allenfalls vereinzelt eingeschossige Nebengebäude. Es ist vorliegend der Normalfall, dass die Grundstücke im rückwärtigen Bereich nicht oder nur mit eingeschossigen Nebengebäuden bebaut sind. Damit liegt insoweit keine besondere städtebauliche Situation vor, die eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften rechtfertigt.
3.2 Ferner ist zwischen dem Vorhabengrundstück und den klägerischen Anwesen kein besonderer Grundstückzuschnitt erkennbar, der eine vom Regelfall abweichende Sondersituation rechtfertigt.
Sowohl die nördliche gemeinsame Grundstücksgrenze zwischen dem Vorhaben-grundstück und dem nördlich daran angrenzenden Grundstück der Klägerin mit der Fl.Nr. … wie auch die gemeinsame Grundstücksgrenze zum westlich angrenzende Grundstück der Klägerin mit der Fl.Nr. … verlaufen auf der gesamten Breite des Vorhabengrundstücks jeweils geradlinig und im rechtem Winkel. Die Grundstücksgrenzen zwischen den klägerischen Grundstücken und dem Vorhabengrundstück verlaufen also in vollkommen regelmäßiger Form und entsprechen damit dem normativen Regelfall.
Allein die östliche, den klägerischen Grundstücken abgewandte Grundstücksgrenze des Vorhabengrundstücks weist insoweit eine Besonderheit auf, als sie zwar ebenfalls zunächst rechtwinklig von der Straßenlinie abgeht, dann aber etwa auf der Hälfte der Grundstückstiefe nach Westen hin abknickt. Dieser Umstand ist jedoch in keiner Weise ursächlich dafür, dass das Vorhaben die erforderlichen Abstandsflächen zu den beiden Grundstücken der Klägerin nicht einhält.
3.3 Das Vorhabengrundstück kann daher auch in seinem rückwärtigen (nördlichen) Teil unter Einhaltung der Abstandsflächen entsprechend bebaut werden. Es ist rechteckig und durchschnittlich groß (ca. 24 m breit und ca. 36 m tief). Auf dem nördlichen Teil mit einer Tiefe von über 20 m ist unter Einhaltung der Abstandsflächen ein rückwärtiger Anbau möglich, der die Abstandsflächen zum Hinterliegergrundstück Fl.Nr. … einhält. Damit kann von einer Nichtnutzbarkeit des streitgegenständlichen Anwesens auch in dieser Hinsicht nicht die Rede sein. Allein der Umstand, dass das Vorhabengrundstück weniger tief in das Geviert hineinreicht als das klägerische Grundstück, begründet keine Atypik. Es entspricht vielmehr dem Regelfall, dass ein weniger tief reichendes Grundstück auch weniger tief bebaubar ist (vgl. BayVGH, B. v. 14.6.2016 – 2 CS 16.735). Die Rückgebäude auf den westlich gelegenen Grundstücken …-Str. 16 und 18 sind zwar in der Bebauungstiefe dem streitgegenständlichen Vorhaben vergleichbar, befinden sich jedoch auch auf wesentlich größeren und insbesondere in der Tiefe weit über die Mitte des ganzen Gevierts reichenden Grundstücken, die somit etwa 20 m tiefer als das streitgegenständliche Vorhabengrundstück sind, so dass ihre nördlichen Außenwände die Abstandsflächen jeweils auf dem eigenem Grundstück einhalten.
4. Die Klägerin ist auch nicht gemäß § 242 BGB daran gehindert, diesen Verstoß gegen die Abstandsflächenvorschriften zu rügen. Das Gebäude der Klägerin auf dem Grundstück mit der Fl.Nr. … hält zwar zum Vorhabengrundstück selbst die erfor-derlichen Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO nicht ein, so dass die Klägerin insoweit nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gehindert ist, sich uneingeschränkt auf die drittschützenden Vorgaben des Art. 6 BayBO zu berufen. Das Hinterliegergrundstück der Klägerin mit der Fl.Nr. … ist jedoch unbebaut und wirft daher auch keine Abstandsflächen auf das Vorhabengrundstück, so dass insoweit kein wechselseitiger Abstandsflächenverstoß vorliegt.
Aus dem System nachbarlicher Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten folgt, dass derjenige, der selbst mit seinem Gebäude die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhält, billigerweise nicht verlangen kann, dass der Nachbar die Abstandsflächen freihält. Dies führt dazu, dass nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ein Nachbar sich gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht mit Erfolg auf die Einhaltung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, wenn die Bebauung auf seinem Grundstück nicht dieser Vorschrift entspricht, die beiderseitigen Abweichungen sich etwa gleichgewichtig gegenüber stehen und sie nicht zu am Schutzzweck der Vorschrift gemessen schlechthin untragbaren, als Missstand i. S. v. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 BayBO zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. BayVGH, U. v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 37). Derjenige, der mit seinem Gebäude selbst nicht den erforderlichen Grenzabstand einhält, kann billigerweise nicht verlangen, dass der Nachbar die Abstandsfläche, die er selbst auf dem eigenen Grundstück nicht zur Verfügung hat, auf dem fremden Grundstück frei hält (vgl. VG München, U. v. 30.6.2014 – M 8 K 13.1102 m. w. N.).
Es ist zwar davon auszugehen, dass das klägerische Rückgebäude auf dem Grundstück mit der Fl.Nr. … (…-Straße 16) wegen des geringeren Abstands zur gemeinsamen Grundstücksgrenze mehr Abstandsflächen auf das Vorhabengrundstück wirft als umgekehrt das streitgegenständliche Vorhaben auf das klägerische Anwesen mit der Fl.Nr. … Nach der Berechnung der Beklagten im Schreiben vom 29. März 2016 sollen 148,69 m2 Abstandsflächen des Rückgebäudes der Klägerin auf das Vorhabengrundstück fallen, während dieses umgekehrt nur 103,1 m2 auf das klägerische Grundstück mit der Fl.Nr. … werfe.
Nach dem als Bestandteil der Baugenehmigung genehmigten Abstandsflächenplan wirft das streitgegenständliche Vorhaben jedoch zusätzlich auch auf das klägerische Hinterliegergrundstück mit der Fl.Nr. … Abstandsflächen (46,6 m2). Insoweit scheidet ein wechselseitiger Abstandsflächenverstoß aus, da dieses Grundstück unbebaut ist. Auch wenn die Klägerin mit ihrem Rückgebäude, das allein auf dem Grundstück mit der Fl.Nr. … steht, bereits in etwa gleich viel Abstandsflächen auf das Vorhabengrundstück wirft wie der geplante rückwärtige Anbau auf beide klägerische Grundstücke (Fl.Nrn. … und …) insgesamt, ist es nicht gerechtfertigt, die Abstandsfläche von 46,6 m², die allein auf das unbebaute klägerische Grundstück mit der Fl.Nr. … fällt, in die Gesamtabwägung einfließen zu lassen. Eine Gesamtbetrachtung so wie es der Architekt der Beigeladenen und die Beklagte getan haben, ist im streitgegenständlichen Verfahren nicht sachgerecht.
Vorliegend handelt es sich um zwei rechtlich getrennte und voneinander unabhängige Buchgrundstücke, die auch nicht auf andere Weise – etwa durch eine grundstücksübergreifende Bebauung – miteinander verbunden sind. Zwei im Rechtssinn unabhängige Grundstücke teilen nicht allein deshalb ein gemeinsames Schicksal in Bezug auf das Abstandsflächenrecht, weil sie (zufällig) demselben Eigentümer gehören. Das Abstandsflächenrecht ist unabhängig von den Eigentumsverhältnissen und regelt die Zulässigkeit der Bebauung der Grundstücke. Ob Abstandsflächen erforderlich sind, hängt damit nicht von den Eigentumsverhältnissen an den betroffenen Grundstücken ab. Eine solche Gesamtbetrachtung würde auch zu einem sachlich nicht gerechtfertigten Wertungswiderspruch im Hinblick auf die Erfolgsaussichten einer Nachbarklage gegen dieselbe Baugenehmigung führen. Die Klage des Nachbarn, der nicht zugleich Eigentümer beider Buchgrundstücke ist, wäre erfolgreich, wohin gegen die Klage des Nachbarn, in dessen Eigentum beide Buchgrundstücke stehen, erfolglos wäre.
§ 242 BGB enthält zwar eine wertende Betrachtung nach Treu und Glauben, diese bezieht sich jedoch immer nur auf ein bestimmtes konkretes Rechtsverhältnis. Mehrere verschiedene Rechtsverhältnisse, auch zwischen denselben Personen werden dabei getrennt betrachtet und bewertet, eine Vermischung findet nicht statt. Die Frage, ob es sich um ein eigenständiges Rechtsverhältnis handelt, beurteilt sich dabei nach dem Gegenstand des Rechtsverhältnisses. Vorliegend handelt es sich um zwei rechtlich selbstständige Buchgrundstücke, die auch nicht ein zusammenhängendes Baugrundstück bilden. Damit liegen insoweit auch zwei rechtlich selbstständige Rechtsverhältnisse vor. Eine Vermischung von Ansprüchen kann daher nicht stattfinden.
5. Bei dem klägerischen Grundstück mit der Fl.Nr. … handelt es sich auch um kein unüberbaubares Grundstück i. S. v. Art 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO vor.
Nach dieser Vorschrift dürfen sich Abstandsflächen sowie Abstände im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satzes 1 BayBO ganz oder teilweise auf andere Grundstücke erstrecken, wenn rechtlich oder tatsächlich gesichert ist, dass sie nicht überbaut werden.
Rechtliche Gründe, die einer Überbauung entgegenstehen, liegen nur vor, wenn eine zivilrechtlich dingliche Sicherung besteht, wie die Übernahme der Abstandsflächen durch eine Grunddienstbarkeit und/oder eine inhaltsgleich beschränkte persönliche Dienstbarkeit (Molodovsky/Famers/Kraus, Kommentar zur BayBO, Art. 6 Rn. 99 und 100; VG München, U. v. 29.2.2016 – M 8 K 15.5673 – juris Rn. 38).
Öffentlich-rechtliche Gründe stehen der Überbaubarkeit nicht entgegen, da deren Annahme voraussetzt, dass das Maß einer öffentlich-rechtlichen Sicherung aufgrund anderer Vorschriften dem der Sicherung durch eine – in Bayern nicht existierende – Baulast vergleichbar sein muss (vgl. OVG NRW, B. v. 17.3.1994 – 11 B 2666/93 – juris Rn. 2 und 3; VG München, U. v. 29.2.2016 – M 8 K 15.5673 – juris Rn. 38).
5.1 Vorliegend besteht nur eine faktische rückwärtige Baugrenze, durch die die Bebaubarkeit des Hinterliegergrundstücks gegenwärtig eingeschränkt ist. Dementsprechend ist die Unüberbaubarkeit dieses Grundstücks nicht mit der im Hinblick auf den massiven Eigentumseingriff, den die Erstreckung der Abstandsfläche auf benachbarte Grundstücke beinhaltet, notwendigen Sicherheit festgeschrieben. Zum einen kann in einem Bebauungsplanverfahren eine Bebaubarkeit festgesetzt werden, zum anderen kann sich die faktische rückwärtige Baugrenze durch die tatsächliche Entwicklung im Geviertinneren verschieben (vgl. VG München, U. v. 29.2.2016 – M 8 K 15.5673 – juris Rn. 38).
Schließlich können gemäß § 23 Abs. 5 BauNVO auf den nicht überbaubaren Grundstücksflächen Nebenanlagen nach § 14 BauNVO zugelassen werden, die nicht das Privileg des Art. 6 Abs. 9 BayBO in Anspruch nehmen können und somit abstandsflächenpflichtig sind (vgl. VG München, U. v. 29.2.2016 – M 8 K 15.5673 – juris Rn. 38). Dementsprechend hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 15. Mai 2006 (1 B 04.1893 – juris) ausgeführt, dass es für die Beurteilung der Überbaubarkeit des Nachbargrundstücks im Sinne von Art. 7 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO (1998) nicht allein auf eine mögliche Bebauung mit einem Gebäude ankommt; „überbaubar“ ist eine Fläche vielmehr auch dann, wenn auf ihr eine andere bauliche Anlage, von der Wirkungen wie von einem Gebäude ausgehen und für die deshalb die Abstandsflächenvorschriften gelten (Art. 6 Abs. 9 BayBO 1998 bzw. Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO 2008) errichtet werden kann.
Da vorliegend eine Bebauung nicht ausgeschlossen ist, besteht kein Fall der rechtlichen Unüberbaubarkeit im Sinn des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO.
5.2 Eine tatsächliche Unüberbaubarkeit gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO ist ebenfalls nicht gegeben. Der Hauptanwendungsfall der tatsächlichen Unüberbaubarkeit liegt dann vor, wenn ein Grundstück oder ein Teilbereich hiervon als Erschließungsfläche benötigt wird; denkbar ist auch eine Unüberbaubarkeit aufgrund topographischer Besonderheiten.
5.2.1 Das Grundstück ist nicht zu klein für eine Bebauung. Mit einer Grundstücksfläche ca. 268 m² und Abmessungen von knapp 20 m Tiefe zu mehr als 13 m Breite ist auch im Hinblick auf das 16-m Privileg des Art. 6 Abs. 6 BayBO die Errichtung einer baulichen Anlage durchaus möglich. Es besteht auch keine Veranlassung, an der Darstellung der Klägerin zu zweifeln, dass die Erschließung des Hinterliegergrundstücks gesichert ist. Zum einen kann es über das klägerische Grundstück an der …-Straße 16 erreicht werden, in dem es sowohl nach den klägerischen Angaben wie auch nach dem amtlichen Lageplan eine Durchfahrt von der Straße in den rückwärtigen Bereich gibt. Zum anderen verfügt die Klägerin nach ihrem Vortrag über ein abgesichertes Durchfahrtsrecht in der …-Straße 18.
5.2.2 Schließlich ist das Hinterliegergrundstück der Klägerin auch nicht deshalb unbebaubar, weil es durch Abstandsflächen der umliegenden Blockrandbebauung in Anspruch genommen wird. Zum einen käme eine derartige Belastung wohl nur bezüglich eines schmalen Streifens im Norden entlang dem Anwesen Fl.Nr. … in Frage; dessen Bebauung …straße 7 nach dem amtlichen Lageplan neungeschossig ist. Entscheidend ist aber, dass Abstandsflächen eines rechtswidrig zu nahe an der Grundstücksgrenze errichteten Gebäudes sich nicht auf das Nachbargrundstück erstrecken und daher dieses auch nicht von einer in den Abstandsflächen nicht zulässigen Bebauung freigehalten werden muss, also die Abstandsfläche nicht auf die auf diesem Grundstück erforderlichen Abstandsflächen angerechnet werden dürfen. Nur diese Auslegung vermeidet eine unverhältnismäßige Belastung des Eigentumsrechts des Nachbarn durch das Freihaltegebot des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO und das Überdeckungsverbot des Art. 6 Abs. 3 BayBO (vgl. BayVGH, B. v. vom 14.1.2009 – 1 ZB 08.97 – juris Rn. 27). Sollte in der Baugenehmigung für das Anwesen …straße 7 ohnehin eine Abweichung wegen Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen von der Beklagten erteilt worden sein, dann würde sich die Abstandsfläche des Anwesens Fl.Nr. … auch aus diesem Grund nicht auf das klägerische Anwesen mit der Fl.Nr. … erstrecken, da die erteilte Abweichung auf eine entsprechende Verkürzung der gesetzlichen Tiefe der Abstandsfläche abzielt (vgl. BayVGH, B. v. 15.11.2005 – 2 CS 05.2817 – juris Rn. 2; BayVGH, B. v. 9.10.2009 – 1 CS 08.1999 – juris Rn. 37; Dhom in Simon/Busse, BayBO, Kommentar Stand Januar 2014, Art. 63 Rn. 46). Mit der Erteilung einer Abweichung von Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO wird die Abstandsfläche daher auf den auf dem Baugrundstück vorhandenen Platz verkürzt.
Damit ist das klägerische Hinterliegergrundstück mit der Fl.Nr. … auch nicht aus tatsächlichen Gründen unüberbaubar.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Beigeladene hat einen Sachantrag gestellt, so dass sie sich auch einem Kostenrisiko gemäß § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat.
7. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 7.500.- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.