Aktenzeichen 8 ZB 18.2119
Leitsatz
Bei „neuen Baugebieten“ nach § 78 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 WHG aF geht es um die erstmalige Ermöglichung einer Bebauung, mithin um Flächen, die vor der Ausweisung noch keine festgesetzten oder faktischen Baugebiete waren (vgl. BVerwG BeckRS 2014, 54346). Überplante Flächen, die bauplanungsrechtlich nicht (mehr) dem Innenbereich zuzuordnen sind, sind nicht allein deshalb vom Anwendungsbereich des § 78 Abs. 1 S. 1 WHG auszunehmen, weil sie früher einmal bebaut waren. (Rn. 10 – 11) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
W 4 K 17.1247 2018-07-24 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 24. Juli 2018 für beide Rechtszüge auf jeweils 60.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass ihr Bebauungsplan „Ehemaliges Werksgelände S…“ nicht gegen das Verbot der Ausweisung neuer Baugebiete in festgesetzten Überschwemmungsgebieten verstößt.
Die Beigeladene ist Eigentümerin der Grundstücke FlNr. 1200, 1190, 1160 und 1170 der Gemarkung Z … … …, die weitgehend im festgesetzten Überschwemmungsgebiet liegen. Sie betrieb auf diesen Grundstücken in der Zeit von 1960 bis 2001 eine Zuckerfabrik. Nach der Stilllegung wurden die Produktionsanlagen bis 2005 fast vollständig zurückgebaut. Erhalten blieben eine Siloanlage und eine Pellethalle, die heute als Logistikstandort genutzt werden, sowie ehemalige Werkswohnungen (4 Mehrfamilienhäuser), die jetzt vermietet werden. Ein Teil der Fläche im Osten des Plangebiets wird landwirtschaftlich genutzt.
Am 10. Dezember 2013 beschloss der Stadtrat der Klägerin die Aufstellung des Bebauungsplans „Ehemaliges Werksgelände S …“.
Das Landratsamt Haßberge teilte der Klägerin unter dem 11. März 2016 mit, dass der Bebauungsplan als „neues Baugebiet“ nach § 78 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WHG (a.F.) dem gesetzlichen Ausweisungsverbot unterliege. Die Regierung von Unterfranken hatte diese Einschätzung mit Schreiben vom 12. Januar 2016 bestätigt.
Das Verwaltungsgericht Würzburg hat die Klage auf Feststellung, dass die Inkraftsetzung des Bebauungsplans „Ehemaliges Werksgelände S …“ nicht gegen das Verbot des § 78 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WHG (a.F.) verstößt, mit Urteil vom 24. Juli 2018 abgewiesen. Das Gelände habe nach der Stilllegung der Zuckerfabrik und dem Abriss der Fabrikgebäude seine Qualität als faktisches Baugebiet nicht behalten.
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung macht die Klägerin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils und eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Der Bebauungsplan ermögliche nicht erstmalig die Bebauung. Die industrielle Nutzung des Plangebiets wirke fort, weil nach den konkreten Umständen des Einzelfalls mit der Wiederaufnahme einer gleichartigen Nutzung zu rechnen sei.
II.
Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg. Die von der Klägerin geltend gemachten Zulassungsgründe sind nicht hinreichend dargelegt oder liegen nicht vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO, § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO).
1. Aus dem Vorbringen der Klägerin ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass mit dem streitgegenständlichen Bebauungsplan ein „neues Baugebiet“ im Sinne des § 78 Abs. 1 Satz 1 WHG ausgewiesen werden soll. Maßgeblich für die Beurteilung der Begründetheit der Feststellungsklage nach § 43 VwGO sind die im Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geltenden Rechtsvorschriften (vgl. BVerwG, U.v. 18.7.2002 – 3 C 54.01 – NVwZ 2003, 92 = juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 20.4.2010 – 22 ZB 10.753 – juris Rn. 13), vorliegend also § 78 Abs. 1 Satz 1 WHG in der ab 5. Januar 2018 gültigen Fassung vom 30. Juni 2017 (Hochwasserschutzgesetz II, BGBl I S. 2193).
1.1 In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass es bei „neuen Baugebieten“ nach § 78 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WHG a.F. um die erstmalige Ermöglichung einer Bebauung geht, mithin um Flächen, die vor der Ausweisung noch keine festgesetzten oder faktischen Baugebiete waren (BVerwG, U.v. 3.6.2014 – 4 CN 6.12 – UPR 2014, 354 = juris Rn. 13). Das Planungsverbot richtet sich also nur gegen Planungen, mit denen erstmalig eine zusammenhängende Bebauung im festgesetzten Überschwemmungsgebiet ermöglicht werden soll, während die Überplanung oder Umplanung bereits bebauter Bereiche nicht hierunter fällt.
Das Zulassungsvorbringen, der Bebauungsplan ermögliche die Bebauung wegen der bis 2005 vorhandenen Bebauung nicht erstmalig, sodass es auf eine prägende Wirkung nach Abriss der Gebäude nicht ankomme, greift zu kurz. Der historische Gesetzgeberwille, auf den das Bundesverwaltungsgericht in seinem Grundsatzurteil vom 3. Juni 2014 maßgeblich abgestellt hat (Az. 4 CN 6.12 – UPR 2014, 354 = juris Rn. 12 f.), ging dahin, die Um- oder Überplanung „bereits bebauter“ Gebiete vom Planungsverbot auszunehmen (vgl. BT-Drs. 16/13306 S. 19). Im Zuge der Neufassung des § 78 WHG mit dem Gesetz zur weiteren Verbesserung des Hochwasserschutzes und zur Vereinfachung von Verfahren des Hochwasserschutzes (Hochwasserschutzgesetz II vom 30.6.2017, BGBl I S. 2193) hat der Gesetzgeber an dieses Grundsatzurteil angeknüpft und festgelegt, dass das Planungsverbot des § 78 Abs. 1 Satz 1 WHG nur für den Außenbereich gilt. In der Begründung des Gesetzentwurfs wurden „faktische Baugebiete“ im Sinne der o.g. Rechtsprechung mit „bebauten Innenbereichslagen“ gleichgesetzt (vgl. BT-Drs. 18/10879 S. 27). Ausgehend davon sind überplante Flächen, die bauplanungsrechtlich nicht (mehr) dem Innenbereich zuzuordnen sind, nicht allein deshalb vom Anwendungsbereich des § 78 Abs. 1 Satz 1 WHG auszunehmen, weil sie früher einmal bebaut waren.
1.2 Das Verwaltungsgericht ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass das Plangebiet im Außenbereich liegt (§ 78 Abs. 1 Satz 1 WHG i.V.m. § 35 BauGB).
Die am südlichen Stadtrand der Klägerin gelegenen Grundstücke der Beigeladenen sind seit ca. 13 Jahren weitestgehend unbebaut, weitflächig renaturiert und werden zum Teil landwirtschaftlich genutzt (vgl. Luftbild S. 106 der Behördenakte). Mit der endgültigen Aufgabe der Nutzung als Zuckerfabrik im Jahr 2001 entfiel die prägende Kraft dieser Bebauung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung. Denn eine tatsächlich beendete bauliche Nutzung verliert ihre den Rahmen mitbestimmende Kraft, wenn sie endgültig aufgegeben worden ist und nach der Verkehrsauffassung mit ihr nicht mehr gerechnet wird (vgl. BVerwG, U.v. 23.11.2016 – 4 CN 2.16 – NVwZ 2017, 412 = juris Rn. 18). Mit der Aufgabe der industriellen Nutzung fehlt eine Siedlungsstruktur, die mit der künftigen Bebauung „fortentwickelt“ werden könnte und die als Planersatz geeignet wäre, die künftige Bebauung zu lenken.
Allerdings können abgerissene Gebäude und eingestellte Nutzungen baurechtlich eine prägende Wirkung behalten, wenn die Verkehrsanschauung mit einem Wiederaufbau oder der Wiederaufnahme einer gleichartigen Nutzung rechnet (vgl. BVerwG, U.v. 23.11.2016 – 4 CN 2.16 – NVwZ 2017, 412 = juris Rn. 20; U.v. 19.9.1986 – 4 C 15.84 – NVwZ 1987, 406 = juris Rn. 20). Dies hat das Verwaltungsgericht unter Würdigung der Einzelfallumstände verneint (vgl. UA S. 10 ff.). Die Zulassungsbegründung setzt sich mit dieser Wertung nicht konkret auseinander. Sie legt nicht dar, weshalb die Verkehrsauffassung hier mit einer Wiederaufnahme der früheren, industriell geprägten Nutzung gerechnet haben müsste. Die pauschale Behauptung, es sei nicht zweifelhaft, dass die industrielle Nutzung des Plangebiets noch nachwirke, wird den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO (vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2018 – 8 ZB 17.1486 – juris Rn. 11; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 56) nicht gerecht. Auch mit ihrer allgemeinen Behauptung, die Beigeladene habe sich fortlaufend um eine Wiederbebauung bemüht, vermag die Klägerin die verwaltungsgerichtliche Wertung, keine der Bemühungen um eine Nachnutzung des ehemaligen Werksgeländes sei ernsthaft weiterverfolgt worden bzw. es habe sich dabei um zahlreiche „Luftnummern“ gehandelt (vgl. UA S. 13 f.), nicht infrage zu stellen. Die von der Beigeladenen hierzu – ohne eigenen Zulassungsantrag und außerhalb der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO – vorgetragenen Erwägungen können die erforderliche Darlegung durch die Rechtsmittelführerin (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 54) nicht ersetzen.
Das Zulassungsvorbringen, das von der Rechtsprechung zur Nachprägung nach § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 BauGB entwickelte „Zeitmodell“ könne vorliegend nicht als Orientierungshilfe herangezogen werden, führt ebenfalls nicht zur Berufungszulassung. Das Verwaltungsgericht hat hierauf nicht tragend abgestellt, sondern nur ergänzend angeführt, dass selbst bei Anwendung dieser Grundsätze keine Nachprägung durch die abgerissenen Gebäude anzunehmen sei (vgl. UA S. 11).
1.3 Der Einwand der Klägerin, das Plangebiet habe angesichts seiner früheren industriellen Nutzung und der stetigen Bemühungen um eine Nachnutzung nie eine Funktion als Rückhaltefläche nach § 77 WHG wahrgenommen, geht fehl. Die Charakterisierung als Rückhaltefläche knüpft allein an die objektive Eignung, nicht an eine subjektive Bestimmung an. Auf die Intention, derartige Flächen auch tatsächlich zu Hochwasserrückhaltezwecken in Anspruch zu nehmen, kommt es somit nicht an (vgl. Rossi in Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, WHG AbwAG, Stand Juni 2018, § 77 WHG Rn. 7; Kotulla, WHG, 2. Aufl. 2011, § 77 Rn. 5).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung zu, wenn eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich, bislang höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist; die Frage muss ferner im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer berufungsgerichtlichen Klärung zugänglich sein und dieser Klärung auch bedürfen (vgl. BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – NVwZ 2016, 1243 = juris Rn. 20; BVerwG, B.v. 4.8.2017 – 6 B 34.17 – juris Rn. 3). Grundsätzliche Bedeutung ist zu verneinen, wenn sich eine Rechtsfrage ohne Weiteres unter Anwendung anerkannter Auslegungsmethoden und unter Heranziehung der bisherigen Rechtsprechung beantworten lässt (vgl. BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – NJW 2009, 3642 = juris Rn. 24). Das ist hier der Fall. Dass es ein früherer, vor Jahren zurückgebauter Gebäudebestand nicht ausschließt, eine Fläche als „neues“ Baugebiet nach § 78 Abs. 1 Satz 1 WHG zu betrachten, lässt sich dem Willen des Gesetzgebers und der höchstrichterlichen Rechtsprechung ohne Weiteres entnehmen (vgl. oben 1.1). Auch die – vor dem Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Juni 2014 (Az. 4 CN 6.12 – UPR 2014, 354) ergangene – Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. Mai 2013 (Az. 1 C 4/13, BauR 2014, 661), auf die sich die Beigeladene beruft, enthält keine anderslautende Aussage, sondern bezieht sich auf die Festschreibung des Bestands eines gewachsenen Baugebiets.
Die weiter angeführte Frage, ob es sich um eine „neues“ Baugebiet handeln kann, wenn die mit § 78 WHG bezweckte Schutzfunktion als Rückhaltefläche aufgrund der ehemaligen Bebauung nicht ausgeübt werden kann, ist vorliegend nicht klärungsfähig, weil weder dargelegt noch sonst erkennbar ist, dass die gegenständlichen Grundstücke objektiv als Rückhalteflächen ungeeignet wären (vgl. oben 1.3).
3. Das Darlegungsgebot nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO kann nur durch das Vorbringen des Rechtsmittelführers erfüllt werden (vgl. Seibert in Sodan Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 205). Es hält ihn an, sorgfältig zu prüfen, ob er das Rechtsmittel überhaupt einlegen möchte und ob es dafür die gesetzlich vorgesehenen Zulassungsgründe gibt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 54). Im Übrigen können die Ausführungen der Beigeladenen, die selbst keinen Zulassungsantrag gestellt hat, der gerichtlichen Prüfung im Zulassungsverfahren schon deshalb nicht zugrunde gelegt werden, weil sie nicht innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vorgetragen wurden.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO (zur Nichterstattungsfähigkeit außergerichtlicher Kosten der Beigeladenen im Zulassungsverfahren vgl. BayVGH, B.v. 6.10.2017 – 8 ZB 15.2664 – ZfB 2018, 33 = juris Rn. 24 m.w.N.).
5. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 3, Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 GKG. Der Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, an dem sich der Senat regelmäßig orientiert, empfiehlt unter Nr. 2.3, 9.8.3, 11.3, 19.3 und 34.3 für das immaterielle Interesse von Gemeinden wegen einer Beeinträchtigung ihres Selbstverwaltungsrechts einen Streitwert von 60.000 Euro. Eine Anlehnung daran erscheint auch im vorliegenden Fall sachgerecht (vgl. auch BayVGH, B.v. 8.1.2019 – 8 C 18.456 – noch nicht veröffentlicht). Die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts war entsprechend abzuändern (§ 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG).
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).