Baurecht

Vergabeentscheidung zur Errichtung und zum Betrieb eines Fahrradmietsystems

Aktenzeichen  RMF-SG21-3194-3-19

Datum:
26.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 44928
Gerichtsart:
Vergabekammer
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GWB § 99 Nr. 2, § 102 Abs. 4, § 137 Abs. 1 Nr. 9
SektVO § 13 Abs.2, Abs. 8, Abs. 9
VgV § 37 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Der Betrieb eines Fahrradverleihsystems stellt keine Sektorentätigkeit gemäß § 102 Abs. 4 GWB dar. Sektorentätigkeiten im Bereich Verkehrsleistungen haben immer netzgebundene Verkehrsleistungen zum Gegenstand. Ein Fahrradverleihsystem ist dem Individualverkehr zuzuordnen. Es wäre mit der Gesetzessystematik nicht vereinbar, wenn über das Vehikel der Sektorenhilfstätigkeit Verkehrsleistungen, die nicht von § 102 Abs. 4 GWB erfasst sind, der Sektorentätigkeit zugeordnet werden könnten. Sektorenhilfstätigkeiten sind nur solche Leistungen, die ohne die Sektorentätigkeit nicht erbracht werden. (Rn. 90)
2. Die VSt kann sich nicht darauf berufen, dass mit dem Nachprüfungsantrag die Unwirksamkeit gemäß § 135 Abs. 2 Satz 2 GWB nicht mehr festgestellt werden könne, weil die ASt den Nachprüfungsantrag erst nach Ablauf der 30 Tage-Frist nach Veröffentlichung der Vergabebekanntmachung gestellt habe, wenn die Bekanntmachung mehrere Fehler enthält und somit keine Rechtswirkung entfaltet. (Rn. 98)
3. Gemäß dem Tatbestand von § 135 Abs. 2 Satz 1Hs. 1 GWB ist diese Vorschrift nur anzuwenden, wenn Bieter oder Bewerber von der VSt entsprechend informiert wurden. Hat die VSt die ASt nicht am Vergabeverfahren beteiligt, so hatte die ASt keine Bieteroder Bewerberstellung inne. Die über den Wortlaut hinausgehende teleologische Auslegung von § 135 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 GWB, dass die 30 Tagesfrist auch dann beginnen würde, wenn der Wirtschaftsteilnehmer direkt von der VSt informiert worden sei, selbst wenn er nicht Bieter oder Bewerber im Vergabeverfahren gewesen sei, widerspricht dem eindeutigen Wortlaut und lässt eine solche Auslegung nicht zu. (Rn. 101)
4. Die Bekanntmachung über vergebene Aufträge darf erst bekannt gemacht werden, nachdem der Vertragsschluss erfolgt ist. (Rn. 102)
5. Der Gesetzgeber hat in § 135 Abs. 2 GWB einen gesetzlich detailliert normierten Verwirkungstatbestand geschaffen. Es erscheint nicht zulässig – wenn die Voraussetzungen für eine Verkürzung der Frist auf 30 Kalendertagen gemäß § 130 Abs. 2 GWB nicht vorliegen und der Vertragsschluss noch keine sechs Monate zurück liegt – über das Institut der Verwirkung die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrages infrage stellen zu wollen. (Rn. 103)
6. Gemäß § 160 Abs. 3 Satz 2 GWB ist bei einer durchgeführten de-facto-Vergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der EU keine Rüge erforderlich. Die von einem ASt dennoch erhobene Rüge löst nicht die Frist des § 160 Abs. 3 Nr. 4 GWB aus. (Rn. 107)

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt ist.
2. Es wird festgestellt, dass die zwischen der Vergabestelle und der Beigeladenen abgeschlossene Durchführungsvereinbarung vom xx.xx…. zum Aufbau und Betrieb eines stationären Fahrradverleihsystems in … durch … und die nachfolgend abgeschlossene Rahmenvereinbarung vom xx.xx…./xx.xx…. von Anfang an unwirksam sind. Auf der Grundlage der Rahmenvereinbarung beauftragte Bestellungen sind ebenfalls unwirksam und rückabzuwickeln.
3. Bei fortbestehender Beschaffungsabsicht hat die Vergabestelle unter Beachtung der Vorschriften des Kartellvergaberechts und der Rechtsauffassung der Vergabekammer die Liefer- und Dienstleistungen in einem wettbewerblichen Verfahren zu beschaffen und eine Auftragsbekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union zu veröffentlichen.
4. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin trägt die Vergabestelle.
5. Die Beigeladene trägt ihre Aufwendungen selbst.
6. Die Gebühr für dieses Verfahren beträgt x….,- €.

Gründe

1. Der Nachprüfungsantrag ist im Hauptantrag zulässig.
a) Die Vergabekammer Nordbayern ist für das Nachprüfverfahren nach § 1 Abs. 2 und § 2 Abs. 2 Satz 2 BayNpV sachlich und örtlich zuständig.
b) Die VSt ist öffentlicher Auftraggeber nach § 99 Nr. 2 GWB. Sie ist eine städtische Verkehrsgesellschaft, die zu 100% im Eigentum der … steht, welche wiederum zu 100% der … gehört.
Die Vergabestelle handelt vorliegend nicht als Sektorenauftraggeberin, weil der Betrieb des Fahrradverleihsystems keine Sektorentätigkeit gemäß § 102 Abs. 4 GWB darstellt. Entgegen der Auffassung der Vergabestelle handelt es sich bei der Fortführung und Weiterentwicklung des bestehenden Fahrradvermietsystems nicht um eine Sektorentätigkeit. Unstreitig ist die Vergabestelle zwar Sektorenauftraggeberin im Sinn von § 100 Abs. 1 Nr. 2 GWB in Verbindung mit § 102 Abs. 4 GWB, soweit sie die Allgemeinheit mit Verkehrsleistungen per …, … und … versorgt. Nach Auffassung der Vergabestelle ermöglicht, erleichtert oder fördert der verfahrensgegenständliche Auftrag diese unstreitige Sektorentätigkeit (= Betrieb des …, … und …netzes) der Vergabestelle und unterliegt deshalb als sogenannte Sektorenhilfstätigkeit den Vorschriften der Vergabe von öffentlichen Aufträgen durch Sektorenauftraggeber. Die erkennende Vergabekammer sieht im verfahrensgegenständlichen Fahrradverleihsystem dagegen keine Sektorentätigkeit. Der Gesetzgeber hat in § 102 Abs. 4 GWB abschließend festgelegt, welche Verkehrsleistungen eine Sektorentätigkeit darstellen. Sektorentätigkeit im Bereich Verkehrsleistungen haben immer netzgebundene Verkehrsleistungen zum Gegenstand. Ein Fahrradverleihsystem ist dem Individualverkehr zuzuordnen. Es wäre mit der Gesetzessystematik nicht vereinbar, wenn über das Vehikel der Sektorenhilfstätigkeit Verkehrsleistungen, die nicht von § 102 Abs. 4 GWB erfasst sind, der Sektorentätigkeit zugeordnet werden könnten. Es macht einen Unterschied, ob eine Sektorenhilfstätigkeit die in § 102 Abs. 4 GWB definierte Sektorentätigkeit lediglich ermöglicht, erleichtert oder fördert (z.B. Catering in Zügen) oder ob die Tätigkeit eine eigenständige Verkehrsleistung ist, die von der abschließenden Aufzählung in § 102 Abs. 4 GWB nicht erfasst ist. Sektorenhilfstätigkeiten sind folglich nur solche Leistungen, die ohne die Sektorentätigkeit nicht erbracht werden. Fahrradverleihsysteme sind eigenständige Verkehrssysteme, die auch ohne ein …- oder …liniennetz betrieben werden können. Zum Beispiel können Touristen und Anwohner Kunden eines Fahrradverleihsystems sein, auch wenn sie das ÖPNV-Netz der Vergabestelle nicht nutzen möchten. Das Fahrradverleihsystem der Vergabestelle ist daher kein Hilfssystem der Sektorentätigkeit gem. § 102 Abs. 4 GWB, sondern ein zusätzlicher eigenständiger Aufgabenbereich. Der Argumentation der Antragstellerin ist zuzustimmen, dass das Maximalziel der Verkehrsplanung immer die Abstimmung und Integration aller angebotenen Verkehrsmittel sei. Als Konsequenz müsste dann der Betrieb aller Verkehrsträger als Sektorenhilfstätigkeiten eingestuft werden. Das ist aber mit dem Wortlaut von § 102 Abs. 4 GWB und der Gesetzessystematik nicht vereinbar.
Im Ergebnis können somit Verkehrsleistungen, die nicht von der abschließenden Aufzählung von § 102 Abs. 4 GWB erfasst sind, nicht Sektorentätigkeit sein.
c) Bei dem abgeschlossenen Rahmenvertrag handelt es sich um einen öffentlichen Auftrag im Sinne von § 103 Abs. 1 GWB. Auf der Grundlage dieses Rahmenvertrages können Lieferund Dienstleistungen durch die Vergabestelle abgerufen werden.
d) Der Auftragswert übersteigt den Schwellenwert, § 106 Abs. 1 GWB. In der Bekanntmachung über vergebene Aufträge vom 23.12.2017 hat die Vergabestelle den endgültigen Gesamtauftragswert mit x Millionen Euro beziffert.
e) Die ASt ist antragsbefugt. Sie hat i.S.d. § 160 Abs. 2 GWB vorgetragen, dass sie als Betreiberin von vergleichbaren Fahrradverleihsystemen ein Interesse an dem öffentlichen Auftrag hat und eine Verletzung in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend gemacht. Sie hat vorgetragen, dass ihr durch die durch die unzulässige de-facto-Vergabe ein Schaden droht. Im Rahmen der Zulässigkeit sind an die Antragsbefugnis keine allzu hohen Anforderungen geknüpft.
f) Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags steht nicht entgegen, dass bereits eine Durchführungsvereinbarung und eine Rahmenvereinbarung mit der Beigeladenen geschlossen wurden. Ein Vertrag ist gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB von Anfang an unwirksam, wenn der öffentliche Auftraggeber den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist und dieser Verstoß in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt worden ist.
Der Feststellungsantrag ist auch innerhalb der Ausschlussfristen von § 135 Abs. 2 GWB gestellt worden.
Der Nachprüfungsantrag ist unzweifelhaft innerhalb von sechs Monaten nach Abschluss der Durchführungsvereinbarung gestellt worden.
Die Vergabestelle kann sich auch nicht darauf berufen, dass mit dem Nachprüfungsantrag die Unwirksamkeit gemäß § 135 Abs. 2 Satz 2 GWB nicht mehr festgestellt werden könne, weil die Antragstellerin den Nachprüfungsantrag erst nach Ablauf der 30 Tage-Frist nach Veröffentlichung der Vergabebekanntmachung vom xx.xx…. gestellt habe. Die Bekanntmachung vom xx.xx…. enthält mehrere Fehler, sodass sie keine Rechtswirkung entfaltet.
Zum einen hat die Vergabestelle in der Bekanntmachung beim gemeinsamen Vokabular für öffentliche Aufträge (CPV) als Hauptgegenstand den CPV-Code 60170000 angegeben. Aufgrund der Verwendung dieses fehlerhaften CPV-Codes wurde die Bekanntmachung mit der Überschrift „Vermietung von Fahrzeugen zur Personenbeförderung mit Fahrer“ veröffentlicht. Das verfahrensgegenständliche Fahrradverleihsystem hat nichts mit der Vermietung von Fahrzeugen zur Personenbeförderung mit einem Fahrer zu tun. Es ist daher nachvollziehbar, dass ein Wirtschaftsteilnehmer (der ein Fahrradverleihsystem anbieten möchte), selbst wenn er bei der erweiterten Suche im TED diese Bekanntmachung gefunden hätte, dieser keiner weitere Beachtung geschenkt hätte. Aufgrund der Verwendung eines falschen CPV-Codes als Hauptgegenstand wurde die fehlerhafte Überschrift bei der Bekanntmachung vom xx.xx…. generiert. Eine solch fehlerhafte Überschrift ist für den Wirtschaftsteilnehmer, der sich auf der TED-Website informiert, irreführend.
Zudem hat die Vergabestelle in der Bekanntmachung vom xx.xx … unter VI.3.2) (=Einlegung von Rechtsbehelfen) und VI.3.3) (= Stelle, die Auskünfte über die Einlegung von Rechtsbehelfen erteilt) keine Angaben gemacht. Die Vergabestelle (als öffentliche Auftraggeber gemäß § 99 Nr. 2 GWB) hätte für die „Bekanntmachung vergebener Aufträge“ das Standardformular Anhang III der DVO (EU) 2015/1986 verwenden müssen. Unter VI. des Standardformulars Anhang III. „Bekanntmachung vergebener Aufträge“ sind Angaben zu den Fristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen zu machen. „Anstelle der genauen Angaben der Fristen kann auch eine Stelle angegeben werden, bei der Auskünfte über die Einlegung von Rechtsbehelfen erhältlich sind. Fehlt es in der Bekanntmachung an notwendigen Bestandteilen oder sind diese fehlerhaft, tritt mangels Veröffentlichung einer ordnungsgemäßen Bekanntmachung keine Fristverkürzung nach § 135 Abs. 2 Satz 2 GWB ein“ (Dreher/Hoffmann in Beck`scher Vergaberechtskommentar, GWB 4. Teil, § 135 Rn. 71). So liegt der Fall hier. Die Vergabestelle hat weder Angaben zu den Fristen gemacht, noch eine Stelle angegeben, die Auskünfte über die Einlegung von Rechtsbehelfen erteilt. Damit die in § 135 Abs. 2 Satz 2 GWB vorgesehene Fristverkürzung eintritt, sind über den reinen Wortlaut hinaus sowohl die inhaltlichen Bestimmungen der Rechtsmittelrichtlinie als auch die DVO (EU) 2015/1986 zwingend zu beachten, ansonsten wäre § 135 Abs. 2 GWB aufgrund des Anwendungsvorrangs des Europarechts unanwendbar, mit der Folge, dass der Rückgriff auf die Fristenregelung vollkommen versperrt wäre (siehe dazu Dreher/Hoffmann in: Beck‘scher Vergaberechtkommentar, Bd. 1, GWB 4. Teil, 3. Aufl. 2017, § 135 Rn. 61, 65 f).
Der Nachprüfungsantrag ist auch nicht gemäß § 135 Abs. 2 Satz 1Hs. 1 GWB unzulässig, weil die Antragstellerin den Nachprüfungsantrag nicht innerhalb von 30 Kalendertagen nach der Rügezurückweisung vom 12.04.2018 gestellt hat. Gemäß dem Tatbestand von § 135 Abs. 2 Satz 1Hs. 1 GWB ist diese Vorschrift nur anzuwenden, wenn Bieter oder Bewerber von der Vergabestelle entsprechend informiert wurden. Die Vergabestelle hat die Antragstellerin nicht an dem verfahrensgegenständlichen Vergabeverfahren beteiligt, somit hatte die Antragstellerin keine Bieteroder Bewerberstellung inne. Die über den Wortlaut hinausgehende teleologische Auslegung der Vergabestelle von § 135 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 GWB, dass die 30 Tagesfrist auch dann beginnen würde, wenn der Wirtschaftsteilnehmer direkt von der Vergabestelle informiert worden sei, selbst wenn er nicht Bieter oder Bewerber im Vergabeverfahren gewesen sei, widerspricht dem eindeutigen Wortlaut und lässt eine solche Auslegung nicht zu. „In dem die Vorschrift nur noch auf die Information der betroffenen Bieter und Bewerber durch den öffentlichen Auftraggeber abstellt, spielt die 30-Tages-Frist nach § 135 Abs. 2 Satz 1 Hs.1 für außenstehende Unternehmen in den Fällen einer de-facto-Vergabe nach § 135 Abs. 1 Nummer 2 GWB keine Rolle mehr (Dreher/Hoffmann in Beck`scher Vergaberechtskommentar, GWB 4.Teil § 135 Rn. 60)“. Zudem muss berücksichtigt werden, dass die Vergabestelle in dem Schreiben vom 12.04.2018 nicht auf die 30-Tages-Frist nach § 135 Abs. 2 Satz 1 Hs.1 GWB hingewiesen hat. Wenn die Vergabestelle das Schreiben vom 12.04.2018 nicht nur als Zurückweisung der Rüge, sondern auch als Informationsschreiben nach § 135 Abs. 2 Satz 1 Hs.1 GWB ansehen möchte, dann hätte sie auf Rechtsfolgen und die 30-Tages-Frist hinweisen müssen.
Zudem ist die Bekanntmachung vom xx.xx…. inhaltlich unrichtig, weil in dieser Bekanntmachung bereits der Abschluss der Rahmenvereinbarung bekannt gegeben wurde. Tatsächlich wurde die Rahmenvereinbarung erst am xx.xx…./xx.xx…. unterzeichnet. Die Bekanntmachung über vergebene Aufträge darf erst bekannt gemacht werden, nachdem der Vertragsschluss erfolgt ist (VK Südbayern, Beschluss vom 18.11.2014, Az. Z3-3-3194-1-40-09/14). Unerheblich ist, dass am xx.xx…. eine Durchführungsvereinbarung unterzeichnet wurde, denn in der Bekanntmachung wurde explizit der Abschluss der Rahmenvereinbarung bekannt gegeben. Nachdem die Vergabestelle in ihrem Schreiben vom 12.04.2018 auf die Bekanntmachung Bezug nahm, wird auch dieses insoweit unrichtig.
Der Nachprüfungsantrag ist auch nicht wegen Verwirkung unzulässig. Der Gesetzgeber hat in § 135 Abs. 2 GWB einen gesetzlich detailliert normierten Verwirkungstatbestand geschaffen. Es erscheint nicht zulässignachdem die Voraussetzungen für eine Verkürzung der Frist auf 30 Kalendertagen gemäß § 130 Abs. 2 GWB nicht vorliegen und der Vertragsschluss noch keine sechs Monate zurück liegt – über das Institut der Verwirkung die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrages infrage stellen zu wollen. Wie bereits ausgeführt, hat der Gesetzgeber in § 135 Abs. 2 GWB bereits ausführlich geregelt, unter welchen Umständen ein Antragsteller sich nicht mehr auf die Unwirksamkeit berufen darf. Zudem hat die Antragstellerin zutreffend darauf hingewiesen, dass die Vergabestelle ihr im Schreiben vom 12.04.2018 nicht den Zeitpunkt des Vertragsschlusses mitgeteilt habe. Aus diesem Grund habe ein erhöhter Rechercheaufwand bestanden. Somit fehlt es auch an dem für eine Verwirkung notwendigen Zeitmoment, denn aufgrund des erhöhten Rechercheaufwands kann der Vergabestelle nicht vorgeworfen werden, dass sie den Nachprüfungsantrag erst am 30.05.2018 gestellt hat.
g) Der Nachprüfungsantrag ist auch nicht deshalb unzulässig, weil der Ausnahmetatbestand des § 137 Abs. 1 Nr. 9 GWB greift und die Vergabestelle die Bestimmungen des Kartellvergaberechts folglich nicht beachten müsste. Die Ausnahmetatbestände des § 137 GWB „sind ausschließlich bei der Vergabe von Aufträgen im Sinne des § 102 durch Sektorenauftraggeber nach § 100 zugrunde zu legen“ (Lausen in Beck´scher Vergaberechtkommentar, GWB 4. Teil, 3. Aufl., § 137 Rn. 5). Wie bereits oben unter 1. b) ausgeführt, ist die Vergabestelle im vorliegenden Fall keine Sektorenauftraggeberin.
Zudem erfasst § 137 Abs. 1 Nr. 9 GWB die Händlertätigkeit eines Sektorenauftraggebers (Summa in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Aufl. 2016, § 137 GWB, Rn. 15). Voraussetzung für die Vergaberechtsfreiheit ist somit, „dass es für den Auftragsgegenstand einen freien Markt mit mehreren Anbietern gibt (Summa in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Aufl. 2016, § 137 GWB, Rn. 18). „Gemäß § 137 Abs. 1 Nummer 9 lit. b) GWB besteht nur dann keine Ausschreibungspflicht, wenn ein hinreichender Wettbewerb besteht und die in Rede stehenden Waren allgemein zum Kauf oder zur Miete angeboten werden“ (Röwekamp in Kulartz/Kus/Portz/Prieß, Kommentar zum GWB-Vergaberecht, 4. Aufl. § 137 GWB Rn. 7).
Nachdem das von der Vergabestelle beabsichtigte Fahrradverleihsystem von der BGl in der Vergangenheit nicht eigenwirtschaftlich betrieben werden konnte, kann hier nicht gemäß § 137 Abs. 1 Nr. 9 GWB von einem hinreichenden Wettbewerb ausgegangen werden. Somit greift der Ausnahmetatbestand des § 137 Abs. 1 Nr. 9 GWB nicht, weil für die Vermietung von Fahrrädern an Dritte in der verfahrensgegenständlichen Art und Weise (frei zugängliche Fahrräder zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Kundenservice) kein hinreichender Wettbewerb vorhanden ist.
h) Gemäß § 160 Abs. 3 Satz 2 GWB ist bei einer durchgeführten de-facto-Vergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der EU keine Rüge erforderlich. Die von der Antragstellerin dennoch erhobene Rüge vom 29.03.2018 löst nicht die Frist des § 160 Abs. 3 Nr. 4 GWB aus (Wiese in Kulartz/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 4. Aufl., § 160 Rn. 198).
2. Der Nachprüfungsantrag ist begründet.
Die Vergabestelle war nicht berechtigt, gemäß § 13 Abs. 2 Nrn.3, 8, 9 SektVO bzw. nach § 14 Abs. 4 Nrn. 2 und 7 VgV im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb den Auftrag an die Beigeladene zu vergeben. Die Vergabestelle hätte nach § 37 VgV eine Auftragsbekanntmachung veranlassen müssen, die sie aber unterlassen hat. Die Antragstellerin ist dadurch in ihren Rechten verletzt. Gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB war somit die Unwirksamkeit der bereits geschlossenen Vereinbarungen festzustellen.
a) § 13 Abs. 2 Nr. 8 SektVO ist bereits deshalb nicht anwendbar, weil es sich nicht um eine Sektorentätigkeit der Vergabestelle handelt. Auf die Begründung in Ziffer 1b) wird hierzu verwiesen. Eine inhaltsgleiche Vorschrift gibt es in der VgV nicht. Zudem hat die Antragstellerin zutreffend vorgetragen, dass der Tatbestand des § 13 Abs. 2 Nummer 8 SektVO schon deshalb nicht erfüllt sei, weil es sich hier nicht um eine besonders vorteilhafte Gelegenheit handeln würde, die nur kurzfristig bestanden habe. Die Beigeladene hat bereits im Kalenderjahr 20xx die Einstellung von … angekündigt. Somit handelt es sich um keine Gelegenheit, die nur „kurzfristig“ bestanden hat. Vielmehr hätte die Vergabestelle ab dem Jahr 20xx im Rahmen eines Vergabeverfahrens prüfen können, ob es sich tatsächlich um eine günstige Gelegenheit handelt, die bestehenden Fahrradstationen von der Beigeladenen zu übernehmen.
b) Auch die Tatbestandsvoraussetzungen von § 13 Abs. 2 Nr. 9 SektVO bzw. der inhaltsgleichen Vorschrift in § 14 Abs. 4 Nr. 7 VgV sind nicht gegeben. Die Vorschrift greift nur, wenn die Beigeladene ihre Geschäftstätigkeit endgültig eingestellt hätte oder sich in Insolvenz befunden hätte. Nach unwidersprochenem Sachvortrag der Antragstellerin betreibt die Beigeladene in über 100 Städten Leistungen mit Fahrrädern. Die Tatbestandsvoraussetzungen von § 14 Abs. 4 Nr. 7 VgV sind nicht erfüllt, wenn die Beigeladene lediglich am Standort in … das von ihr betriebene Fahrradverleihsystem einstellen möchte. Zudem befindet sich in der Vergabeakte kein Nachweis, dass der Kauf der Assets unter Berücksichtigung der gesamten Rahmenvereinbarung zu eine besonders günstigen Bedingungen erfolgt ist. Der Kauf der ortsunveränderlichen Fahrradstationen ist im Hinblick auf den Gesamtumfang der Lieferund Dienstleistungen, die die Beigeladene erbringen soll, untergeordnet. Aus der Vergabeakte kann nicht entnommen werden, dass bei einer Gesamtbetrachtung aller Liefer- und Dienstleistungen besonders günstige Bedingungen vorgelegen haben.
c) Die Voraussetzungen von § 14 Abs. 4 Nummer 2 lit. b) oder lit. c) liegen ebenfalls nicht vor.
Die Antragstellerin hat unwidersprochen vorgetragen, dass technische Gründe einem wettbewerblichen Vergabeverfahren gemäß § 14 Abs. 4 Nummer 2 lit. b VgV nicht entgegenstehen würden. Selbst wenn die vorhandenen Stationen weiter genutzt würden, könnten gebrauchte und kompatibel gemachte Fahrräder geliefert werden und kompatible neue Assets (Fahrräder und Stationen) erstellt werden. Eine abgeschlossene Ausschreibung in … (auch dort mussten die Bieter ihre Angebote auf die Bestandsinfrastruktur anpassen) habe dies belegt.
Auch Ausschließlichkeitsrechte gemäß § 14 Abs. 4 Nummer 2 lit. c VgV zwingen die Vergabestelle ebenfalls nicht, ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nur mit der Beigeladenen zu führen. In ihrem Vergabevermerk vom 21.11.2017 hat die Vergabestelle selbst ausgeführt, dass die Beigeladene – sollte sie kein Fahrradverleihsystem mehr in … betreiben – die Infrastruktur abbauen müsste. Das Eigentumsrecht der Beigeladenen an den vorhandenen Fahrradstationen ist deshalb kein Grund, dass sich die Vergabestelle auf § 14 Abs. 4 Nummer 2 lit. c VgV berufen kann. Vielmehr entscheidend ist die Frage, ob nur die Beigeladene solche Fahrradstationen im … aufstellen und betreiben darf. Die Antwort auf diese Frage hat sich die Vergabestelle in ihrer Bekanntmachung vom xx.xx…. selbst gegeben. Die Beigeladene ist lediglich aufgrund einer sogenannten Sondernutzungserlaubnis gemäß Art. 18 Bayerisches Straßen- und Wegegesetz zur Nutzung der Flächen zum Betrieb einer Fahrradstation berechtigt. Die … als zuständiger Straßenbaulastträger darf eine solche Sondernutzungserlaubnis nur auf Widerruf oder Zeit gewähren. Nachdem die Vergabestelle selbst erkannt hat, dass die Beigeladene die derzeit vorhandenen Fahrradstationen abbauen müsste, kann sich die Vergabestelle nicht darauf berufen, dass die Beigeladene Ausschließlichkeitsrechte besitzen würde. Somit kann auch jeder andere Wettbewerber mit einer entsprechenden Sondernutzungserlaubnis der … solche Fahrradstationen aufbauen und betreiben.
Zudem sind auch die in § 14 Abs. 6 VgV genannten zusätzlichen Voraussetzungen zum Ausnahmetatbestand des § 14 Abs. 4 Nummer 2 VgV nicht erfüllt. Die Entscheidung der Vergabestelle, die Anschaffung des bestehenden Fahrradverleihsystems, dessen Weiterbetrieb und weitere Entwicklung als Gesamtauftrag zusammenzufassen, stellt einen Verstoß gegen § 14 Abs. 6 VgV bzw. § 13 Abs. 3 SektVO dar, weil die Vergabestelle damit ohne nachvollziehbare Notwendigkeit künstlich den Wettbewerb einschränken wollte. Die Vergabestelle diskriminiert alle anderen Wettbewerber, wenn sie den Kauf, den Weiterbetrieb und die weitere Entwicklung des Fahrradverleihsystems in einem Auftrag zusammenfasst. Der Kauf vorhandener Assets von der Beigeladenen ist im Rahmen der Gesamtbetrachtung untergeordnet. Die Antragstellerin hat unwidersprochen vorgetragen, dass sie auch vergleichbare Leistungen erbringen könnte. Die Antragstellerin hätte auch gebrauchte Assets anbieten können. Es bestand keine nachvollziehbare Notwendigkeit, den Wettbewerb hier einzuschränken. „Soweit der Bedarf auch ohne Ausschließlichkeitsrechte gedeckt werden könnte, muss dies in der Vergabeentscheidung berücksichtigt werden“ (Kainer, NZBau 2018, S. 390f mit Verweis auf Kirch, NZBau 2016,S.742ff).
Auch der von der Vergabestelle aufgeführte zeitliche und angeblich finanzielle Mehraufwand kann die Verengung des Leistungsgegenstands nicht tragen. Eine europaweite Ausschreibung führt immer zu einem Mehraufwand für den Auftraggeber. Das ist allerdings kein Grund, ein vergaberechtlich notwendiges Verfahren nicht durchzuführen. Auch zeitliche Erwägungen rechtfertigen die Vergabe ohne ein wettbewerbliches Verfahren nicht, da die Beigeladene bereits Ende 20xx erklärt hat, … in Nürnberg nicht fortführen zu wollen. Selbst wenn sich das Fahrradverleihsystem der Beigeladenen in … gut etabliert und eingespielt haben sollte, ist es kein nachvollziehbarer Grund, den Wettbewerb einzuschränken. Auch das „know-how“ der BGl als Betreiberin des Bestandssystems rechtfertigt nicht die Einschränkung des Wettbewerbs in der vorgenommenen Art und Weise.
In der Vergabeakte findet sich kein Nachweis (z.B. durch Markterkundung), dass das Angebot der Beigeladenen konkurrenzlos wirtschaftlich ist.
Die Leistungsbestimmung muss mit dem in § 97 GWB verankerten Gebot der Wettbewerblichkeit übereinstimmen (Lampert in Burgi/Dreher, Beck‘scher Vergaberechtkommentar, § 121 GWB Rn. 5ff). Die Bestimmung des Leistungsgegenstands darf nicht zu einer Verengung des Wettbewerbs führen (siehe dazu Kainer, NZBau, 2018, S. 389). Die Vergabestelle hat hier die vergaberechtlichen Grenzen der Beschaffungsfreiheit überschritten, indem sie den Leistungsgegenstand derart einschränkt, obwohl dafür keine durch das Vergaberecht anerkannten Gründe vorliegen.
d) Nach § 168 Abs. 1 Satz 1 GWB hat die Vergabekammer geeignete Maßnahmen anzuordnen, um eine Rechtsverletzung zu beseitigen und eine Schädigung der betroffenen Interessen zu verhindern. Gemäß der Vergabeakte wurden bereits Bestellungen auf der Grundlage der Rahmenvereinbarung durch die Vergabestelle getätigt. In der mündlichen Verhandlung hat die Vergabestelle bestätigt, dass diese Bestellungen (teilweise) schon ausgeführt wurden. Nachdem die Rahmenvereinbarung unwirksam ist, war festzustellen, dass diese Bestellungen auch unwirksam sind und rückabgewickelt werden müssen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 GWB.
a) Die VSt trägt die Kosten des Verfahrens, weil sie mit ihren Anträgen unterlegen ist (§ 182 Abs. 3 Satz 1 GWB).
b) Die Kostenerstattungspflicht gegenüber der ASt ergibt sich aus § 182 Abs. 4 Satz 1 GWB.
c) Die BGl trägt ihre Aufwendungen selbst. Sie hat keine Anträge gestellt und daher kein Kostenrisiko übernommen. Eine Erstattung ihrer Aufwendungen scheidet daher ebenfalls aus.
d) Die Gebühr war nach § 182 Abs. 2 und 3 GWB festzusetzen.
Im Hinblick auf den in der Bekanntmachung vom xx.xx…. veröffentlichen Gesamtauftragswert und eines durchschnittlichen personellen und sachlichen Aufwands der Vergabekammer errechnet sich entsprechend der Tabelle des Bundeskartellamtes eine Gebühr in Höhe von x….,- €.
e) Der geleistete Kostenvorschuss von 2.500,- € wird nach Bestandskraft dieses Beschlusses an die ASt zurücküberwiesen.
Die Kostenrechnung für die VSt wird nachgereicht.

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