Baurecht

Verletzung des Rücksichtnahmegebots bei Abstandsflächenunterschreitung und Erteilung von Abweichungen

Aktenzeichen  15 B 19.1562

Datum:
30.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 28626
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 29, § 34 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
BayBO Art. 6 Abs. 5, Abs. 6 S. 1, Art. 59 S. 1, Art. 63 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Jede Verkürzung der Abstandsflächentiefe kann nur den Eigentümer des Grundstücks in seinen Rechten verletzen, gegenüber dem die Verkürzung vorgenommen wurde (sog. relative Schutzwirkung). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das 16-m-Privileg findet nur dann keine Anwendung, wenn die Abstandsflächentiefe von 1 H vor mehr als zwei Außenwänden unterschritten wird. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die standardisierenden Regelungen des Art. 6 BayBO stehen unter dem Korrekturvorbehalt einer an der Einzelfallgerechtigkeit orientierten Ermessensentscheidung. Im Anwendungsbereich des 16-m-Privilegs erscheint deshalb die Zulassung von Abweichungen nach Art. 63 BayBO an der vierten Seite nicht ausgeschlossen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 5 K 18.691 2019-03-28 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, da die Klägerin durch die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 1. März 2018 in der Fassung des Tekturbescheids vom 26. September 2019 nicht in ihren Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Baugenehmigung ist dabei an Art. 59 Satz 1 der Bayerischen Bauordnung vom 14. August 2007 (BayBO a.F., GVBl S. 588), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Juli 2017 (GVBl S. 375) zu messen. Danach prüft die Bauaufsichtsbehörde außer bei Sonderbauten die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB und den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinn des Art. 81 Abs. 1 BayBO, beantragte Abweichungen im Sinn des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird. Die Einhaltung der Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO ist daher vom Prüfungsumfang nicht erfasst.
2. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Baugenehmigung die Klägerin nicht in drittschützenden Rechten verletzt, da die Erteilung einer Abweichung von der notwendigen Tiefe der Abstandsflächen an der südlichen Außenwand die Klägerin nicht beeinträchtigt und das Vorhaben auch nicht gegen das aus § 34 Abs. 1 bzw. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO abgeleitete bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstößt.
2.1 Die Erteilung einer Abweichung von den gesetzlich zulässigen Abstandsflächentiefen auf der südlichen Gebäudeseite verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, denn jede Verkürzung der Abstandsflächentiefe kann nur den Eigentümer des Grundstücks in seinen Rechten verletzen, gegenüber dem die Verkürzung vorgenommen wurde (sog. relative Schutzwirkung, vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2000 – GrS 1/1999, 14 B 97.2901 – VGHE 53, 89 = juris Rn. 20; U.v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – VGHE 68, 273 = juris Rn. 36; B.v. 18.11.2019 – 2 CS 19.1891 – juris Rn. 5; B.v. 24.3.2020 – 1 ZB 19.659 – BeckRS 2020, 24693 Rn. 9; Hahn/Kraus in Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Stand Juli 2020, Art. 6 Rn. 615).
2.2 Auch ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ist nicht ersichtlich. Dem Rücksichtnahmegebot kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290 ff. = juris Rn. 21 m.w.N.). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BayVGH, B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 4 m.w.N.).
Für einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ist regelmäßig kein Raum, wenn die bauordnungsrechtlichen Vorschriften bezüglich der Abstandsflächen eingehalten sind (vgl. BayVGH, B.v. 15.2.2017 – 1 CS 16.2396 – juris Rn. 10 mit Hinweis auf BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – NVwZ 1999, 879). Selbst wenn die Abstandsflächenvorschriften nicht eingehalten sind, liegt aber nicht automatisch ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot vor (vgl. BayVGH, B.v. 30.7.2019 – 15 CS 19.1227 – juris Rn. 32 m.w.N.), sondern von dem Vorhaben muss eine unzumutbare Beeinträchtigung in Form einer „abriegelnden“ oder „erdrückenden“ Wirkung ausgehen. Dies ist nur dann der Fall, wenn ein nach Höhe und Volumen übergroßer Baukörper in geringem Abstand zu einem benachbarten Wohngebäude entsteht, der dem Wohngebäude förmlich „die Luft nimmt“ (vgl. BayVGH, B.v. 30.7.2019 a.a.O. Rn. 31 m.w.N.).
2.2.1 Der im Abstand von insgesamt 9 m zum Gebäude der Klägerin geplante Baukörper, der auch die Firsthöhe des Wohnhauses der Klägerin nur geringfügig übersteigt, hat gegenüber dem Anwesen der Klägerin, das selbst nach Westen die Mindestabstandsfläche von 3 m auf dem eigenen Grundstück nicht einhält und mit zwei Seiten an der S … Straße anliegt, keine erdrückende Wirkung. Das Bauvorhaben befindet sich im Abstand von 4,72 m zur Grundstücksgrenze und nimmt damit dem Gebäude auf dem Grundstück der Klägerin, an das weder von Osten noch von Norden Bebauung heranrücken kann, weder die Luft, noch das Licht. Die von der Klägerin geltend gemachten Einschränkungen der Nutzbarkeit der Freiflächen auf ihrem Grundstück resultieren insbesondere aus der Nichteinhaltung der Mindestabstandsfläche ihres Gebäudes auf ihrem Grundstück nach Westen, der Positionierung ihres Gebäudes im südlichen Teil ihres Grundstücks und der Lage an der S … Straße. Diese Umstände werden aber nicht vom Bauvorhaben des Beigeladenen hervorgerufen und verlangen daher von ihm keine gesteigerte Rücksicht.
2.2.2 Darüber hinaus spricht aber auch vieles dafür, dass die nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO vorgeschriebenen Abstandsflächentiefen allenfalls ganz geringfügig unterschritten werden, was sich auf das Grundstück der Klägerin nicht spürbar auswirken würde (vgl. Hahn/Kraus in Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Stand Juli 2020, Art. 6 Rn. 624, 625).
Zu Recht ist das Verwaltungsgericht dabei davon ausgegangen, dass vor der nördlichen Außenwand des streitgegenständlichen Bauvorhabens das 16-m-Privileg des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO grundsätzlich anwendbar ist, wenn auf zwei Seiten (hier Ost und West) die Abstandsflächentiefe von 1 H eingehalten ist. Das 16-m-Privileg findet nur dann keine Anwendung, wenn die Abstandsflächentiefe von 1 H vor mehr als zwei Außenwänden unterschritten wird (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2000 – GrS 1/1999, 14 B 97.2901 – VGHE 53, 89 Leitsatz und juris Rn. 9; U.v. 25.5.1998 – 2 B 94.2682 – VGHE 51,101 = juris Rn. 45; B.v. 18.11.2019 – 2 CS 19.1891 – juris Rn. 9). Unstreitig wird die Abstandsflächentiefe von 1 H vor der westlichen Außenwand des Hauses B eingehalten. Vor der östlichen Außenwand sind die Pläne nicht ganz eindeutig, denn in dem gestempelten Geheft „Amtlicher Lageplan Nr. 2017/99“ ist 1 H nach Osten mit 7,89 m bis zur Mitte der S … Straße eingezeichnet. Demgegenüber ist im ebenfalls gestempelten Lageplan „Erdgeschoss“ eine Abstandsfläche von 7,89 m nur im nördlichen Teil der östlichen Außenwand eingehalten. Nach Süden verringert sie sich auf 7,86 m ohne dass ersichtlich wäre, dass das Gebäude an Höhe verlieren würde. Ob es sich dabei um einen Tippfehler in den Plänen handelt, das Gelände nach Süden leicht ansteigt oder die Abstandsfläche von 1 H geringfügig unterschritten wird, ist nicht erkennbar. Gleichwohl würde aber selbst die sich aus dem Erdgeschossplan möglicherweise ergebende geringfügige Unterschreitung der Abstandsfläche von 1 H nach Osten im vorliegenden Fall nicht dazu führen, dass durch die Anwendung des 16-m-Privilegs das Rücksichtnahmegebot verletzt wäre, denn es handelt sich hier um eine städtische, relativ dicht bebaute Umgebung. Die Abstandsflächenunterschreitung ergäbe sich auch nicht auf Höhe der dem klägerischen Grundstück gegenüberliegenden nördlichen Außenwand, sondern entwickelt sich erst im Verlauf der östlichen Außenwand Richtung Süden.
Soweit die Klägerin vorträgt, die S … Straße sei keine 15 m breit und die Abstandsfläche von 1 H sei deshalb auf der gesamten Länge der östlichen Außenwand nicht eingehalten, kann dem nicht gefolgt werden. Die Beklagte hat diesbezüglich eine Berechnung ihres Geodatenamts vom 4. November 2019 vorgelegt, aus der sich eine Breite der Straße von 15 m ergibt. Diese Angaben konnte die Klägerin auch mit den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Lichtbilder nicht substantiiert in Zweifel ziehen. Aus den Lichtbildern ist ersichtlich, dass die S … Straße im Bereich des Bauvorhabens beidseitig über Gehwege, zwei getrennte Fahrspuren und eine Sperrfläche über den Straßenbahngleisen verfügt. Dass sich daraus keine 15 m Breite ergeben können, ist nicht ersichtlich.
Die grundsätzliche Anwendbarkeit des 16-m-Privilegs würde auch nicht deshalb entfallen, weil auf der vierten Seite ½ H nicht eingehalten ist, sondern dort eine Abweichung erteilt wurde. Die standardisierenden Regelungen des Art. 6 BayBO stehen unter dem Korrekturvorbehalt einer an der Einzelfallgerechtigkeit orientierten Ermessensentscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2000 – GrS 1/1999, 14 B 97.2901 – VGHE 53, 89 = juris Rn. 12; B.v. 7.2.1991 – 14 CS 90.3361 – BayVBl 1991, 438 = juris Leitsatz 1). Der Gesetzgeber selbst hat als Variante in Art. 6 Abs. 6 Satz 2 BayBO vorgesehen, dass auch im Fall einer Grenzbebauung an einer Seite das 16-m-Privileg in Anspruch genommen werden kann. Daraus ist ersichtlich, dass die Anwendung des 16-m-Privilegs nicht zwingend voraussetzt, dass auch an der vierten Seite ½ H eingehalten ist. Im Anwendungsbereich des 16-m-Privilegs erscheint deshalb die Zulassung von Abweichungen nach Art. 63 BayBO an der vierten Seite nicht ausgeschlossen.
Die nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO mindestens notwendige Abstandsfläche vor der dem klägerischen Grundstück gegenüberliegenden nördlichen Außenwand des Bauvorhabens liegt, abgesehen von 0,5 cm bezüglich eines kleinen Teilstücks der Außenwand, auf den Baugrundstücken. Die Tiefe der Abstandsfläche beträgt auf einer Länge von nicht mehr als 16 m mindestens 4,72 m und im Übrigen 1 H. Dabei konnte ein Teil der Abstandsfläche zulässigerweise auf das Grundstück FlNr. … übernommen werden, denn der Bauherr kann auch bei einer nicht durch Vor- und Rücksprünge bzw. durch unterschiedliche Wandhöhen gegliederten, mehr als 16 m langen Gebäudeseite frei entscheiden, vor welchen Wandabschnitten das 16-m-Privileg angewendet werden soll. Das gilt nicht nur im Fall einer unregelmäßig, das heißt nicht parallel zur Wand verlaufenden Grundstücksgrenze, sondern auch, wenn die Grenze zwar parallel zur Wand verläuft, die Abstandsfläche aber infolge einer Abstandsflächenübernahme zum Teil auf einem Nachbargrundstück liegen darf (vgl. BayVGH, B.v. 5.2.2009 – 1 ZB 08.910 – BRS 74 Nr. 137 Leitsatz; U.v. 25.5.1998 – 2 B 94.2682 – VGHE 51, 101 Leitsatz 1). Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass das Vorhaben des Beigeladenen die derzeit zulässigen Abstandsflächentiefen des Art. 6 BayBO ihr gegenüber maximal ausreizt. Dies ist jedoch nicht zu beanstanden und führt bei der hier aus den Plänen ersichtlichen geringfügigen Ungenauigkeit von 0,5 cm nicht zu einem Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
2.3 Besondere Umstände, die dazu führen, dass das Rücksichtnahmegebot aus anderen Gründen verletzt ist, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
3. Die Berufung war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Der Beigeladene trägt billigerweise seine außergerichtlichen Kosten selbst, weil er keinen Antrag gestellt und sich damit auch keinem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO). Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
4. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.

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