Aktenzeichen 15 ZB 15.644
Leitsatz
1. Eine gefestigte verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur Beurteilung von Geruchsbelastungen bei der Haltung von Aufzucht- bzw. Mastwachteln und Elterntieren existiert – soweit ersichtlich – bislang nicht. Dies führt zur Zulassung der Berufung. (redaktioneller Leitsatz)
2. Nachbarn eines Bauvorhabens müssen zweifelsfrei feststellen können, ob und in welchem Umfang sie betroffen sind. Eine Verletzung von Nachbarrechten liegt mithin vor, wenn die Unbestimmtheit (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG) einer Baugenehmigung ein nachbarrechtlich relevantes Merkmal betrifft. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
RN 6 K 13.2135 2015-01-27 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg
Tenor
I.
Die Berufung wird zugelassen.
II.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird vorläufig auf10.000,- € festgesetzt.
Gründe
Die Berufung ist gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten aufweist. Ob daneben auch der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils) gegeben ist, kann dahingestellt bleiben.
Die Rechtssache wirft die entscheidungsrelevante Frage auf, wie die Zumutbarkeitsgrenze der Geruchsimmissionen bei Aufzucht- bzw. Mastwachteln am Maßstab des hier über § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB geltenden Rücksichtnahmegebots zu konturieren ist. Deren Beantwortung bereitet in tatsächlicher sowie rechtlicher Hinsicht das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten.
Eine gefestigte verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur Beurteilung von Geruchsbelastungen bei der Haltung von Aufzucht- bzw. Mastwachteln und Elterntieren existiert – soweit ersichtlich – bislang nicht. Die Klägerin weist in der Zulassungsbegründung zu Recht darauf hin, dass mit der Bewertung der Geruchsbelastung durch Wachteln, wie sie der gutachterlichen Stellungnahme der Regierung von Niederbayern vom 9. September 2014 und hierauf aufbauend auch der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts zugrunde lag, „Neuland betreten“ wird. Unabhängig von der von der Klägerin nicht näher thematisierten Frage, inwiefern die gutachterliche Stellungnahme der Regierung von Niederbayern vom 9. September 2014, die von einer durchschnittlichen Lebendmasse von 0,125 kg bzw. 0,00025 Großvieheinheiten (GV) pro Aufzuchtwachtel ausgegangen ist (und bei einem Ansatz von 400 Elterntieren mit jeweils 0,00054 GV/Tier mit einem Gesamtbestand von 2,7 GV rechnete), mit Blick auf die – nach unterschiedlichen Arten von Aufzuchtwachteln differenzierenden – Umrechnungstabelle auf Seite 4 des Kapitels 2.1.1 des Bayer. Arbeitskreises „Immissionsschutz in der Landwirtschaft“ /Stand 08/2013 (= Seite 10 bei Golze/Wehlitz, Spezialgeflügel – Erzeugung und Produktqualität, Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie des Freistaats Sachsen) zu sehr die Umrechnung in GV vereinfacht, stellt sich jedenfalls – und insofern auch von der Klägerin in der Zulassungsbegründung hinreichend thematisiert – die tatsächlich und rechtlich schwierige Frage, welcher Emissionsfaktor (= Massestrom an luftverunreinigenden Stoffen, der insbesondere auf die in GV angegebenen Tiermasse bezogen ist, vgl. Nr. 2 VDI 3894 Bl. 1, abgedruckt bei König/Roeser/Stock, BauNVO, 3. Aufl. 2014, Anh. 10a) bei Wachteln und insbesondere Aufzuchtwachteln anzusetzen ist. Dies betrifft hier die konkrete Abgrenzungsfrage, ob in Orientierung an den Angaben für Geflügel in Nr. 6.1, Tabelle 22 der VDI 3894 Bl. 1 = Anhang B, Tabelle B1 der VDI 3894 Bl. 2 (abgedruckt bei König/Roeser/Stock, BauNVO, 3. Aufl. 2014, Anh. 10b) aufgrund der vergleichbaren Haltungsform (Kleingruppenhaltung mit Kotband, vgl. Nr. 3.1.3, Tabelle 9 der VDI 3894 Bl. 1) der für Legehennen maßgebliche Wert von 30 GE/(s … GV) zugrunde zu legen ist oder ob – weil es sich insofern um Mastgeflügel handelt und deshalb ggf. besonderes Mastfutter gegeben wird – womöglich ein höherer Emissionsfaktor zugrunde zu legen ist, vgl. etwa den bei der Hähnchenmast mit Bodenhaltung relevanten Wert von 60 GE/(s … GV). Tatsächlich und rechtlich schwierig ist zudem, welcher tierspezifische Gewichtungsfaktor (= belästigungsrelevante Kenngröße, mit dem die in Prozent der Jahresgeruchsstunden ermittelte Belastung zur Berechnung des belästigungsrelevanten Prozentwerts zu multiplizieren ist, Nr. 4.6, Tabelle 4 der GIRL i.d. Fassung vom 29. Februar 2008 und der Ergänzung vom 10. September 2008 sowie Anhang F, Tabelle F2 der VDI 3894 Blatt 2; vgl. hierzu z. B. VGH BW, B. v. 25.4.2016 – 3 S 1784/15 – juris Rn. 37 ff.) heranzuziehen ist. Auch hier stellt sich die Frage, ob bei den Aufzuchtwachteln ein höherer Faktor als 1 anzuwenden ist, vgl. etwa den bei „Mastgeflügel (Puten, Masthähnchen)“ einschlägigen Gewichtungsfaktor 1,5. Im Übrigen wäre zu hinterfragen, inwiefern das Verwaltungsgericht von einer günstigen Geruchsprognose ohne weitere sachverständige Unterstützung auch für 500 Elterntiere ausgehen durfte, obwohl die gutachterliche Stellungnahme der Regierung von Niederbayern vom 9. September 2014 auf 400 Elterntiere zugeschnitten war.
Den vorgenannten Sach- und Rechtsfragen kann die Entscheidungserheblichkeit /Klärungsbedürftigkeit und mithin die (mögliche) Ergebnisrelevanz (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 29) nicht abgesprochen werden. Der Senat verkennt nicht, dass die Beklagte mit ihrer Stellungnahme vom 3. Juni 2015 unter Vorlage einer ergänzenden fachlichen Stellungnahme der Regierung von Niederbayern vom 22. Mai 2015 einerseits die von ihr angesetzten Faktoren – d. h. einen Emissionsfaktor von 30 GE/(s … GV) sowie einen tierspezifische Gewichtungsfaktor von 1 – durch Darlegung der Haltungsform und des konkret vergebenen Futters aufgrund der jeweiligen Vergleichbarkeit zur Legehennenaufzucht näher plausibilisiert sowie andererseits vorgetragen hat, dass sich auch bei einer „worst-case-Betrachtung“ – d. h. bei Ansatz von 4 GV, eines Emissionsfaktors von 60 GE/(s … GV) und eines tierspezifischen Faktors von 1,5 – eine Zusatzbelastung von max. 0,6% bzw. bei Berücksichtigung der Reinigung der Gitterroste von weiteren max. 0,9% ergebe, so dass die Gesamtzusatzbelastung auch hiernach unterhalb der Irrelevanzschwelle (Nr. 3.3 der GIRL) verbleibe. Eine solche – auch fachlich untermauerte – Konkretisierung stand aber dem Erstgericht noch nicht zur Verfügung, zumal die im Zulassungsverfahren vorgelegte „worst-case-Betrachtung“ der Regierung von Niederbayern vom 22. Mai 2015 für das anstehende Berufungsverfahren eingehender begründet werden müsste, um dem Senat als gutachterliche Äußerung hinreichendes Fachwissen zu vermitteln.
Zudem weist der Senat darauf hin, dass im Berufungsverfahren auch der Reichweite der Bestimmtheitsanforderungen an eine Baugenehmigung nachzugehen sein wird, wobei u. a. auch die vorher bereits angesprochenen Aspekte eine Rolle spielen. Eine Baugenehmigung verletzt Rechte des Nachbarn, wenn sie hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Fragen unbestimmt ist und infolge dessen im Falle der Umsetzung des Bauvorhabens eine Verletzung von Nachbarrechten – im vorliegenden Fall des Rücksichtnahmegebots zulasten der Klägerin hinsichtlich der Geruchsbelastung – nicht auszuschließen ist. Eine Baugenehmigung muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG). Sie muss Inhalt, Reichweite und Umfang der genehmigten Nutzung eindeutig erkennen lassen, damit die mit dem Bescheid getroffene Regelung für die Beteiligten des Verfahrens nachvollziehbar und eindeutig ist. Nachbarn müssen zweifelsfrei feststellen können, ob und in welchem Umfang sie betroffen sind. Eine Verletzung von Nachbarrechten liegt mithin vor, wenn eine Unbestimmtheit ein nachbarrechtlich relevantes Merkmal betrifft (vgl. BayVGH, B. v. 28.6.1999 – 1 B 97.3174 – juris Rn. 16; B. v. 18.9.2008 – 1 ZB 06.2294 – juris Rn. 28; B. v. 27.5.2011 – 14 B 10.773 – juris Rn. 24 ff.; B. v. 5.10.2011 – 15 CS 11.1858 – juris Rn. 14; OVG NW, B. v. 30.5.2005 – 10 A 2017/03 – BauR 2005, 1495 = juris Rn. 4 ff.; ThürOVG, U. v. 24.11.2005 – 1 KO 531/02 – juris Rn. 31 ff. – jeweils m. w. N.).
Im vorliegenden Fall werden zwar durch die Auflagen Nr. 9 und Nr. 10 in der Fassung des Bescheids vom 21. Januar 2015 nähere Regelungen hinsichtlich der Belegung des Stalls mit Aufzucht- und Elterntieren sowie hinsichtlich der Be- und Entlüftung des Stalles mit dem Ziel getroffen, dass sich Geruchsbelastungen in der Nachbarschaft im Rahmen des Zumutbaren halten. Ein Bestimmtheitsmangel der Baugenehmigung wäre dennoch zu eruieren, weil diverse Faktoren, die für die Bemessung der zugrunde gelegten Großvieheinheiten sowie für die fachliche Begründung des angewandten Emissionsfaktors und des angewandten tierspezifischen Gewichtungsfaktors ausschlaggebend waren, sich weder einer von der erteilten Baugenehmigung umfassten Betriebsbeschreibung i. S. von § 3 Nr. 3, § 9 der Verordnung über Bauvorlagen und bauaufsichtliche Anzeigen (Bauvorlagenverordnung – BauVorlV), noch Inhalts- oder Nebenbestimmungen der Baugenehmigung bzw. dem genehmigten Bauplan entnehmen lassen. Dies betrifft die Zusammensetzung des Futters für die Tiere, die genaue Angabe, welche Art von Mastwachteln in dem Stall untergebracht werden (s.o.: Kapitel 2.1.1 des Bayer. Arbeitskreises „Immissionsschutz in der Landwirtschaft“ Stand August 2013 differenziert hier zwischen Mastwachteln [1. bis 6. Woche] in mittelschwerer Linie [0,00022 GV/Tier] und in schwerer Linie [0,00029 GV/Tier]) sowie die konkreten Modalitäten der Haltung (Kleingruppenhaltung mit Kotband analog zur Legehennenhaltung?) und der geruchsrelevanten Arbeitsvorgänge (z. B. Häufigkeit der Reinigung der Gitterroste im Freien bzw. Festlegung der Reinigung der Gitterroste im geschlossenen Raum?).
Im Ausblick auf das anstehende Berufungsverfahren weist der Senat die Beteiligten auf Folgendes hin: Sollte die Beklagte den streitgegenständlichen Baugenehmigungsbescheid um eine die o.g. Bestimmtheitsmängel kompensierende Betriebsbeschreibung des Beigeladenen (die nachträglich zum Gegenstand der Baugenehmigung erklärt wird) oder um entsprechende Nebenbestimmungen ergänzen und sollte sich auf dieser Basis die erst im Zulassungsverfahren von der Beklagten vorgelegte „konservative“ Prognose des Sachgebiets Technischer Umweltschutz der Regierung von Niederbayern vom 22. Mai 2015 bestätigen, weil die Relevanzschwelle für die Zusatzbelastung (Nr. 3.3 der GIRL) nicht erreicht wäre und /oder die Geruchsstundenhäufigkeit inklusive Vorbelastung im Rahmen des Zumutbaren läge, wäre dem Rücksichtnahmegebot im Verhältnis zur Klägerin voraussichtlich Genüge getan. Im Falle einer entsprechenden Ergänzung der Baugenehmigung sowie einer hierauf bezogenen Substanziierung der bisherigen Prognose des Beklagten (etwa durch Vorlage einer fundierten gutachterlichen Stellungnahme des Technischen Umweltschutzes der Regierung von Niederbayern seitens des Beklagten) wäre ggf. eine übereinstimmende Erledigungserklärung der Parteien denkbar oder (je nach dem Inhalt der noch vorzulegenden Unterlagen der Beklagten) ggf. anzuraten.
Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass sich das Verwaltungsgericht hinsichtlich der von ihm verneinten Verletzung des Rücksichtnahmegebots unter dem Gesichtpunkt der Belastung mit luftgetragenen Schadstoffen (sog. Bioaerosolen) im Rahmen der aktuellen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung halten dürfte (BVerwG, B. v. 20.11.2014 – 7 B 27.14 – juris Rn. 16; BayVGH, B. v. 22.3.2012 – 22 ZB 12.149 – juris Rn. 10 ff.; B. v. 27.3.2014 – 22 ZB 13.692 – juris Rn. 21; B. v. 2.3.2015 – 9 ZB 12.1377 – juris Rn. 20; B. v. 12.10.2015 – 2 CS 15.1601 – juris Rn. 12; OVG NW, B. v. 31.3.2016 – 8 B 1341/15 – juris Rn. 93 ff.; vgl. auch Kap. 3.7 des Bayer. Arbeitskreises „Immissionsschutz in der Landwirtschaft“ Stand 07/2013).
Die vorläufige Festsetzung des Streitwerts für das Berufungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 und § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 GKG i. V. mit Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie folgt der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung, gegen die keine Einwände erhoben worden sind.
Belehrung
Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (in München Hausanschrift: Ludwigstraße 23, 80539 München; Postfachanschrift: Postfach 34 01 48, 80098 München; in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach) einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Wegen der Verpflichtung, sich im Berufungsverfahren vertreten zu lassen, wird auf die einschlägigen, jeweils geltenden Vorschriften Bezug genommen. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.