Europarecht

1 C 29/20

12459,12487,12489,12524,12526,12527,12529,12555,12557,12559,12587,12589,12619,12621,12623,12627,12629,12679,12681,12683,12685,12687,12689,13051,13053,13055,13057,13059,13086,13086,13088,13089,13125,13127,13129,13156,13158,13159,13187,13189,13347,13349,13351,13353,13355,13357,13359,13403,13405,13407,13409,13435,13437,13439,13465,13467,13469,13503,13505,13507,13509,13581,13583,13585,13587,13589,13591,13593,13595,13597,13599,13627,13629,14050,14052,14053,14055,14057,14059,14089,14109

Aktenzeichen  1 C 29/20

Datum:
16.2.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BVerwG
Dokumenttyp:
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:160221U1C29.20.0
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zum Zwecke der Identitätssicherung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG endet nicht generell mit der Rücknahme des Asylantrags, sondern erstreckt sich dem Grunde nach auch auf die dem Asylverfahren zuzurechnende Phase bis zur Beendigung des Aufenthalts oder Entstehung eines asylverfahrensunabhängigen Aufenthaltsrechts.
2. Die Befugnis des Bundesamts zur nachträglichen Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen greift nicht bei Unionsbürgern, deren Identität geklärt ist und denen nach Rücknahme ihres Asylantrags ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht zusteht oder deren Freizügigkeitsberechtigung vermutet wird.
3. Die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen endet vorbehaltlich weitergehender Einschränkungen aus dem Unionsrecht jedenfalls mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels.

Verfahrensgang

vorgehend VG Berlin, 27. April 2020, Az: 33 K 395.19 A, Urteil

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 27. April 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung.
2
Der Kläger reiste 2011 unter falscher Identität in das Bundesgebiet ein und stellte im Oktober 2014 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt – einen Asylantrag. Im September 2015 offenbarte er der Ausländerbehörde unter Vorlage eines im Januar 2014 ausgestellten portugiesischen Reisepasses seine wahre Identität. Nach Rücknahme des Asylantrags wurde das Asylverfahren im September 2015 eingestellt.
3
Mit Bescheid vom 4. September 2019 ordnete das Bundesamt die nachträgliche Durchführung einer erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers an und drohte für den Fall des Nichterscheinens dessen Vorführung zur Abnahme von Fingerabdrücken und Aufnahme eines digitalen Lichtbildes an.
4
Das Verwaltungsgericht hat diesen Bescheid mit Urteil vom 27. April 2020 aufgehoben. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger sei als Unionsbürger nicht verpflichtet, die vorgesehenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu dulden. Aufgrund seines Asylantrags habe er zwar den allgemeinen Mitwirkungspflichten nach § 15 AsylG unterlegen. Diese umfassten gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG auch das Dulden der nach § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen. Dies gelte nach § 15 Abs. 5 AsylG auch nach Rücknahme des Asylantrags. Der Durchführung der hier in Rede stehenden erkennungsdienstlichen Maßnahmen stehe jedoch der Umstand entgegen, dass der Kläger inzwischen Unionsbürger sei. Soweit § 16 AsylG der Umsetzung der Eurodac-Verordnung diene, setze das Erheben von Daten deren anschließende Speicherung voraus. Erwerbe eine Person vor Ablauf der Aufbewahrungsfrist die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, seien ihre Daten gemäß Art. 13 Abs. 1 VO (EU) Nr. 603/2013 im Zentralsystem zu löschen. Dies gelte erst recht, wenn der Erwerb einer EU-Staatsangehörigkeit der (beabsichtigten) Erhebung vorausgehe. Nach dem Gebot der Datenminimierung in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DS-GVO sollten personenbezogene Daten auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt sein. Der Löschungsvorschrift sei zu entnehmen, dass der Verordnungsgeber die Daten nach Erwerb einer EU-Staatsangehörigkeit nicht mehr für erforderlich halte. Dies gelte auch für das Erheben und Übermitteln der Daten. Im nationalen Ausländerzentralregister dürften Daten von Unionsbürgern zwar gespeichert werden, dies gelte aber nicht für Fingerabdrücke und Lichtbilder. Dass die vom Bundesamt zur Identitätssicherung erhobenen Daten über das Bundeskriminalamt für Zwecke der Strafverfolgung verarbeitet werden könnten, begründe keine Kompetenz zur Datenerhebung.
5
Die Beklagte macht mit der (Sprung-)Revision geltend, mit § 16 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG bestehe auch bei Unionsbürgern eine Rechtsgrundlage zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach Abschluss eines Asylverfahrens und eine damit korrespondierende Mitwirkungspflicht. Die gesetzlich vorgeschriebene Identitätssicherung in Form eines Abgleichs mit aus weiteren Asylverfahren vorliegenden biometrischen Daten setze zwingend die Erhebung der Fingerabdrücke und eines Lichtbilds voraus. Das diene nicht nur der Umsetzung der Eurodac-Verordnung, sondern unabhängig von der Staatsangehörigkeit eines um Asyl Nachsuchenden auch der Aufdeckung von Mehrfachanträgen und damit ggf. einhergehendem Mehrfachbezug von Sozialleistungen sowie der Gefahrenabwehr. Nach der Gesetzesbegründung sei eine erkennungsdienstliche Behandlung selbst bei Personen geboten, die bei Antragstellung einen echten Pass vorlegten. Es sei zu unterscheiden zwischen der Datenerhebung, für die in unterschiedlichem Maß nationale und/oder unionsrechtliche Vorgaben bestünden, und der (dauerhaften) Speicherung dieser Daten, weil eine Datenerhebung nicht zwingend eine anschließende Speicherung voraussetze. Die Erhebung biometrischer Daten, die nicht dauerhaft gespeichert werden dürften, sondern nach einem Abgleich umgehend zu löschen seien, sei zulässig und geboten. Mit einer Datenerhebung namentlich zur Feststellung etwaiger Mehrfachanträge werde das von Art. 13 Abs. 1 VO (EU) Nr. 603/2013 bezweckte Regelungsziel nicht infrage gestellt.
6
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung. Nach Rücknahme des Asylantrags und Einstellung des Asylverfahrens bestehe keine asylrechtliche Pflicht zur Duldung einer erkennungsdienstlichen Behandlung. Außerdem verbiete Unionsrecht die Datenerhebung bei Unionsbürgern. Die Anordnung führe zudem zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.

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