Europarecht

Abänderungsentscheidung – Verlängerung der Überstellungsfrist nach Italien

Aktenzeichen  M 9 S7 18.52564

Datum:
23.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 20437
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123 Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 S. 2
AufenthG § 82 Abs. 4

 

Leitsatz

Flüchtig iSv Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO bedeutet nach dem Sinn und Zweck dieser Regelung, dass der Betreffende seine Überstellung aus von ihm zu vertretenden Gründen vereitelt, verzögert oder erschwert, egal durch welche Handlungen er dies tut (VG Potsdam BeckRS 2018, 17666). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller befindet sich seit dem 16. Mai 2018 in … im Kirchenasyl.
Der Antragsteller stammt angeblich aus Nigeria. Er reiste ohne Papiere am 6. September 2017 aus Italien in das Bundesgebiet ein. Sein Asylantrag vom 14. September 2017 wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Oktober 2017 als unzulässig abgelehnt.
Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 9. Februar 2018 wurde der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt (M 9 S 17.53059).
Auf den Beschluss wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
Mit Schriftsatz vom 13. August 2018 beantragte die Bevollmächtigte des Antragstellers gemäß § 80 Abs. 7 VwGO bzw. § 123 VwGO:
1. Den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 9. Februar 2018 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der am 19. Oktober 2017 erhobenen Klage anzuordnen.
2. Für den Fall, dass das Gericht der Ansicht ist, der Weg über § 80 Abs. 7 VwGO sei nicht der Richtige, werde gemäß § 123 VwGO beantragt,
Festzustellen, dass die Verlängerung der Überstellungsfrist ab 10. Juli 2018 um 1 Jahr auf den 9. August 2019 rechtswidrig ist.
3. Außerdem werde beantragt,
dass das Verwaltungsgericht dem Bundesamt möglichst umgehend vorab mitteilt, dass es davon ausgeht, dass das Bundesamt bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den Eilantrag keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einleitet und auch die mit einer möglichen Überstellung beauftragte Ausländerbehörde anweist, keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchzuführen.
Das Rechtsschutzziel sei, dass der Antragsteller, wenn er das Kirchenasyl verlasse, nicht befürchten müsse, vor einer gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Verlängerung der Überstellungsanordnung nach Italien überstellt zu werden. Der Antragsteller sei Albino. Er sei im Juli 2015 nach Italien eingereist und habe dort wohl einen Asylantrag gestellt. Ein Verwandter seiner Mutter, Sohn eines Onkels, habe den Antragsteller zu sich nach Hause genommen, ihn diskriminiert, misshandelt und zum Betteln gezwungen. Etwa 6 Monate später habe er erneut in das Asylcamp zurückgewollt und sei nicht mehr aufgenommen worden. In der Folgezeit habe er ohne Papiere auf der Straße gelebt und gebettelt und sei dann nach Deutschland geflohen. Es bestünden berechtigte Zweifel, dass es dem Antragsteller überhaupt noch möglich sei, sein Asylverfahren in Italien wieder aufzunehmen und seinen Fluchtgrund Albinismus vorzutragen, da möglicherweise das Asylverfahren in Italien endgültig eingestellt worden sei. Das Bundesamt habe entsprechende Anfragen des Kirchenasylbeauftragten nicht beantwortet. Dem Antragsteller sei mittlerweile von der Zentralen Ausländerbehörde schriftlich am 30. Mai 2018, adressiert an die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde, z. Hd. des Antragstellers, die Überstellung nach Italien für den 9. Juli 2018 um 8.30 Uhr angekündigt worden. Der Antragsteller wurde aufgefordert, sich ab 4.00 Uhr vor der Pforte der Kirchengemeinde zur Abholung durch die Polizei bereitzuhalten (Anlage K 4 zum Antragsschriftsatz). Ausweislich der von der Bevollmächtigten vorgelegten eidesstattlichen Versicherung des Pfarrers vom 10. August 2018 habe dieser per SMS der anfragenden Polizei am Abend des 6. Juli 2018 mitgeteilt, dass der Antragsteller sich nicht am 9. Juli 2018 um 4.00 Uhr vor der Kirchentür einfinden werde; es sei davon auszugehen, dass kein Überstellungsversuch stattgefunden habe, da die Polizei aufgrund der Auskunft des Pfarrers nicht gekommen sei. Ausweislich des beigefügten Schreibens vom 10. Juli 2018 (Anlage K 12) habe das Bundesamt die Überstellungsfrist auf 18 Monate bis zum 9. August 2019 verlängert. Dies sei rechtswidrig, da der Antragsteller bei dem hier vorliegenden offenen Kirchenasyl nicht flüchtig sei. Da der Antragsteller nach dem Beschluss des Kirchenvorstands nur noch bis Ende August im Kirchenasyl bleiben könne, sei es notwendig, das Bundesamt durch das Gericht anweisen zu lassen, bis zur Entscheidung über den Eilantrag keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einzuleiten.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Behördenakte, die Akten und den Beschluss im Verfahren M 9 S 17. 53059 sowie die Akten im Verfahre M 9 K 17.53058 Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Die Voraussetzungen für eine Abänderungsentscheidung nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO liegen nicht vor. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Dafür ist Voraussetzung, dass entweder veränderte Umstände vorliegen oder es sich um Umstände handelt, die im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemacht werden konnten.
1) Im vorliegenden Fall ist der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zum einen darauf gestützt, dass sich der Antragsteller im Kirchenasyl befindet. Dies ist kein veränderter Umstand, der rechtlich eine Änderung oder Aufhebung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts München vom 20. Februar 2018 (M 9 S 17.53059) im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO rechtfertigt. Die Tatsache, dass ein abgelehnter Asylbewerber entgegen einer gerichtlichen Entscheidung nicht im Rahmen des Dublin-III-Abkommens nach Italien überstellt wird, weil trotz fehlender Rechtsgrundlage das Kirchenasyl durch die Behörden der Bundesrepublik Deutschland als Abschiebehindernis gesehen wird, begründet keinen Anspruch nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO auf Aufhebung der gerichtlichen Entscheidung.
Zum anderen wird der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO darauf gestützt, dass der Antragsteller in Italien das Asylverfahren nicht zu Ende geführt hat, sondern das ihm zugewiesene Camp verlassen hat. Nach dem Vortrag seiner Bevollmächtigten ist dies wohl ohne Abmeldung oder Angabe einer neuen Adresse geschehen, sodass möglicherweise das Asylverfahren eingestellt wurde ohne Berücksichtigung des Albinismus des Antragstellers. Dieser erstmalig im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO vorgetragene Sachverhalt ist kein neuer Umstand, da es sich um ein Geschehen handelte, das im ursprünglichen Verfahren ohne weiteres geltend gemacht werden konnte. Es sind keine Umstände ersichtlich oder vorgetragen, die nur ansatzweise die Annahme rechtfertigten, dass der Antragsteller dieses Geschehen ohne Verschulden im ursprünglichen Verfahren nicht mitteilen konnte. Ungeachtet dessen wäre es im vorliegenden Fall auch Sache des Antragstellers, entsprechende Nachweise und Papiere vorzulegen (§ 15 AsylG).
Soweit zur Begründung des Antrages auch vorgetragen wird, dass möglicherweise der Albinismus in einem Zweitverfahren in Italien nicht mehr berücksichtigt werde, ist dies Spekulation und verkennt die Verpflichtungen aus § 15 AsylG, im Verfahren auch durch Vorlage von Nachweisen mitzuwirken.
2) Soweit gemäß § 123 VwGO im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Feststellung beantragt wird, dass die Verlängerung der Überstellungsfrist am 10. Juli 2018 um ein Jahr auf den 9. August 2019 rechtswidrig ist, fehlt es an einem Anordnungsanspruch. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Voraussetzung ist die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes, d.h. der Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Entscheidung sowie eines Anordnungsanspruchs, d.h. ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Entscheidung (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Im vorliegenden Fall fehlt es an einem Anordnungsanspruch.
Die Frist von 6 Monaten für die Überstellung des Antragstellers, Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO, wäre inzwischen zwar grundsätzlich abgelaufen. Im vorliegenden Fall hat das Bundesamt zutreffend festgestellt, dass sich diese Frist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO um 1 Jahr auf 18 Monate verlängert hat, da der Antragsteller im Sinne der Dublin-III-Vorschriften flüchtig war. Der Antragsteller hat sich in Kenntnis seiner andauernden und vollziehbaren Ausreisepflicht seiner Überstellung entzogen, indem er trotz Ankündigung und entsprechender Aufforderung nicht erschienen ist. Flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin-III-VO bedeutet nach dem Sinn und Zweck dieser Regelung, dass der Betreffende seine Überstellung aus von ihm zu vertretenden Gründen vereitelt, verzögert oder erschwert, egal durch welche Handlungen er dies tut (VG Potsdam, B.v. 25.7.2018 – 2 L 364/18.A m.w.N.). Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Überstellungsfristen nach der Dublin-III-VO, an die die jeweilige Zuständigkeit eines Mitgliedsstaates anknüpft, muss bei der Auslegung des Begriffes „flüchtig“ berücksichtigt werden, ob die Bundesrepublik Deutschland oder der Antragsteller den Fristablauf zu vertreten haben. Daher genügt für eine Verlängerung der Ausreisefrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin-III-VO, wenn sich der zu überstellende Asylbewerber so verhält, dass er unter Berücksichtigung seiner Rechte und Pflichten erkennbar seine Überstellung behindert (VG Potsdam, a.a.O. m.w.N.).
Im vorliegenden Fall wurde der Antragsteller zu einer konkreten Mitwirkungshandlung verpflichtet, die er wohl auf Anraten – nicht zuletzt des Pfarrers – verletzt hat.
Der Antragsteller war zu der von ihm verlangten Mitwirkung, sich zum Zwecke der Überstellung nach Italien vor der Kirchentür einzufinden, auch unter Berücksichtigung seiner Rechte und Pflichten nach § 82 Abs. 4 AufenthG, auch verpflichtet. Danach kann zur Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen unter anderem nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen angeordnet werden, dass ein Ausländer bei der zuständigen Behörde persönlich erscheint. Zu den Maßnahmen, die ein persönliches Erscheinen rechtfertigen, gehört die Durchsetzung der Ausreisepflicht und damit die Anordnung, zum Zwecke der Abschiebung zu erscheinen. Die dafür zuständige Behörde ist im Falle einer Abschiebung – wie hier – die Polizei, die ihn zur Durchführung der Überstellung nach Italien am angegebenen Ort abholen wollte. Unter Berücksichtigung der praktischen Abläufe bei Überstellungen sowie unter Berücksichtigung des Sinn und Zwecks der Mitwirkungspflichten in diesem Zusammenhang ist es unerheblich, an welchem Ort der Antragsteller sich einzufinden hatte. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, Erforderlichkeit und Geeignetheit war es angemessen und ist vom Gesetzeszweck der Mitwirkungspflichten eines Ausländers umfasst, wenn nicht das Erscheinen in der Behörde, sondern nur das Bereithalten vor der eigenen Tür verlangt wird. Unerheblich ist auch, dass die Polizei nicht am angeordneten Abholort erschienen ist. Nachdem bereits vorab der Pfarrer mitgeteilt hat, dass der Antragsteller seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommen wird, durften die zuständigen Behörden auf diese Aussage vertrauen und waren nicht verpflichtet, einen offensichtlich vergeblichen Überstellungsversuch am angeordneten Ort zur angeordneten Zeit zu versuchen.
Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten des Antragstellers lag daher ein wirksamer Überstellungsversuch bereits durch die angekündigte Abschiebung vor.
Es besteht kein Rechtsgrundsatz, dass ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten durch Untertauchen oder die Verhinderung eines Abschiebungsversuches nicht schon vor der tatsächlichen Abschiebungshandlung erfolgen kann. Dies gilt insbesondere wenn – wie hier – der Pfarrer in einem Fall des Kirchenasyls mit dem Anspruch erhöhter Glaubwürdigkeit als moralische und menschliche Instanz tätig wird.
Da sich die Überstellungsfrist nach Art. 29 Dublin-III-VO verlängert hat, war der Antrag nach § 123 VwGO wegen fehlendem Anordnungsanspruch abzulehnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.

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