Aktenzeichen S 7 AY 4/17
SGB X § 44
Dublin III-VO Art. 13 Abs. 1, Art. 26, Art. 29
Leitsatz
1. Nimmt ein nach dem AsylbLG Leistungsberechtigter Kirchenasyl in Anspruch, um den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu verhindern, begründet dies die Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens iS von § 2 Abs. 1 AsylbLG. (Rn. 18 – 27)
2. Hat ein nach dem AsylbLG Leistungsberechtigter die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst, ist er grundsätzlich dauerhaft vom Bezug von Analogleistungen ausgeschlossen. (Rn. 18)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten
Gründe
Die zulässige Klage bleibt ohne Erfolg.
1. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 8.12.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.5.2017, mit welchem dem Kläger die Gewährung von Analogleistungen nach § 2 Abs. 2 iVm Abs. 1 AsylbLG versagt worden ist; mit dem bestandskräftigen Bewilligungsbescheid vom 27.7.2016 bildet er weder eine rechtliche Einheit (s dazu BSG vom 30.10.2013 – B 7 AY 7/12 R – BSGE 114, 302 = SozR 4-3520 § 1a Nr. 1, RdNr. 15) noch hat er diesen ersetzt.
Die Ablehnung von Analogleistungen lässt keine ausdrückliche Bezugnahme auf einen bestimmten Bewilligungsabschnitt erkennen; auch die Auslegung des streitigen Bescheides aus der maßgeblichen Sicht eines verständigen Empfängers (vgl BSG vom 11.12.2013 – B 6 KA 49/12 R – BSGE 115, 57 = SozR 4-2500 § 103 Nr. 13, RdNr. 24) trägt allein den Schluss, dass die Beklagte die rechtlich zulässige Regelung einer abschließenden Entscheidung für die Zukunft treffen wollte (vgl auch BSG vom 30.10.2013 – B 7 AY 7/12 R – BSGE 114, 302 = SozR 4-3520 § 1a Nr. 1, RdNr. 15 aE). Da Analogleistungen nicht nur auf gesonderten Antrag hin gewährt werden, ist ggf auch zu überprüfen, ob bereits bestandskräftig gewordene Bewilligungsbescheide unter dem Blickwinkel der §§ 44 ff SGB X zu ändern sind.
2. Der Bescheid der Beklagten vom 8.12.2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Kläger hat die Dauer seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst und ist daher von Leistungen nach § 2 AsylbLG ausgeschlossen.
Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG (in der hier anzuwendenden Fassung des Integrationsgesetzes vom 31.7.2016 – BGBl I 1939) ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten analog anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufgehalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Bei der Unterbringung von Leistungsberechtigten nach Abs. 1 in einer GU bestimmt nach § 2 Abs. 2 AsylbLG die zuständige Behörde die Form der Leistung auf Grund der örtlichen Umstände.
Ausgehend von höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl BSG vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R – BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr. 2, RdNr. 32 f) wurzelt der im AsylbLG an keiner Stelle definierte Begriff des Rechtsmissbrauchs in dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben. Als vorwerfbares Fehlverhalten beinhaltet er eine objektive – den Missbrauchstatbestand – und eine subjektive Komponente – das Verschulden. Der Vorschrift des § 2 AsylbLG und damit auch dem – die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer dienenden – Rechtsmissbrauch liegt der Gedanke zu Grunde, dass niemand sich auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. Nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), führt zum Ausschluss der Analogleistungen. So liegt es hier.
Mit der Stellung eines weiteren Asylantrags nach Einreise in die Bundesrepublik Deutschland setzte sich der Kläger bereits in Widerspruch zu Art. 13 Abs. 1 der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) vom 26.6.2013 (Amtsbl/EU L 180/31), wonach Polen, dessen Landgrenze der Kläger aus dem Drittstaat Ukraine kommend überschritten hatte, für die Prüfung seines auch dort gestellten Asylantrags zuständig war. Der nach erfolgter Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zusätzlich gestellte Asylantrag erwies sich folglich bereits als unzulässig (vgl § 27a AsylVfG). Diese in den Mitgliedsstaaten der Union unmittelbar geltende Dublin III-VO steht dem Bestreben des Klägers entgegen, in einem Mitgliedstaat seiner Wahl das Asylverfahren zu betreiben. Zur Wiederherstellung der Verfahrenszuständigkeit regelt Art. 29 Dublin III-VO die Modalitäten der unionsrechtlich – hier nach Art. 18 Abs. 1 Buchstab b) – gebotenen Überstellung. Dieser war von Polen auf Betreiben des BAMF entsprochen worden.
Dieser Überstellungsentscheidung und damit der Vollziehung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme widersetzte sich der nach Art. 26 Dublin III-VO hierüber in Kenntnis gesetzte Kläger durch ein rechtsmissbräuchliches Verhalten, nämlich dem Aufsuchen von Kirchenasyl (ebenso SG Lüneburg vom 22.2.2018 – S 26 AY 26/17, juris RdNr. 22; aA SG Stade vom 17.3.2016 – S 19 AY 1/16 ER, juris RdNr. 15). Die geplante Überstellung nach Polen unterlief der Kläger auf diese Weise und verließ das Kirchenasyl erst im Juni 2016 nach Ablauf der 6-monatigen Annahmefrist des Art. 29 Dublin III-VO; dies hatte zur Folge, dass der ursprünglich zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat, hier die Bundesrepublik Deutschland, übergeht (zumal auch keine Verlängerungstatbestände nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO vorliegen – die Sachlage bei einer sich im Kirchenasyl befindlichen Person ist nicht mit jener vergleichbar, die bei einer inhaftierten oder flüchtigen Person vorliegt, vgl VG München vom 6.2.2017 – M 9 K 16.50076, juris RdNr. 11 und vom 6.6.2017 – M 9 S 17.50290, juris RdNr. 25 mwN).
Dieses sein Verhalten ist ihm in der Ausprägung eines doppelten Vorsatzes vorwerfbar bezogen einerseits auf die objektiven Umstände des von der Rechtsordnung missbilligten Fehlverhaltens und andererseits auf den typisierten Kausalzusammenhang mit dem Aufsuchen von Kirchenasyl, was in der Zusammenschau den Rechtsmissbrauch begründet (vgl Korff in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 2 AsylbLG RdNr. 8, Stand März 2018). Dabei kann nicht darüber hinweggegangen werden, dass Kirchenasyl einen zuverlässigen „Abschiebungsschutz“ bietet. Offen erklärtes Ziel von Kirchenasyl liegt darin, Abschiebungen zu verhindern (vgl VG Cottbus vom 16.06.2016 – 5 K 273/16.A, juris RdNr. 17 f); dies findet insbesondere darin seinen Ausdruck, dass das alleinige Ziel des Aufsuchens von Kirchenasyl in der Umgehung der staatlichen Rechtsordnung besteht, um die Durchführung des Asylverfahrens im Mitgliedstaat der Wahl des Antragstellers zu erzwingen. Allein von diesen Umständen war das Handeln des Klägers mit dem Aufsuchen von Kirchenasyl bestimmt, was sich aus dem Inhalt des Schreibens des Pfarramtes vom 30.11.2015 sowie dem Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung („Angst hatte, nach Polen und in die Ukraine gehen zu müssen“) ergibt; seine weitere Einlassung, er habe das maßgebliche Unionsrecht nicht durschaut, ist insoweit ohne Belang.
Der hiergegen geführte klägerische Einwand, dass der Beklagten und den mit der Überstellung nach Polen befassten Behörden die Adresse des Kirchenasyls bekannt war und man ihn jederzeit von dort nach Polen hätte abschieben können, somit nicht rechtsmissbräuchliches Verhalten des Klägers, sondern zögerliches und ausbleibendes behördliches Verhalten die Dauer des Aufenthalts des Klägers von mehr als 15 Monaten in Deutschland bestimmt hätten (s auch Heinold, NZS 2017, 271), verkennt, dass sich der Kläger durch die Inanspruchnahme von Kirchenasyl faktisch dem Zugriff der staatlichen Vollstreckungsorgane entzogen und die wesentliche Mitursache für die Verhinderung seiner Ausreise gesetzt hat (aA VG München vom 29.10.2015 – M 2 K 15.50211, juris RdNr. 25 aE). Zwar findet sich in der deutschen Rechtsordnung keine Anerkennung des Kirchenasyls, dh der Kirchenraum ist nicht exemt. Allerdings wird die Tradition des Kirchenasyls von den bayerischen Behörden im Sinne eines faktisch bestehenden Vollzugshindernisses respektiert (s Antwort des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr vom 21.9.2017 auf eine schriftliche Anfrage, LT-Drs 17/18229), was der Kläger nutzte, um den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu umgehen (Teile der Rechtsprechung der VGe setzen insoweit den Eintritt in das Kirchenasyl einem Untertauchen gleich, vgl VG Bayreuth vom 13.11.2017 – B 3 K 17.50037, juris RdNr. 37 mwN – „Das Kirchenasyl ist einem „Untertauchen“ in aufenthaltsmäßiger Hinsicht gleichzusetzen, weil sich der Asylbewerber der staatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht unterordnet, sondern bewusst und gerade solange entzieht, bis die Überstellungsfrist nach der Dublin III-VO abgelaufen ist“). Nicht ausbleibendes staatliches Handeln, sondern in erster Linie das Verhalten des Klägers war damit ursächlich für die Verlängerung des Aufenthalts im Bundesgebiet (vgl auch BayLSG vom 11.11.2016 – L 8 AY 28/16 B ER, juris RdNr. 42 ff).
Zudem sind an die nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu stellende Anforderung einer kausalen Verknüpfung zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes, nicht im Sinne einer Monokausalität zu verstehen mit der Folge, dass bei einer Mitkausalität im Sinne ausbleibenden staatlichen Handelns eine Versagung von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG ausscheiden müsste (so aber zum vorwerfbaren Verhalten iS von § 1a AsylbLG Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1a RdNr. 86 f; ähnlich Wahrendorf in ders, AsylbLG, 1. Aufl 2017, § 1a RdNr. 25). Ausreichend ist vielmehr eine generell-abstrakte Betrachtungsweise hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes, nicht aber ist ein strenger Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn erforderlich; dh jedes von der Rechtsordnung missbilligte Verhalten, das – typisierend – der vom Gesetzgeber nicht gebilligten Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes dienen kann, ist ausreichend, um die kausale Verbindung zu bejahen (vgl BSG vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R – BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr. 2, RdNr. 43).
Der Kläger vermag sich auf eine Analogleistungsberechtigung aus § 2 AsybLG auch nicht auf Grund des Umstandes berufen, dass er nach Verlassen des Kirchenasyls im Juni 2016 sich zwischenzeitlich mehr als 15 Monate im Bundesgebiet aufgehalten und die Dauer des Aufenthalts in diesem Zeitraum – nach Wegfall des rechtsmissbräuchlich gesetzten Grundes – nicht weiter rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat. Schon der Wortlaut des Gesetzes legt nahe, dass sich der Rechtsmissbrauch auf den gesamten Zeitraum der Anwesenheit des Ausländers in der Bundesrepublik bezieht und nicht nur auf den Zeitraum von 15 Monaten. Diese Frist darf insbesondere auch nicht als bloße Wartefrist verstanden werden (vgl BSG vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R – BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr. 2, RdNr. 22). Vielmehr kann sich auch ein Verhalten vor der Einreise in das Bundesgebiet bereits als rechtsmissbräuchlich erweisen (eine etwaige Vernichtung des Passes), was künftigen Analogleistungen entgegensteht. Ebenso wenig entscheidend ist daher, ob der Missbrauchstatbestand aktuell andauert oder die Annahme rechtfertigt, er sei noch kausal für den derzeitigen Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet (vgl BSG vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R – BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr. 2, RdNr. 40 f; ebenso Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, § 2 AsylbLG RdNr. 22 f mit Nachw zur Rspr des BayLSG; abw Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 2 AsylbLG RdNr. 86 f). Auch ist den in den Gesetzesmaterialien zu § 2 AsylbLG niedergelegten Erwägungen mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass es gerade der Intention des Gesetzgebers entspricht, zwischen denjenigen Ausländern zu unterscheiden, die unverschuldet nicht ausreisen können und denjenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkommen (s BT-Drs 15/420, 121). Mit dieser Zielsetzung wäre es unvereinbar, könnten dem Kläger Analogleistungen nicht weiter vorenthalten werden. Besondere Umstände des Einzelfalles, die vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine abweichende Bewertung rechtfertigen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Soweit hiervon abweichend zu Anspruchseinschränkungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG (vgl auch § 1a Nr. 2 AsylbLG aF) davon ausgegangen wird, dass eine Leistungskürzung nur für den Zeitraum in Betracht kommt, in dem das jeweilige rechtsmissbräuchliche Verhalten andauert (vgl nur Korff in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 1a AsylbLG RdNr. 21 mwN, Stand März 2018), rechtfertigen unterschiedliche Ausgangspunkte keine Übertragung auf § 2 AsylbLG. § 1a Abs. 3 AsylbLG hat den Charakter einer leistungsrechtlichen Sanktionsnorm (Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 1a AsylbLG RdNr. 12), dh Leistungseinschränkungen können nach Wegfall des sanktionsbewehrten Verhaltens ohne weiteres wieder entfallen. Dagegen enthält § 2 AsylbLG gegenüber den Grundleistungen nach § 3 AsylbLG eine leistungsrechtliche Privilegierung, in deren Genuss ein nach § 3 AsylbLG Leistungsberechtigter nur kommt, wenn ihm eine rechtsmissbräuchliche Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer nicht vorgeworfen werden kann. Ist dies nicht der Fall, kommt ein Anspruch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG erst gar nicht zum Entstehen. Dh anders als bei § 1a AsylbLG stellt sich die Frage nach einem Wegfall anspruchsbeschränkenden Verhaltens nicht, der zu einem Wiederaufleben des früheren Leistungsanspruchs führen könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.