Europarecht

Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO

Aktenzeichen  M 7 K 15.50723

Datum:
13.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1
AsylVfG AsylVfG § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1, § 36, § 71a
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 S. 1
VwVfG VwVfG § 47 Abs. 1

 

Leitsatz

Der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Schutz des Vertrauens eines Rechtsmittelführers in die nach Maßgabe dieser Grundsätze gewährleistete Rechtsmittelsicherheit gebietet, dass ein bereits eingelegtes Rechtsmittel bei einem gesetzlich festgelegten Rechtsmittelausschluss zulässig bleibt, sofern das Gesetz nicht mit hinreichender Deutlichkeit etwas Abweichendes bestimmt. (redaktioneller Leitsatz)
Ein Asylbewerber kann sich auf den Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO berufen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 3. August 2015 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Mit dem Einverständnis der Beteiligten kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage hat nur zum Teil Erfolg. Sie ist nur zulässig, soweit der Kläger die Aufhebung des Bescheides vom 3. August 2015 begehrt.
Die auf Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz sowie auf Anerkennung als Asylberechtigter und auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise, des § 60 Abs. 2 – 5, 7 AufenthG vorliegen, gerichtete Verpflichtungsklage ist bereits unzulässig. Auch gegen Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheides, mit der das Bundesamt eine rechtsgestaltende Entscheidung über die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig getroffen hat (vgl. BVerwG, U. v. 17. September 2015 – 1 C 26.14 – juris Rn. 12), ist allein die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, U. v. 27. Oktober 2015 – 1 C 32.14 – juris Rn. 13 f.). Der Erhebung einer auf die Anerkennung als Asylberechtigter und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichteten Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO steht entgegen, dass die Dublin-Verordnungen ein von der materiellen Prüfung eines Asylantrags gesondertes behördliches Verfahren für die Bestimmung des hierfür zuständigen Staats vorsehen (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 14 zur Dublin II-VO; BayVGH, B. v. 19. Januar 2016 – 11 B 15.50130 – juris Rn. 16; OVG NW, U. v. 10. März 2016 – 13 A 1657/15.A – juris Rn. 22; OVG BB, U. v. 21. April 2016 – 3 B 16.15 – juris Rn. 37). Die Trennung der Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung und zur materiellen Prüfung des Asylbegehrens darf nicht dadurch umgangen werden, dass das Verwaltungsgericht im Fall der Aufhebung der Zuständigkeitsentscheidung sogleich über die Begründetheit des Asylantrags entscheidet (BVerwG, BayVGH, OVG NW, jeweils a. a. O.). Denn bei Erfolg der Anfechtungsklage hat die Beklagte regelmäßig die Möglichkeit zur Prüfung, ob ein anderer Staat zuständig ist (BVerwG, BayVGH, OVG NW, jeweils a. a. O.). Die Stellung eines solchen Ersuchens, das den Lauf von zuständigkeitsbegründenden Fristen auslöst, ist eine dem Bundesamt zugewiesene Aufgabe, die das Gericht im Fall des Durchentscheidens nicht erfüllen könnte (BVerwG, a. a. O.).
Für die allgemein auf materielle Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz gerichtete Verpflichtungsklage fehlt ein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BayVGH, a. a. O., Rn. 17). Ist die Anfechtungsklage erfolgreich, steht zwar fest, dass der von der Beklagten bestimmte Zielstaat nicht zuständig ist. Damit ist jedoch, wie ausgeführt, noch nicht ihre Zuständigkeit begründet, da sie dann noch die Möglichkeit zur Prüfung hat, ob ein anderer Staat zuständig ist. Ist die Anfechtungsklage deshalb erfolgreich, weil eine Pflicht der Beklagten zum Selbsteintritt besteht, wird auch das im Rahmen der Anfechtungsklage geklärt. Dieser tragende Grund wird von der Rechtskraft der Entscheidung mitumfasst (vgl. § 121 VwGO). Besteht nach der Entscheidung des Gerichts eine Pflicht zum Selbsteintritt und wird die Entscheidung rechtskräftig, gibt es keinen Grund, anzunehmen, die Beklagte werde ein Asylverfahren für den Kläger dennoch nicht durchführen (vgl. BayVGH, a. a. O., Rn. 17; vgl. auch OVG NRW U. v. 7. März 2014 – 1 A 21/12.A – juris Rn. 31; VGH BW, U. v. 16. April 2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 18). Erforderlichenfalls könnte der Kläger eine Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) erheben (BayVGH, a. a. O.).
Die erhobene Anfechtungsklage ist zulässig und begründet.
Sie ist insbesondere gem. § 74 Abs. 1 AsylVfG in der bis zum 23. Oktober 2015 geltenden Fassung innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Bescheides fristgerecht erhoben worden. Die einwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Hs. 2 AsylG in der seit dem 24. Oktober 2015 geltenden Fassung ist auf die vor dem Inkrafttreten dieser Regelung erhobene Klage nicht anzuwenden. Zwar erfasst eine Änderung des Verfahrensrechts nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten (BVerfG, B. v. 7. Juli 1992 – 2 BvR 1631/90, 2 BvR 1728/90 – juris Rn. 43). Jedoch gebietet der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Schutz des Vertrauens eines Rechtsmittelführers in die nach Maßgabe dieser Grundsätze gewährleistete Rechtsmittelsicherheit, dass ein bereits eingelegtes Rechtsmittel bei einem gesetzlich festgelegten Rechtsmittelausschluss zulässig bleibt, sofern das Gesetz wie hier nicht mit hinreichender Deutlichkeit etwas Abweichendes bestimmt (vgl. BVerfG, a. a. O.).
Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) als rechtswidrig und verletzt den Kläger damit in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gem. § 27a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In diesem Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG). Die Zuständigkeit Italiens für die Prüfung des Asylbegehrens ist mittlerweile gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO entfallen und auf die Beklagte übergegangen. Die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist spätestens am 21. März 2016 abgelaufen. Seit diesem Zeitpunkt war der Asylantrag nicht mehr nach § 27a AsylVfG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig. Folglich kommt nach den einschlägigen europarechtlichen Regularien eine Anordnung der Abschiebung in den ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat nach § 34a AsylG ebenfalls nicht mehr in Betracht. Dass Italien sich entgegen der europarechtlichen Bestimmungen nicht auf den Fristablauf berufen wird und ausnahmsweise dennoch zur Übernahme des Klägers bereit ist, ist auf gerichtliche Anfrage nicht mitgeteilt worden. Hiervon kann grundsätzlich auch nicht ausgegangen werden (BayVGH, B. v. 11. Februar 2015 – 13a ZB 15. 50005 – juris Rn. 4).
Jedenfalls dann kann sich der Kläger auf den Ablauf der Überstellungsfrist ungeachtet dessen berufen (vgl. BVerwG, U. v. 27. April 2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 20; BayVGH, B. v. 3. August 2015 – 11 ZB 15.50085 – juris Rn. 14 u. B. v. 29. April 2015 – 11 ZB 15.50033 – juris Rn. 16; VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 30, 37; OVG BB, U. v. 21. April 2016 – 3 B 16.15 – juris Rn. 34), dass ein Asylbewerber der Überstellung in den nach den Dublin-Verordnungen für ihn zuständigen Mitgliedstaat nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegentreten kann (vgl. BVerwG, B. v. 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 – juris Ls; VGH BW, a. a. O., Rn. 28).
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist ferner geklärt, dass die angefochtene Entscheidung gem. § 27a AsylVfG auch nicht auf der Grundlage von § 71a AsylVfG aufrechterhalten werden kann. Weder kann sie als negative Entscheidung über einen Zweitantrag angesehen noch in eine solche umgedeutet werden (vgl. BayVGH, a. a. O.; VGH BW, a. a. O., Rn. 35 ff.; OVG Hamburg, B. v. 2. Februar 2015 – 1 Bf 208/14.AZ – juris Rn. 12 ff.). Die Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II- bzw. Dublin III-VO ist der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und von dem Verfahren zur inhaltlichen Prüfung des Asylverfahrens zu unterscheiden (BayVGH, B. v. 11. Februar 2015 – 13a ZB 15. 50005 – juris Rn. 9). Der Ausspruch, dass der Asylantrag mangels Zuständigkeit unzulässig ist, enthält nicht zugleich eine materiell-rechtliche Aussage dahingehend, dass ein weiteres Asylverfahren im Sinn von § 71 a AsylVfG nicht durchzuführen ist (BayVGH, B. v. 15. April 2014 – 13a ZB 15.50066 – juris Rn. 5). Während die Entscheidung der Beklagten auf die Unzulässigkeit im Sinne des § 31 Abs. 6 AsylVfG gerichtet war sowie darauf, die zwingende Rechtsfolge des § 34a Abs. 1 AsylVfG herbeizuführen, wird mit der Entscheidung zu § 71a AsylVfG die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, d. h. ein Wiederaufgreifen eines nicht mehr angreifbaren Verfahrens abgelehnt, die dann in erster Linie die Rechtsfolge des § 71a Abs. 4 i. V. m. § 34 bzw. § 36 AsylVfG (in Bezug auf den Herkunftsstaat) auslöst und damit eine völlig andere Qualität hat als eine Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG (in den anderen Mitglied- oder Vertragsstaat) (VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 41). Daran, dass der Verwaltungsakt nicht auf das gleiche oder ein im Wesentlichen gleiches Ziel gerichtet wäre und im Übrigen ungünstigere Rechtsfolgen für den Kläger zeitigen würde, würde auch eine Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG scheitern (vgl. VGH BW, a. a. O.; BayVGH, B. v. 13. April 2015 – 11 ZB 14.50055 – juris Rn. 15).
Ist die Feststellung nach § 27a AsylVfG rechtwidrig, ist auch kein Raum mehr für die Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nach Italien.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat mit seiner Klage nur zum Teil obsiegt. Das Verfahren ist gem. § 83 b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

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