Europarecht

Austausch des Zielstaats der Abschiebungsanordnung nach Ablauf der Überstellungsfrist unzulässig

Aktenzeichen  M 9 K 16.51312

Datum:
8.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 55
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Der Lauf der Überstellungsfrist wird durch den vor ihrem Ablauf gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nur unterbrochen, wenn in der Abschiebungsanordnung der „richtige“, d.h. der wirklich zuständige Mitgliedstaat aufgeführt wird. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Austausch des Zielstaats der Abschiebungsanordnung kann wirksam schon aus dem Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) nur spätestens bis zum Ablauf der Überstellungsfrist in Bezug auf den richtigen Zielstaat erfolgen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3 Der erst nach Ablauf der Überstellungsfrist erfolgte Austausch des Zielstaats der Abschiebungsanordnung vermag die bereits abgelaufene Überstellungsfrist nicht wieder zu aktivieren. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Dezember 2016 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 21. Juli 2017 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.
Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen, weil sich die Beteiligten damit individuell einverstanden erklärt haben (die Klägerseite) bzw. ein entsprechendes generelles Einverständnis vorliegt (auf Beklagtenseite sowie von der Vertretung des öffentlichen Interesses), § 101 Abs. 2 VwGO.
Für das Gericht ist hinsichtlich der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblich (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG). Insbesondere kommen das AsylG und das AufenthG in den aktuellen Fassungen (AsylG: zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20.7.2017, BGBl I, 2780; AufenthG: zuletzt geändert durch Art. 10 Abs. 4 des Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Geheimnissen bei der Mitwirkung Dritter an der Berufsausübung schweigepflichtiger Personen vom 30.10.2017, BGBl I, 3618) zur Anwendung.
Die noch vom früheren Bevollmächtigten erhobene Klage auf Aufhebung des Bescheids vom 15. Dezember 2016 ist zulässig, insbesondere ist davon auszugehen, dass sie fristgerecht erhoben wurde; auf die entsprechenden Ausführungen im Beschluss vom 1. Juni 2017 wird Bezug genommen.
Die Klage ist auch begründet, denn der Bescheid vom 15. Dezember 2016 – in der Gestalt des zwischenzeitlich ergangenen Änderungsbescheids vom 21. Juli 2017 bezüglich Nr. 3 des Ausgangsbescheids – ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. An beidem fehlt es.
1. Die Beklagte ist inzwischen durch den Ablauf der sog. Überstellungsfrist für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten (Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO) durchgeführt wird. Dieser Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Sechsmonatsfrist stellt keinen fingierten Selbsteintritt, sondern, wie bereits ohne weiteres aus dem Wortlaut von Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO folgt, eine besondere Zuständigkeitsnorm dar, die letztlich lediglich vom Ablauf der Frist abhängig ist. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, die Folgen tragen muss (BayVGH, B.v.11.05.2015 – 13a ZB 15.50006 – juris Rn. 4f.).
Im vorliegenden Fall ist die Überstellung der Kläger nach Ungarn nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt; vielmehr ist sie überhaupt nicht erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO grundsätzlich mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat.
Ungarn hat mit Schreiben vom 9. November 2016, übersandt am 11. November 2016, das Aufnahmeersuchen akzeptiert. Eine Überstellung der Kläger hätte demnach bis 11. Mai 2017 erfolgen müssen.
Der für die Kläger erhobene Rechtsbehelf, d.h. der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, ist für diesen Fristlauf irrelevant. Die Regelung in Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 a.E. Dublin III-VO, der zufolge die Überstellungsfrist durch den vor ihrem Ablauf gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung unterbrochen wird (vgl. hierzu z.B. VG München, U.v. 22.3.2017 – M 9 K 16.50439 – juris Rn. 18 m.w.N.), greift im hiesigen Fall nicht ein. Denn dieser Rechtsbehelf gegen den Bescheid, der zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags bei Gericht (29.12.2016, also lange vor dem Änderungsbescheid vom 21.7.2017) noch den falschen Zielstaat (Polen) bezeichnete, konnte die Wirkung der Unterbrechung des Fristlaufs nicht auslösen. Das übersieht die Beklagte in ihrem Schreiben vom 24. August 2017, auf das Bezug genommen wird, wobei dort ohnehin zu Unrecht von Hemmung an statt richtig von Unterbrechung des Fristlaufs die Rede ist. Denn der Lauf der Überstellungsfrist ist aus der Regelung in Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO ersichtlich geknüpft an die Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs „durch einen anderen Mitgliedstaat“; der „andere Mitgliedstaat“ kann jedoch aus dem Sinn und Zweck des Regelungszusammenhangs der Vorschrift nur der „richtige“, d.h. der wirklich zuständige Mitgliedstaat sein, nicht ein anderer, falscher. Das gilt aus Gesichtspunkten des Rechtsschutzes ohne weiteres auch dann, wenn die Falschbezeichnung nur auf einem Versehen beruht, wovon hier auszugehen ist.
D.h. mit anderen Worten: Ein Rechtsbehelf (hier der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO) gegen den (ursprünglichen, nicht geänderten) Bescheid vom 15. Dezember 2016 hätte nur den Lauf einer Überstellungsfrist in Bezug auf Polen unterbrechen können. Eine Überstellungsfrist in Bezug auf Polen gab es mangels Zuständigkeit Polens natürlich nie, weshalb der Rechtsbehelf insoweit, was die Rechtsfolge der Unterbrechung einer Überstellungsfrist anbelangt, praktisch ins Leere ging. Der grundsätzlich mögliche Austausch des Zielstaats (nun richtig Ungarn) der Abschiebungsanordnung mit Änderungsbescheid vom 21. Juli 2017 dagegen kam zu spät. Ein Austausch des Zielstaats der Abschiebungsanordnung kann wirksam schon aus dem Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) nur spätestens bis zum Ablauf der Überstellungsfrist in Bezug auf den richtigen Zielstaat erfolgen; d.h. der Änderungsbescheid hätte vor Ablauf des 11. Mai 2017 ergehen müssen (und die Überstellung hätte ebenfalls bis zu diesem Zeitpunkt erfolgen müssen). Deshalb wurde das Bundesamt hierauf mit Schreiben des Gerichts vom 9. Januar 2017 (Bl. 22 der Gerichtsakte) auch rechtzeitig hingewiesen, jedoch erfolgte auf dieses Schreibens keine Reaktion. Der erst nach Ablauf der Überstellungsfrist erfolgte Austausch des Zielstaats der Abschiebungsanordnung dagegen vermag nicht mehr, die bereits abgelaufene Überstellungsfrist wieder zu aktivieren. Andernfalls würde der Rechtsschutz der Kläger unzulässig verkürzt und, was noch mehr als der Gesichtspunkt des Individualrechtsschutzes dem Sinn und Zweck der Dublin III-Verordnung entspricht, kann der Mitgliedstaat, der die Aufnahme oder Wiederaufnahme erklärt hat, darauf vertrauen, dass ein Austausch des Zielstaats nicht später als bis zum Ablauf der Überstellungsfrist, die ihm gegenüber läuft, erfolgt. Aus Gründen der Klarstellung ist der ursprüngliche Bescheid in der Gestalt des Änderungsbescheids aufzuheben.
2. Unabhängig davon steht angesichts der ursprünglichen Falschbezeichnung des Zielstaats im (nicht geänderten) streitgegenständlichen Bescheid auch nicht fest – was § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG aber auch noch verlangt –, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Denn angesichts des Zeitablaufs steht nicht i.S.v. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass Ungarn die Antragsteller (noch) übernehmen würde. Vielmehr ist zu erwarten, dass Ungarn mittlerweile dem Ansinnen der Übernahme der Kläger eben den Ablauf der Überstellungsfrist entgegenhalten würde. Auf den etwaigen Einwand hiergegen, dass die Überstellungsfrist durch einen Rechtsbehelf unterbrochen wurde, würde Ungarn voraussichtlich – völlig zu Recht – wiederum entgegnen, dass ein Rechtsbehelf gegen einen Bescheid, der Polen als Zielstaat bezeichnet, nicht eine in Bezug auf Ungarn laufende Überstellungsfrist unterbrechen kann. Das zeigt noch einmal die Richtigkeit des unter 1. dargestellten Ergebnisses. Selbst wenn aber Ungarn tatsächlich nach wie vor zur Übernahme der Kläger bereit wäre, hätte die Beklagte in dieser besonderen Konstellation die fortdauernde Bereitschaft Ungarns nachweisen müssen, was nicht geschehen ist.
Im Übrigen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die ausführliche Begründung im Beschluss vom 1. Juni 2017 im Verfahren Az. M 9 S. 16.51313, dort unter II. insbesondere Seiten 5ff. des Entscheidungsumdrucks, Bezug genommen.
Der streitgegenständliche Bescheid – siehe oben: in der Gestalt des Änderungsbescheids – wird daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO aufgehoben. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

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