Aktenzeichen M 12 K 18.1484
GG Art. 6 Abs. 1 und 2
EMRK Art. 8 Abs. 1 und 2
Leitsatz
1 Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer drohenden Wiederholung vergleichbarer Straftaten zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. (Rn. 34 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
2 Wie nach der bisherigen Rechtslage, besteht kein Anlass daran zu zweifeln, dass auch nach dem neuen Ausweisungsrecht eine generalpräventive Ausweisung rechtmäßig ist, soweit diese verhältnismäßig ist. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
3 Im Hinblick auf den Kläger besteht ein ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse iSd § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, da er wegen versuchtem Raub, gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren verurteilt wurde. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
4 Dem schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 AufenthG oder § 55 Abs. 2 AufenthG gegenüber. Auch im Hinblick auf den Gesichtpunkt, dass der volljährige Kläger faktisch zum Inländer geworden ist, noch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK oder Art. 6 Abs. 1 und 2 GG ergibt sich kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (Rn. 43 – 46) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltstitels, § 113 Abs. 5 VwGO.
I.
Die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
§ 53 Abs. 3 AufenthG ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da dem Kläger kein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei (im Folgenden: ARB 1/80) zusteht. Eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 von mindestens einem Jahr beim gleichen Arbeitgeber wurde vom Kläger weder vorgetragen noch nachgewiesen noch ist sie aus den Akten ersichtlich. Weder Mutter noch Vater des Klägers vermitteln dem Kläger infolge eines dreijährigen Wohnsitzes des Klägers bei einem Elternteil und einer Zugehörigkeit des Elternteils zum regulären Arbeitsmarkt während dieser Zeit einen Anspruch aus Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80. Für den Vater des Klägers ist eine über ein Jahr andauernde Beschäftigung weder vorgetragen noch ersichtlich. Mit der Mutter des Klägers wohnte der Kläger zwar seit seiner Geburt zusammen. Ausweislich der Mitgliedsbescheinigung der AOK Bayern vom … August 2016 war die Mutter des Klägers aber keine drei Monate am Stück beschäftigt. Die Zeiten, in denen die Mutter des Klägers ALG I bezogen hat, können nicht als Zeiten einer Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt angerechnet werden, da Zeiten einer unverschuldeten Arbeitslosigkeit gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 nur auf Grund vorheriger Arbeitnehmertätigkeit erworbene Ansprüche nicht berühren. Die in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 genannten, „unschädlichen“ Unterbrechungen setzen bereits eine erworbene assoziationsrechtliche Rechtsposition und damit mindestens eine einjährige Beschäftigung nach Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich voraus. Solche Ansprüche hatte die Mutter aber nicht, da sie nie länger als drei Monate beschäftigt war. Die Zeiten, in denen die Mutter des Klägers Erziehungsgeld und Mutterschaftsgeld bezogen hat, können nicht als Zeiten einer Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt angerechnet werden, da diese gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 ARB 1/80 nur dann den Zeiten der ordnungsgemäßen Beschäftigung gleichgestellt werden können, wenn sie eine Unterbrechung der Beschäftigung darstellen. Vorliegend war die Mutter des Klägers jeweils in der Zeit vor dem Bezug des Erziehungsgelds und Mutterschaftsgelds ohne Beschäftigung, was sich an dem in der Mitgliedsbescheinigung der AOK Bayern vom … August 2016 ausgewiesenen Bezug von Arbeitslosenhilfe bzw. ALG I zeigt.
1. Vom Kläger geht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, § 53 Abs. 1 AufenthG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben geht vom Kläger eine Wiederholungsgefahr aus. Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht. Das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe: Besonders schwer wiegt, dass die Strafe des Klägers bereits zur Bewährung ausgesetzt wurde und der Kläger sich in Therapie begab, diese Therapie aber aufgrund eines Rückfalls des Klägers beendet und die Bewährung widerrufen werden musste, da sich der Kläger auch keine neue Therapie suchte. Insbesondere kommt das Amtsgericht I. in seinem Beschluss vom … September 2017 zu dem Ergebnis, dass das Alkoholproblem des Klägers nicht ausreichend psychologisch bearbeitet worden sei, so dass mit weiteren Straftaten zu rechnen sei. Im Entlassbericht der Fachklinik W. vom … August 2017 heißt es, prognostisch bleibe der Kläger dringend behandlungsbedürftig. Auch der Bewährungshelfer des Klägers konnte diesem in seinem Bericht vom 30. August 2017 keine positive Sozialprognose attestieren. Laut dem Führungsbericht der JVA … … vom … Mai 2018 ist das Alkoholproblem des Klägers bisher nicht ausreichend psychologisch bearbeitet worden und es kann daher derzeit nicht von einer positiven Sozialprognose ausgegangen werden. Zudem wurde der Kläger bereits 2013 ausländerrechtlich verwarnt, doch auch diese Verwarnung hat den Kläger nicht davon abhalten können, Straftaten zu begehen. Es ist nicht ersichtlich, dass es einen einmaligen Anlass für die Straftaten gab, welcher nunmehr weggefallen ist. Der Hintergrund seiner Straffälligkeit war vielmehr durch sein Alkoholproblem wesentlich mitbeeinflusst. Die Bestrebungen des Klägers, eine Therapie zu absolvieren, stehen der Gefahr nicht entgegen, dass der Kläger erneut straffällig wird. In Fällen wie dem Vorliegenden, in denen Straftaten aufgrund einer bestehenden Alkoholproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass von einem Wegfall der konkreten Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden kann, solange der Kläger nicht eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftig alkohol- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 – 10 ZB 13.71 – juris Rn. 6 m.w.N.). Alkoholentzug in der Haft oder der Plan, eine Therapie zu beginnen, genügen demnach nicht. Bereits in der jüngsten Vergangenheit hat der Kläger die Therapie in der Fachklinik W. begonnen, welche aber aufgrund eines Rückfalls des Klägers beendet werden musste. Zudem kommt die Fachklinik W. in ihrem Entlassbericht vom … August 2017 zu dem Ergebnis, dass der Wunsch des Klägers nach Hilfe durch das Bemühen, nach der Haft eine möglichst kurze Therapiezeit zu erreichen, überlagert werde. Der Kläger ist also noch weit davon entfernt, eine Alkoholtherapie erfolgreich abgeschlossen und sein alkohol- und straffreies Verhalten auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht zu haben. Die erneute Straffälligkeit des Klägers nach Haftentlassung ist wahrscheinlich. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, den Verlauf einer begonnenen Therapie oder gar den Verlauf der Strafhaft abzuwarten, bevor sie über eine Ausweisung entscheidet (vgl. BVerwG, B.v. 15.4.2013 – 1 B 22.12 – juris).
Zudem bestehen generalpräventive Gründe für die Ausweisung. Der Gesetzgeber hat – in Anknüpfung an die seit § 10 AuslG 1965 ununterbrochen bestehenden Rechtslage – in der Gesetzesbegründung zur Neufassung des Ausweisungsrechts auch ausdrücklich die Maßgeblichkeit generalpräventiver Erwägungen unterstrichen (vgl. BT-Drs 18/4097, S. 49), soweit nicht die in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten Personengruppen, zu denen der Kläger nicht gehört (s.o.), betroffen sind. Angesichts dieses klar zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willens, an der Möglichkeit einer generalpräventiv begründeten Ausweisung entsprechend der bisherigen Rechtslage festzuhalten, besteht kein Anlass daran zu zweifeln, dass auch nach dem neuen Ausweisungsrecht eine generalpräventive Ausweisung rechtmäßig ist (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn. 10, BayVGH, B.v. 19.9.2016 – 19 CS 15.1600 – juris Rn. 34). Dem Gedanken der Generalprävention liegt zugrunde, dass – über eine ggf erfolgte strafrechtliche Sanktion hinaus – ein besonderes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Erforderlich ist regelmäßig, dass eine Ausweisungspraxis, die an die Begehung ähnlicher Taten anknüpft, geeignet ist, auf potentielle weitere Täter abschreckend zu wirken. Das BVerfG hat entschieden, dass die Heranziehung generalpräventiver Gründe bei einer Ausweisungsentscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vgl. BVerfG, B.v. 21.3.1985 – 2 BvR 1642/83; B.v. 17.1.1979 – 1 BvR 241/77; B.v. 10.8.2007 – 2 BvR 535/06; B.v. 22.8.2000 – 2 BvR 1363/2000 – juris). Es liegt vorliegend im dringenden öffentlichen Interesse, die von dem Kläger begangenen Delikte neben den strafrechtlichen Sanktionen mit dem Mittel der Ausweisung zu bekämpfen, um auf diese Weise andere Ausländer von der Nachahmung eines solchen Verhaltens abzuschrecken. Im Hinblick auf den versuchten Raub, die gefährliche Körperverletzung und die Beleidigung soll Ausländern vor Augen geführt werden, dass derartige Verstöße mit der sofortigen Aufenthaltsbeendigung mit einem damit einhergehenden Aufenthaltsverbot bedacht werden. Diesem Zweck wird durch eine einheitlich verlässliche Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden Rechnung getragen. Die konsequente Ahndung ist geeignet, unmittelbar auf das Verhalten anderer Ausländer einzuwirken und damit künftigen Delikten generalpräventiv vorzubeugen.
2. Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d.§ 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
Im Hinblick auf den Kläger besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sowie ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 a AufenthG. Denn er wurde 2016 wegen versuchtem Raub, gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren verurteilt.
Dem schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht weder ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 AufenthG noch ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 AufenthG gegenüber. Denn der Kläger hat weder eine Aufenthalts- noch eine Niederlassungserlaubnis noch treffen auf ihn die übrigen Tatbestände des § 55 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu.
Die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG durchzuführende Gesamtabwägung ergibt unter Berücksichtigung der §§ 54, 55 AufenthG und unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass die Ausweisung des Klägers rechtmäßig ist, weil das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt.
Im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände kann festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse überwiegt (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49). Vorliegend überwiegt das schwere Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 1 und 1a AufenthG die Interessen des Klägers an einem Verbleib in der BRD, insbesondere sprechen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht gegen die Ausweisung des Klägers.
(1) Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Vor §§ 53-56 Rn. 96 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
(2) Die Ausweisung von Ausländern, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist, kann den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzen (BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8/96 – juris Rn. 30). Obwohl der Kläger seit seiner Geburt ununterbrochen in Deutschland gelebt hat, erscheint eine Verweisung auf ein Leben in seinem Heimatland nicht unzumutbar. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration des Klägers im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass er über keine gesicherte berufliche Position verfügt. Er ist in Deutschland nicht beruflich integriert, sondern war nur in unregelmäßigen Abständen erwerbstätig. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger die Sprache seines Heimatlands beherrscht und dem Aufbau einer Existenz in der Türkei daher auch keine unüberbrückbare sprachliche Barriere entgegensteht. Zudem hat der Kläger bereits sein Heimatland besucht. Er kann die ggf. vorhandenen kulturellen Hürden mit einiger – zumutbarer – Anstrengung überwinden und sich in sein Heimatland integrieren. Darüber hinaus ist der Kläger als erwachsener Mann in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Daher wird sich der Kläger in seinem Heimatland eine neue Existenz aufbauen können.
(3) Weiter ist vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK und des Art. 6 GG zu berücksichtigen, dass große Teile der Familie des Klägers in Deutschland leben und er guten Kontakt zu diesen pflegt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die Kernfamilie des Klägers. Der Kläger ist volljährig und damit nicht mehr auf die Pflege und Unterstützung durch seine Mutter angewiesen. Es ist ihm zumutbar, telefonisch oder brieflich vom Ausland aus Kontakt zu halten. Damit steht die vorhandene Bindung der Ausweisung des Klägers nicht entgegen.
(4) Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der Schwere der vom Kläger begangenen Taten und der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig.
II.
Nr. 2 des angegriffenen Bescheids ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis steht sowohl § 11 Abs. 1 AufenthG aufgrund der rechtmäßigen Ausweisung als auch die fehlende Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen, da aufgrund der Straffälligkeit des Klägers ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bzw. § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG besteht.
a) Der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels steht gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG bereits die Sperrwirkung der in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten Ausweisung entgegen. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, der ausgewiesen worden ist, auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Die Sperrwirkung der Ausweisung greift gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach die Wirksamkeit der Ausweisung von Widerspruch und Klage unberührt bleibt, unabhängig davon ein, ob die Ausweisungsverfügung sofort vollziehbar oder bestandskräftig ist (vgl. Hailbronner, AufenthG, 91. Aktualisierung, September 2015, § 11 Rz. 18 f.). Eine Durchbrechung der Sperrwirkung ist aufgrund des sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Gebotes effektiven Rechtsschutzes jedoch dann erforderlich, wenn ein Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels unter Bezugnahme auf eine gleichzeitig erlassene Ausweisung abgelehnt wurde und sich die Ausweisung als rechtswidrig darstellt.
Wie oben bereits dargestellt ist die Ausweisung rechtmäßig, sodass die von ihr entfaltete Sperrwirkung der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegensteht.
b) Darüber hinaus besteht beim Kläger wie oben bereits dargestellt ein Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bzw. § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, welches gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegensteht.
III.
Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Nr. 2 des angegriffenen Bescheids in der durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung geänderten Fassung auf vier Jahre weist keine Rechtsfehler auf.
1. Die Ausweisung des Klägers hat gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge. Dieses ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesem Maßstab hat die Beklagte ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
2. Die Beklagte berücksichtigte bei der Bestimmung der Länge der Frist das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck. Im Rahmen einer prognostischen Einschätzung des Einzelfalls und unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts, also verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK kam sie in nicht zu beanstandender Weise zu der in dem zuletzt verfügten Fristsetzung.
Die Beklagte berücksichtigte im Einzelnen, dass der Kläger schwere Straftaten begangen hat und von ihm eine massive Gefahr ausgeht. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens einen Zeitraum von vier Jahren für erforderlich hielt, um dem hohen Gefahrenpotential des Klägers Rechnung tragen zu können.
Diese Fristen sind auch gemessen an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben des Art. 8 EMRK angesichts der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter und der erheblichen Wiederholungsgefahr nicht zu beanstanden. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
IV.
Die Abschiebung unmittelbar aus der Haft ergibt sich aus § 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG. In diesem Fall bedarf es keiner Fristsetzung nach § 59 Abs. 1 AufenthG. Die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist für den Fall, dass er vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft entlassen wird, ergeben sich aus §§ 58 Abs. 1 und 59 Abs. 1 AufenthG und sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
IV.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).