Europarecht

Ausweisung eines Drogenabhängigen wegen Diebstahls

Aktenzeichen  M 12 K 17.1608

Datum:
9.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 82 Abs. 1, § 114 S. 1
AufenthG AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 11 Abs. 1 S. 2, § 53, § 54 Abs. 2 Nr. 9, § 84 Abs. 2 S. 1
EMRK EMRK Art. 8
GG GG Art. 6

 

Leitsatz

1 Die Angabe der ladungsfähigen Anschrift ist eine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klage (BVerwG BeckRS 2012, 48064), die spätestens bei Schluss der mündlichen Verhandlung vorliegen muss. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
2 § 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
3 Von einem Wegfall der konkreten Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH BeckRS 2014, 51263). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. November 2017 entschieden werden, die Beteiligten nicht erschienen sind. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beteiligten sind form- und fristgerecht geladen worden.
I.
Die Klage ist unzulässig.
1. Die ladungsfähige Anschrift des Klägers fehlt, § 82 Abs. 1 VwGO.
Außer dem Namen ist mit der Klage auch die ladungsfähige Anschrift anzugeben. Ladungsfähige Anschrift ist die Anschrift, unter der die Partei tatsächlich zu erreichen ist. Bei einer natürlichen Person ist dies in der Regel die Wohnungsanschrift. Bei einer Änderung während des Prozesses – wie im vorliegenden Fall – ist diese mitzuteilen. Das ergibt sich aus der dem Kläger obliegenden Mitwirkungspflicht. Dies gilt unabhängig davon, ob der Kläger durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten wird. Die Angabe der ladungsfähigen Anschrift des Klägers soll nämlich nicht nur deren hinreichende Individualisier- und Identifizierbarkeit sicherstellen und die Zustellung von Entscheidungen, Ladungen sowie gerichtlichen Verfügungen ermöglichen; sie soll vielmehr darüber hinaus auch gewährleisten, dass der Kläger nach entscheidungserheblichen Tatsachen befragt und sich im Falle des Unterliegens seiner Kostentragungspflicht nicht entziehen kann (vgl. zum Ganzen Geiger in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 82 Rn. 3). Die Angabe der ladungsfähigen Anschrift ist eine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klage (BVerwG, B.v. 14.2.2012 – 9 B 79/11 – juris), die spätestens bei Schluss der mündlichen Verhandlung vorliegen muss (Geiger in Eyermann, a.a.O. Rn. 15).
Der Klägerbevollmächtigte hat vorliegend auf entsprechende Aufforderung des Gerichts keine ladungsfähige Anschrift des Klägers mitgeteilt. Vielmehr hat die Beklagte mitgeteilt, dass der Kläger nach Marokko abgeschoben wurde.
2. Soweit sich die Klage gegen die Abschiebungsanordnung aus der Haft und die und die dem Kläger unter Abschiebungsandrohung zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist richtet, ist die Klage zudem mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig, da der Kläger infolge einer Abschiebung bereits die Bundesrepublik verlassen hat und sich somit die Abschiebungsandrohung und die Ausreiseverpflichtung erledigt haben.
II.
Darüber hinaus ist die Klage auch unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 15. März 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltstitels, § 113 Abs. 5 VwGO.
1. Die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch die Beklagte getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Vom Kläger geht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, § 53 Abs. 1 AufenthG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben geht vom Kläger eine Wiederholungsgefahr aus. Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung stellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht. Das vergangene Verhalten des Klägers, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe: Besonders schwer wiegt, dass der Kläger mehrfach schon in Haft war und einschlägige Straftaten unter offener Bewährung beging. Der Eindruck der Haft konnte ihn nicht davon abhalten, erneut Straftaten zu begehen. Zudem beging er selbst im geschützten Raum des Maßregelvollzugs eine Straftat. Insbesondere kommt das Landgericht R … in seinem Beschluss vom … Februar 2017 zu dem Ergebnis, dass nicht festgestellt werden könne, dass der Kläger in Freiheit keine erheblichen rechtswidrigen Taten begehen werde. Ebenso wenig hat der Kläger sich seiner ehemaligen Ehefrau und seiner Lebensgefährtin zuliebe an die Gesetze gehalten. Es ist nicht ersichtlich, dass es einen einmaligen Anlass für die Straftaten gab, welcher nunmehr weggefallen ist. Hintergrund seiner Straffälligkeit ist vielmehr seine Drogensucht, welche ihn bereits seit seiner frühen Jugend begleitet. Die Bestrebungen des Klägers, eine Therapie zu absolvieren, stehen der Gefahr nicht entgegen, dass der Kläger erneut straffällig wird. In Fällen wie dem Vorliegenden, in denen Straftaten aufgrund einer bestehenden Drogenproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass von einem Wegfall der konkreten Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden kann, solange der Kläger nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 – 10 ZB 13.71 – juris Rn. 6 m.w.N.). Drogenfreiheit in der Haft oder der Plan, eine Therapie zu beginnen, genügen demnach nicht. Bereits in der Vergangenheit hat der Kläger mehrfach Therapien begonnen, diese aber ohne Erfolg abgebrochen. Zudem kommt das …-Klinikum in seinem Bericht vom … Dezember 2016 zu dem Ergebnis, dass beim Kläger eine Behandlung im Rahmen des Maßregelvollzugs nicht erfolgsversprechend ist. Der Kläger ist also noch weit davon entfernt, eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und sein drogen- und straffreies Verhalten auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht zu haben. Die erneute Straffälligkeit des Klägers nach Haftentlassung ist wahrscheinlich. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, den Verlauf einer begonnenen Therapie oder gar den Verlauf der Strafhaft abzuwarten, bevor sie über eine Ausweisung entscheidet (vgl. BVerwG, B.v. 15.4.2013 – 1 B 22.12 – juris).
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d.
§ 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
Es liegt beim Kläger das schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor. Denn er ist 2014 zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten wegen Diebstahls in zwei Fällen in Tatmehrheit mit Diebstahl mit Waffen verurteilt worden. Der Verurteilung lagen Vorsatztaten zu Grunde.
Dem schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht weder ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 AufenthG noch ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 AufenthG gegenüber. Denn der Kläger hat weder eine Aufenthaltsnoch eine Niederlassungserlaubnis noch treffen auf ihn die übrigen Tatbestände des § 55 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu.
Die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG durchzuführende Gesamtabwägung ergibt unter Berücksichtigung der §§ 54, 55 AufenthG und unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass die Ausweisung des Klägers rechtmäßig ist, weil das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt.
Im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände kann festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse überwiegt (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49). Vorliegend überwiegt das schwere Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG die Interessen des Klägers an einem Verbleib in der BRD, insbesondere sprechen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht gegen die Ausweisung des Klägers.
(1) Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Vor §§ 53-56 Rn. 96 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
(2) Der Kläger ist erst 2009 im Alter von über 30 Jahren eingereist und ist daher kein faktischer Inländer. Er ist nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit unzumutbar wäre. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration des Klägers im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass er über keine gesicherte berufliche Position verfügt. Er ist in Deutschland nicht beruflich integriert, sondern war nur in unregelmäßigen Abständen erwerbstätig. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger die Sprache seines Heimatlands beherrscht und dem Aufbau einer Existenz in Marokko daher auch keine unüberbrückbare sprachliche Barriere entgegensteht. Er kann die ggf. vorhandenen kulturellen Hürden mit einiger – zumutbarer – Anstrengung überwinden und sich in sein Heimatland integrieren. Darüber hinaus ist der Kläger als erwachsener Mann in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Daher wird sich der Kläger in seinem Heimatland eine neue Existenz aufbauen können.
Weiter ist vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK und des Art. 6 GG zu berücksichtigen, dass der Kläger verlobt ist/war und die Heirat geplant ist/war. Ein Verlöbnis ist allerdings nicht einer nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK geschützten Ehe gleichzustellen. Ein Verlöbnis hat allenfalls die „Vorwirkung“ einer Ehe, wenn die Eheschließung und der Beginn der ehelichen Lebensgemeinschaft unmittelbar bevorstehen (BayVGH, B.v. 24.10.2012 – 10 CE 12.2125 – juris). Dies ist regelmäßig nur dann anzunehmen, wenn der Eheschließungstermin feststeht oder jedenfalls verbindlich bestimmbar ist. Dies ist vorliegend nicht gegeben. Vielmehr hat das Standesamt … mitgeteilt, dass ein Termin zur Eheschließung nicht wahrgenommen wurde. Zudem hat die Verlobte des Klägers gegenüber der Beklagten erklärt, dass sie den Kläger nicht mehr heiraten werde, sondern sich vielmehr vor 2-3 Monaten von ihm getrennt habe. Damit steht die vorhandene Bindung des Klägers zu seiner Verlobten der Ausweisung des Klägers nicht entgegen.
(3) Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der Schwere der vom Kläger begangenen Taten und der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Verurteilung, die die Beklagte zum Anlass für die Ausweisung genommen hat, ist die Letzte in einer Kette von strafrechtlichen Verfehlungen, die dem Kläger zur Last zu legen sind. 2011 wurde der Kläger wegen Diebstahls zur Verantwortung gezogen. 2012 erfolgte eine weitere Verurteilung wegen Diebstahls. 2014 wurde der Kläger ein weiteres Mal wegen Diebstahls verurteilt. In weiteren Ermittlungsverfahren wegen Diebstahls wurde von der Verfolgung abgesehen. Der Kläger ist in regelmäßigen Abständen straffällig geworden und zeigte sich unbeeindruckt von drohenden Konsequenzen. Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger daran gelegen ist, sich zukünftig rechtstreu zu verhalten. Insgesamt hat der Kläger mehrere Chancen, ein straffreies Leben zu führen, nicht ergriffen. Weder Bewährung noch Strafhaft haben den Kläger davon abgehalten, weitere Straftaten zu begehen. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig.
2. Nr. 2 des angegriffenen Bescheids ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis steht sowohl § 11 Abs. 1 AufenthG aufgrund der rechtmäßigen Ausweisung als auch die fehlende Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen, da aufgrund der Straffälligkeit des Klägers ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG besteht. Zudem ist der Kläger entgegen § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ohne das erforderliche Visum eingereist. Weiter erfüllt er weder die Voraussetzung des § 30 AufenthG noch die des § 31 AufenthG.
a) Der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels steht gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG bereits die Sperrwirkung der in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten Ausweisung entgegen. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, der ausgewiesen worden ist, auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Die Sperrwirkung der Ausweisung greift gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach die Wirksamkeit der Ausweisung von Widerspruch und Klage unberührt bleibt, unabhängig davon ein, ob die Ausweisungsverfügung sofort vollziehbar oder bestandskräftig ist (vgl. Hailbronner, AufenthG, 91. Aktualisierung, September 2015, § 11 Rz. 18 f.). Eine Durchbrechung der Sperrwirkung ist aufgrund des sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Gebotes effektiven Rechtsschutzes jedoch dann erforderlich, wenn ein Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels unter Bezugnahme auf eine gleichzeitig erlassene Ausweisung abgelehnt wurde und sich die Ausweisung als rechtswidrig darstellt.
Wie oben bereits dargestellt ist die Ausweisung rechtmäßig, sodass die von ihr entfaltete Sperrwirkung der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegensteht.
b) Darüber hinaus besteht beim Kläger wie oben bereits dargestellt ein Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG, welches gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegensteht. Zudem ist der Kläger ohne das gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderliche Visum eingereist. Vielmehr reiste der Kläger am … Oktober 2010 unerlaubt ins Bundesgebiet ein.
c) Weiter erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 30 AufenthG nicht. Wie oben bereits dargestellt, ist kein Termin zur Eheschließung bestimmt und die Verlobte des Klägers hat im Rahmen einer Vorsprache bei der Beklagten am 16. März 2016 zudem erklärt, ihn nicht mehr heiraten zu wollen und sich von ihm getrennt zu haben.
Auch die Voraussetzungen für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gemäß § 31 Abs. 1 AufenthG sind nicht gegeben. Die frühere Ehe des Klägers bestand vom … Februar 2011 bis 14. November 2011 und somit weniger als ein Jahr im Bundesgebiet. Zudem fehlte es in dem Zeitraum an einem rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers.
3. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Nr. 3 des angegriffenen Bescheids auf drei Jahre weist keine Rechtsfehler auf.
a) Die Ausweisung des Klägers hat gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge. Dieses ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden.
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesem Maßstab hat die Beklagte sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
b) Die Beklagte berücksichtigte bei der Bestimmung der Länge der Frist das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck. Im Rahmen einer prognostischen Einschätzung des Einzelfalls und unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts, also verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK kam sie in nicht zu beanstandender Weise zu der in dem angegriffenen Bescheid verfügten Fristsetzung.
Die Beklagte berücksichtigte im Einzelnen, dass der Kläger eine Vielzahl von Straftatenbegangen hat und von ihm eine Gefahr ausgeht. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens einen Zeitraum von drei Jahren für erforderlich hielt, um dem hohen Gefahrenpotential des Klägers Rechnung tragen zu können. Aufgrund des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter ist die bemessene Frist zur Erreichung des Zwecks der Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt.
Diese Frist ist auch gemessen an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben des Art. 8 EMRK angesichts der fehlenden persönlichen und familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet nicht zu relativieren. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
4. Die Abschiebungsanordnung aus der Haft heraus ist nicht zu beanstanden. Sie ergibt sich aus § 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG. In diesem Fall bedarf es gemäß § 59 Abs. 5 AufenthG keiner Fristsetzung nach § 59 Abs. 1 AufenthG. Die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist für den Fall, dass er vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft entlassen wird, ergeben sich aus §§ 58 Abs. 1 und 59 Abs. 1 AufenthG und sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen