Europarecht

Ausweisung infolge der Verurteilung zu einer mehr als achtjährigen Freiheitsstrafe wegen Betäubungsmitteldelikten

Aktenzeichen  10 K 16.4806 600

Datum:
6.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 148544
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 2, § 53, § 54, § 55, § 58 Abs. 3, § 59 Abs. 3

 

Leitsatz

1 In Fällen, in denen Betäubungsmittelstraftaten aufgrund einer bestehenden Drogenproblematik begangen worden sind, ist regelmäßig davon auszugehen, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der betroffene Ausländer eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH BeckRS 2014, 51263). (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, die eine besondere Gefahr für die Gesellschaft darstellen (vgl. EGMR BeckRS 2014, 80511), können unter den Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ein besonders schweres Ausweisungsinteresse begründen. Sie zu unterbinden, liegt daher im besonderen Interesse des Staates, was sich auch in den gesetzlichen Wertungen des § 54 Abs. 2 Nr. 3, 4 AufenthG widerspiegelt. (Rn. 21) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der Bescheid vom 6. Oktober 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die unter Ziffer 1 des Bescheids vom 6. Oktober 2016 ausgesprochene Ausweisung ist rechtmäßig. Nach § 53 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (dazu unter a.), ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (dazu unter b.).
a. Vom Kläger geht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die freiheitliche demokratische Grundordnung aus, § 53 Abs. 1 AufenthG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U. v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben geht das Gericht davon aus, dass vom Kläger eine entsprechende Wiederholungsgefahr ausgeht und sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht. Der Kläger hat sehr schwere Straftaten begangen, welche mit einer hohen Freiheitstrafe abgeurteilt wurden. Er hat über mehrere Jahre Kokain in Umlauf gebracht und verfügt offensichtlich über hervorragende Kontakte zu Drogenhändlern im Ausland.
Dies gilt auch vor dem Hintergrund der eigenen Abhängigkeit. Das Gericht geht auf Grund der Stellungnahme des …-Klinikums von einer Betäubungsmittelabhängigkeit aus. Die unstreitige Menge von 7g Kokain pro Woche mit erheblichen Mengen Alkohol spricht zudem für eine längerfristige Problematik. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen Betäubungsmittelstraftaten aufgrund einer bestehenden Drogenproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 – 10 ZB 13.71 – juris Rn. 6 m.w.N.). Der Kläger hat mit einer Therapie einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gemacht, um seine Sucht zu überwinden, er hat die Therapie aber noch nicht beendet und seine Unabhängigkeit in Freiheit bewiesen. Der Kläger lebt momentan in einer kontrollierten Umgebung, weshalb ein Rückfall bei der Rückkehr in die früheren Strukturen nicht ausgeschlossen werden kann. Eine Wiederholungsgefahr kann nicht bereits ausgeschlossen werden, wenn nicht einmal eine therapeutische Aufarbeitung abgeschlossen ist.
b. Die Beklagte hat das Ausweisungsinteresse mit dem Bleibeinteresse des Klägers rechtmäßig gegeneinander abgewogen.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Diese Abwägung ist voll gerichtlich überprüfbar. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet nach dieser Gesamtabwägung überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die in den §§ 54 f. AufenthG genannten Ausweisungs- und Bleibeinteressen werden nur allgemein als schwer bzw. besonders schwer typisiert, ohne im Sinne eines Automatismus die letztliche Interessenabwägung zu bestimmen. Erforderlich ist vielmehr eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalles bereits auf Ebene des Tatbestands (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49 f.; HessVGH, B.v. 5.2.2016 – 9 B 16/16 – juris Rn. 5; VG Düsseldorf, U.v. 11.2.2016 – 8 K 1493/15 – juris Rn. 45 ff.; VG München, B.v. 4.4.2016 – M 10 S 15.5791 – juris; Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 7 ff., 27).
Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
aa. Es liegt das besonders schwere Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Gerade Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sind eine besondere Gefahr für die Gesellschaft (vgl. EGMR, U.v. 19.03.2013 – 45971/08 – juris Rn. 47). Sie zu unterbinden, liegt im besonderen Interesse des Staates, was sich auch der gesetzlichen Wertung des § 54 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 AufenthG entnehmen lässt. Die Straftat wiegt auch im Einzelfall schwer: Der Kläger ist zu einer Freiheitsstrafe von über acht Jahren verurteilt worden. Er hat veranlasst, dass erhebliche Mengen der „harten“ Droge Kokain in das Bundesgebiet eingeführt wurden bzw. nach Frankreich gebracht wurden. Er verfügte offensichtlich über hervorragende Kontakte ins Ausland, um die Betäubungsmittel zu organisieren. Allein der Verurteilung lagen vier Taten zu Grunde, auch in den vorigen Jahren und damit über einen langen Zeitraum hat der Kläger dazu beigetragen, Suchtmittel in den Umlauf zu bringen, die die Gesundheit und das Leben anderer gefährden.
bb. Diesem Ausweisungsinteresse steht das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber. Der Kläger ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und hält sich bereits seit beinahe drei Jahrzehnten in Deutschland auf. Neben diesem normierten Bleibeinteresse hat der Kläger familiäre Kontakte in Deutschland. Zwar lebt er nicht mit seinen Kindern in familiärer Gemeinschaft und diese sind zudem volljährig und auf seine Anwesenheit im Bundesgebiet nicht angewiesen. Doch hat der Kläger guten Kontakt zu seinen Geschwistern und zu seiner Tochter, die in Deutschland leben und ihm Stabilität nach der Haftentlassung bieten.
cc. Die Beklagte hat die Abwägung dieser widerstreitenden Interessen rechtmäßig vorgenommen. Angesichts der massiven Straffälligkeit des Klägers konnte die Beklagte den langjährigen rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers in Deutschland beenden. Der Kläger hat zudem weiterhin gute Kontakte in sein Heimatland, wo er regelmäßig mehrere Monate im Jahr verbringt. Er hat dort eine wirtschaftliche Basis und auch ein Teil seiner Familie lebt in Peru. In Deutschland hat der Kläger demgegenüber keine Arbeitsstelle, welche ihm die Integration in ein drogen- und straffreies Leben – gerade angesichts seiner Schulden – erleichtern würde.
2. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ziffern 2 und 3 des angefochtenen Bescheids rechtmäßig.
Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG in Ziff. 2 des Bescheids auf neun Jahre unter der Bedingung der nachgewiesenen Straf- und Drogenfreiheit, ansonsten zehn Jahre ist verhältnismäßig. Die Frist berücksichtigt die Anforderungen des § 11 Abs. 3 AufenthG. Sie übersteigt zehn Jahre nicht. Angesichts der massiven Straffälligkeit des Klägers ist eine fünf Jahre übersteigende Frist angemessen.
Auch die Anordnung der Abschiebung des Klägers aus der Haft heraus (Ziff. 3 des Bescheids) ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (auch Ziff. 3 des Bescheids) für den Fall, dass die Abschiebung während der Haft nicht durchgeführt werden kann, sind ebenfalls rechtmäßig im Sinne des § 59 AufenthG. Der Kläger ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG
ausreisepflichtig; durch die Ausweisung ist sein Aufenthaltstitel erloschen (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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