Aktenzeichen M 9 K 16.1028
Leitsatz
1. Ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse iSd § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG verlangt zumindest entweder einen zwar vereinzelten, aber nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder aber einen wiederholten, wenn auch geringfügigen Verstoß; eine weitere teleologische Reduktion ist auch nach der Gesetzessystematik nicht veranlasst. (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Ausweisung setzt eine Gefahr erneuter Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den bereits straffällig gewordenen Ausländer selbst nicht notwendig voraus. Die Ausweisungsvorschriften bezwecken auch, andere Ausländer im Bundesgebiet zu veranlassen, Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicht zu beeinträchtigen, insbesondere keine Straftaten zu begehen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
Der Bescheid vom 17. Februar 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die auf § 53 Abs. 1 AufenthG gestützte Ausweisung (Ziffer 1. des Bescheids), die als Ergebnis einer gerichtlich voll überprüfbaren Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ausgestaltet ist, ist ebenso wenig zu beanstanden (1.) wie die in Ziffer 2. verfügte Befristung der Ausweisung (2.).
1. Die Ausländerbehörde hat zutreffend das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bejaht. Der Kläger hat einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen. Dies ergibt sich aus der Verurteilung zu 50 Tagessätzen à € 5,– wegen Betrugs durch Unterlassen durch Strafbefehl des Amtsgerichts D* … vom 2. September 2015. Eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat, zudem zu mehr als 30 Tagessätzen, ist als nicht geringfügig in diesem Sinne anzusehen (BayVGH, B.v. 19.9.2016 – 19 CS 15.1600 – juris m.w.N.). Der Kläger hat mithin die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.
Demgegenüber kann er keinerlei Bleibeinteressen nach § 55 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG geltend machen.
Die vorzunehmende Abwägung des Ausweisungsinteresses und des Bleibeinteresses hat der Beklagte sachgerecht vorgenommen.
Die Ausländerbehörde hat unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgrund einer Abwägung aller für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gründe unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles zu prüfen, ob das öffentliche Interesse an der Ausweisung das private Interesse des Ausländers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt.
In der nach § 53 Abs. 1 AufenthG anzustellenden Gesamtabwägung unter besonderer Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erweist sich demnach die Ausweisung des Klägers angesichts keiner oder wenigstens nur geringer Bleibeinteressen als rechtmäßig.
Zunächst ist die von § 53 Abs. 1 AufenthG als Tatbestandsvoraussetzung geforderte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland durch den weiteren Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet gegeben. Die hierfür erforderliche Prognose, ob mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der Schutzgüter eintreten wird, mithin ob vom Kläger die Gefahr weiterer Beeinträchtigungen der polizeirechtlichen Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere in der Form weiterer Straftaten, ausgeht, ergibt nach Überzeugung des Gerichts eine Wiederholungsgefahr. Dabei gilt, dass diese Prognose, wie jede sicherheitsrechtliche Gefahrenprognose, nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und möglichem Schadensausmaß ist. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19/11 – juris).
Beim Kläger besteht eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer Straftaten v.a. im Bereich der Vermögensdelikte. Dies ergibt sich aus der abgeurteilten Straftat, die den Anlass für seine Ausweisung gegeben hat. Der Kläger setzte sich wiederholt über das ihm bekannte Prozedere zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit hinweg und schädigte so die Sozialkassen. Der Kläger wurde am 12. Juli 2013 vonseiten des Sozialamtes darüber belehrt, dass er ein zukünftiges Arbeitsverhältnis, auch auf € 400-Basis, sofort dem Landratsamt melden und die Annahme jeder Arbeit vor Aufnahme der Arbeit sofort anzeigen müsse (Bl. 98 d. BA). Dass diese Belehrung durch das Sozialamt erfolgte, ergibt sich daraus, dass die Belehrung von einem damaligen Mitarbeiter des Sozialamtes, Hr. S., unterzeichnet wurde, wie auf Nachfrage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung klargestellt wurde. Dem Kläger war mithin bekannt, dass es innerhalb der Behörde „Landratsamt“ mehrere verschiedene für seine Anliegen zuständige Stellen gab bzw. gibt, die es zu informieren gilt. Dies zeigt auch seine Aussage im Rahmen der Anhörung, wo er darauf hinweist, dass er seine Arbeitsaufnahme im Erdgeschoss der Behörde „bei der Ausländerbehörde“ angegeben habe und davon ausgegangen sei, dass diese Angaben „auch dem Sozialamt im zweiten Stock“ bekanntgemacht würden (Bl. 140 d. BA). Dennoch legte er seine Arbeitsaufnahme beim Sozialamt vorsätzlich nicht offen, wie sich aus der strafgerichtlichen Verurteilung vom 2. September 2015 ergibt, von deren Richtigkeit die Ausländerbehörde und auch das die Ausweisung überprüfende Gericht mangels aufgezeigten Sonderfalls ausgehen darf und deren Feststellungen der ausländerrechtlichen Bewertung zugrunde gelegt werden dürfen (BayVGH, B.v. 19.9.2016 – 19 CS 15.1600 – juris m.w.N.). Wenn die Bevollmächtigte des Klägers meint, eine Wiederholungsgefahr sei ausgeschlossen, so kann das nicht nachvollzogen werden. Als der Kläger am 2. Juli 2015 erstmals beim Sozialamt vorsprach, legte er vielmehr wiederum nicht alle ihm bekannten Informationen offen. Er klärte weder über den zwischenzeitlichen Arbeitgeberwechsel noch darüber auf, dass er Gehalt bereits im Monat April 2015 bezogen hatte. Der Kläger verschwieg nach der vorgeblich unbewussten Täuschung durch Vereinnahmen der an ihn ohne Rechtsgrund ausgezahlten Leistungen nach AsylbLG nunmehr aktiv, dass die Überzahlungen zu Unrecht einen halben Monat länger – Arbeitsaufnahme zum 17. April 2015 (Bl. 101 d. BA) – erfolgt waren.
Aufgrund dieses gezeigten Verhaltens besteht auch in Zukunft die Gefahr, dass der Kläger gegen die Rechtsordnung verstoßen wird. Der Kläger machte mehrmals falsche Angaben gegenüber den zuständigen Behörden bzw. unterließ es, diese von relevante Fakten in Kenntnis zu setzen (vgl. dazu VG München, U.v. 17.11.2016 – M 12 K 16.1726 – juris). Auch angesichts dessen, dass der Kläger – obwohl er mehrfach entsprechend aufgeklärt worden ist – den zwischenzeitlichen Arbeitgeberwechsel bis zum August 2015 verschwiegen hatte, was nach OWiG mit einer Geldbuße von € 150,– geahndet wurde, liegt damit die nicht nur entfernte Möglichkeit erneuter Straffälligkeit vor. Der Kläger akzeptiert augenscheinlich nicht die von der Rechtsordnung vorgesehenen Verfahrensschritte. Dass weitere Arbeitsaufnahmen bzw. Arbeitgeberwechsel im Jahr 2016 korrekt abliefen, ändert an dieser Prognose nichts, da der Kläger in diesen Zeiträumen bereits anwaltlich vertreten war und davon auszugehen ist, dass die Bevollmächtigte im Hinblick auf das laufende ausländerrechtliche Verfahren für die Einhaltung der maßgeblichen Regelungen sorgte. Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der Kläger auch unerlaubterweise nach Deutschland einreiste, nachdem er bereits in Belgien einen Asylantrag gestellt hatte. Auch dies zeigt, dass er nicht bereit ist, die Rechtsordnung zu befolgen.
Dass, wie von der Klägerbevollmächtigten vorgetragen, ein aus § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG folgendes Ausweisungsinteresse dadurch relativiert würde, dass die ihm zugrunde liegenden Straftaten zusammen genommen nicht die Grenzen des § 54 Abs. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 AufenthG erreichen, kann nicht nachvollzogen werden. Die Rechtsprechung hat den weiten Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG konturiert, indem entweder ein zwar vereinzelter, aber nicht nur geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder ein wiederholter, wenn auch geringfügiger Verstoß verlangt wird (BayVGH, B.v. 19.9.2016 – 19 CS 15.1600 – juris m.w.N.). Eine weitere teleologische Reduktion o.Ä. ist auch nach der Gesetzessystematik nicht veranlasst, da der Gesetzgeber den Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bewusst – und gleichwertig – neben den auf Mindestfristen abstellenden § 54 Abs. 2 Nr. 1 bzw. 2 AufenthG geschaffen hat.
Ungeachtet dieser spezialpräventiven Erwägungen verfolgt der Beklagte mit der Ausweisung in legitimer Weise auch generalpräventive Zwecke.
Die Ausweisungsentscheidung kann im Fall des Klägers auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden, da er nicht zu einer der in § 53 Absatz 3 AufenthG genannten, besonders geschützten Personengruppen gehört (vgl. dazu bspw. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 -; U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 -; B.v. 19.9.2016 – 19 CS 15.1600 -; VG München, B.v. 4.4.2016 – M 10 K 15.5788, M 10 S. 15.5791 -; U.v. 17.11.2016 – M 12 K 16.1726 – jeweils m.w.N. auch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, zitiert nach juris).
Der ordnungsrechtliche Zweck der Ausweisung wird zwar insbesondere erfüllt, wenn nach dem Verhalten des Ausländers mit erneuten Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu rechnen ist. Die Ausweisung setzt aber eine Gefahr erneuter Störungen durch den betreffenden Ausländer selbst nicht notwendig voraus. Die §§ 53 ff. AufenthG bezwecken auch, andere Ausländer im Bundesgebiet zu veranlassen, Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicht zu beeinträchtigen, insbesondere keine Straftaten zu begehen. Die Ausländerbehörde geht zu Recht davon aus, dass gerade bei Personen, die in einer ähnlichen Lebenssituation sind wie der Kläger – mithin im laufenden Asylverfahren stehen, begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung haben und Leistungen nach AsylbLG beziehen -, ein hoher Anreiz besteht, Betrugsdelikte zulasten der Sozialkassen zu verwirklichen und gerade Überzahlungen nicht anzuzeigen. Diesem Umstand kann nur durch entsprechende ausländerrechtliche Maßnahmen mit abschreckender Wirkung begegnet werden. Die Ausweisung beruht auch auf erst kürzlich verwirklichten Delikten. Sie ist nach alledem geeignet, andere Ausländer von der Begehung derartiger Straftaten abzuhalten.
Weiter sind nach § 53 Abs. 2 AufenthG bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalls, wie sie § 53 Abs. 1 AufenthG erfordert, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner zu berücksichtigen.
Ausgehend hiervon wiegt das Ausweisungsinteresse des Beklagten gegenüber dem Kläger, auch unter Berücksichtigung der Art. 6 GG, des Art. 8 EMRK und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, schwerer als seine Bleibeinteressen. Insbesondere ist eine soziale und wirtschaftliche Integration des Klägers im Bundesgebiet in keiner Weise gegeben. Der Kläger hatte zu keinem Zeitpunkt eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik inne. Er übt nur Minijobs aus, die keine langfristige wirtschaftliche Perspektive bieten und wechselt zudem oft den Arbeitgeber, was gegen eine schützenswerte berufliche Integration spricht. Soziale Bindungen o.Ä. bestehen in Deutschland nicht. Der Kläger verliert durch die Ausweisung, an die sich zudem wegen der in Ziffer 3. getroffenen Bedingung nach § 53 Abs. 4 AufenthG keine unmittelbaren aufenthaltsbeendenden Folgen knüpfen, nicht seine berufliche oder wirtschaftliche Existenz.
2. Auch die nach Ziffer 2. des Bescheids gesetzte Frist ist nicht zu beanstanden. Die Befristung beruht auf § 11 AufenthG. Die Ermessensentscheidung des Beklagten, die nur auf Ermessensfehler hin zu überprüfen ist, § 114 Satz 1 VwGO, ist rechtsfehlerfrei. Die Befristungsentscheidung positiv beeinflussende Faktoren – wie familiäre Bindungen – sind nicht erkennbar. Angesichts der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr (siehe Ziffer 1. der hiesigen Entscheidung) ist eine Befristung auf zwei Jahre auch nicht als zu hoch einzuschätzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708ff. ZPO.