Aktenzeichen M 26 S 16.50658
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 Abs. 2, Art. 25 Abs. 2
Leitsatz
1 Weder die auf den anhaltenden Zustrom von Flüchtlingen zurückzuführende lange Dauer der Asylverfahren in Italien noch die im Bereich der Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern weiterhin feststellbaren Mängel und Defizite begründen Anhaltspunkte für die Annahme systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber. (redaktioneller Leitsatz)
2 Gehört ein Asylbewerber zu einer Gruppe besonders schutzbedürftiger Personen (hier: Familie mit Kleinkind) und fehlt es an einer für eine Überstellung nach Italien erforderlichen individuellen Garantieerklärung der zuständigen Behörden für eine konkrete angemessene Unterbringung der besonders Schutzbedürftigen nach deren Rücküberstellung, erweist sich diese als unzulässig. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom … August 2016 gegen die Nummer 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 19. August 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die drohende Überstellung nach Italien im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller, ein Staatsangehöriger von Nigeria, reiste nach eigenen Angaben am … Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er wurde am … Februar 2016 mit seiner Ehefrau aufgegriffen. Am selben Tag ergaben sich Eurodac-Treffer, die eine illegale Einreise nach Italien belegten (IT……, Aufgriffsdatum …9.2015). Am … März 2016 stellte die Antragsgegnerin ein Aufnahmeersuchen an Italien, auf das keine Antwort erfolgte. Der Antragsteller und seine Ehefrau stellten am … April 2016 einen Asylantrag.
Im Rahmen der persönlichen Anhörung des Antragstellers am … April 2016 (Erstbefragung) gab dieser an, von Nigeria aus über Libyen und Italien nach Deutschland gereist zu sein. Die Reise habe ein Jahr gedauert.
Mit Bescheid vom 19. August 2016 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids), stellte fest, das Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG – nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von a… Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4).
Zur Begründung führte es u. a. aus, dass Italien aufgrund der Ersteinreise über die Außengrenze der Mitgliedstaaten für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG sowie Gründe zur Annahme von systemischen Mängeln im italienischen Asylverfahren oder der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor. Der Bescheid wurde dem Antragsteller am … August 2016 zugestellt.
Am … August 2016 erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Er beantragte die Aufhebung des Bescheids vom 19. August 2016 (M 26 K 16.50657).
Außerdem beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage – Anordnung der Abschiebung nach Italien – anzuordnen.
Zur Begründung verwies er auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 4. November 2014. Zur Familie des Klägers gehöre das am … Juni 2016 geborene Kind A…. Der Antragsteller gehöre mit seinem Kind zum besonders geschützten Personenkreis, für welchen der EGMR als Voraussetzung zur Rückschiebung eine konkrete Unterbringungsmöglichkeit bzw. eine individuelle Garantieerklärung fordere. Letztere gebe Italien aber gegenwärtig nicht mehr ab.
Mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2016 übermittelte das Bundesamt für die Antragsgegnerin die Behördenakte. Mit Schriftsatz vom 5. Oktober 2016 beantragte es,
den Antrag abzulehnen.
Mit Beschluss vom 31. Oktober 2016 ordnete das Bayerische Verwaltungsgericht München die aufschiebende Wirkung der Klage der Ehefrau gegen die Abschiebungsanordnung in dem zu ihrer Person ergangenen Bescheid vom 19. August 2016 an (M 26 S 16.50656). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf diesen Beschluss, auf die Gerichtsakten in dem hier anhängigen Verfahren und im Verfahren M 26 K 16.50657 sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 und § 75 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung (§ 122 Abs. 1, § 88 VwGO) hat Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen, wobei insbesondere die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu berücksichtigen sind.
Nach der gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung sind im vorliegenden Fall die Erfolgsaussichten der vom Antragsteller erhobenen Klage als offen anzusehen. Im Rahmen der sonach noch vom Gericht vorzunehmenden allgemeinen Interessenabwägung überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids vom 19. August 2016. Denn würde der Sofortvollzug in Kraft bleiben und auf dieser Basis eine Abschiebung tatsächlich durchgeführt, käme es trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache rein faktisch wohl zu einem nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten revidierbaren Zustand. Ein solches Vorgehen würde den Grundsätzen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) widersprechen.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier derzeit nicht vor.
Zwar ist Italien gemäß Art. 3 Abs. 1, 7 ff., 11 lit. a, 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, so dass der Asylantrag des Antragstellers (derzeit) gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG unzulässig ist. Laut eigenen Angaben und auch nach dem Ergebnis der Eurodac-Abfrage ist der Antragsteller im September 2015 in Italien eingereist. Die Zuständigkeit Italiens ist auch nicht gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO erloschen (vgl. dazu weitergehend VG München, B.v. 5.7.2016 – M 1 S 16.50364 – juris Rn. 11). Auch ist gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO von der Stattgabe Italiens hinsichtlich des gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 Dublin III-VO rechtzeitig gestellten Aufnahmegesuchs auszugehen, da hierauf innerhalb der maßgeblichen Zweimonatsfrist des Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO keine Reaktion erfolgte.
Es steht jedoch nicht fest, dass die Abschiebung im Sinne von § 34a Abs. 1 AsylG durchgeführt werden kann. Denn nach Auffassung des Gerichts ist eine Überstellung nach Italien gegenwärtig unzulässig. Der Antragsteller sowie dessen Ehefrau und das im Juni 2016 geborene Kind gehören als Familie mit Kleinkind einer besonders schutzbedürftigen Gruppe an, für die im Zeitpunkt dieser Entscheidung die Voraussetzungen für die Durchführung ihrer Abschiebung nach Italien – gesicherte kindgerechte Unterkunft – nicht vorliegen.
Durch die obergerichtliche Rechtsprechung, der sich dieses Gericht anschließt, ist mittlerweile geklärt, dass In Italien nicht von systemischen Mängeln des Asylverfahrens auszugehen ist (s. BVerwG, B.v. 6.6.2014 – 10 B 35/14 – NVwZ 2014, 1677 ff.; BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 30 ff.; OVG NW, U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A – juris Rn. 41 ff., U.v. 7.7.2016 – 13 A 2302/15.A – juris Rn. 41, vgl. auch VG München, B.v. 20.9.2016 – M 8 S 16.50293 – juris). Nichts anderes ergibt sich auch aus der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Nr. 29217/12, Tarakhel – juris). Danach ist jedoch noch einzelfallbezogen zu prüfen, ob ein Asylbewerber zu einer Gruppe besonders schutzbedürftiger Personen gehört. Ist das der Fall, kann durch die Abgabe einer Garantieerklärung hinreichend sichergestellt werden, dass nach einer Abschiebung ausreichender Schutz auch in Italien besteht (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014 a.a.O). Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Beschlüssen vom 17. September 2014 (2 BvR 732/14, 2 BvR 991/14, 2BvR 939/14 und 2 BvR 1795/14 – jeweils juris), ausgeführt, dass offen bleiben könne, ob systemische Mängel vorliegen, die deutschen Behörden aber zum Schutz der von der Rückführung betroffenen Kleinkinder geeignete Vorkehrungen zu treffen haben, wenn belastbare Anhaltspunkte für Kapazitätsengpässe bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer bestehen. Demnach könne die der zuständigen Behörde obliegende Pflicht, gegebenenfalls durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, es in Einzelfällen gebieten, sicherzustellen, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft im Zielstaat zur Verfügung stehen, wobei der Ausländer regelmäßig auf den dort allgemein üblichen Standard zu verweisen ist.
Der Antragsteller sowie die übrigen Familienmitglieder gehören als Familie mit Kleinkind zu einer Gruppe besonders schutzbedürftiger Personen, die anders als bei der Rückführung in ihr Heimatland, bei der Rückführung nach Italien regelmäßig weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen können. Da in Bezug auf Italien aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen und des Auswärtigen Amtes belastbare Anhaltspunkte für das Bestehen von Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer bestehen, hat das auf deutscher Seite für die Abschiebung zuständige Bundesamt dem angemessen Rechnung zu tragen. Angesichts der hier berührten hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 GG und der bei der Durchführung von Überstellungen nach dem Dublin-System vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkte der uneingeschränkten Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls hat es jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen (vgl. Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO) und Kleinkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden Italiens sicherzustellen, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete (Gesundheits-)Gefahren für die in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen.
Das Bundesamt hat bisher (möglicherweise mangels Kenntnis über das Neugeborene) eine solche Garantieerklärung Italiens nicht angefordert. Sollten die italienischen Behörden tatsächlich noch eine Garantieerklärung zur Unterbringung des Antragstellers und seiner Familie abgeben, ist es Sache des Bundesamts, eine solche Erklärung (in die deutsche Sprache übersetzt) im Hauptsachverfahren, sofern noch anhängig, vorzulegen und/oder ggf. einen Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO auf Abänderung dieses Beschlusses zu stellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG)