Europarecht

Dublin-Verfahren (Bulgarien)

Aktenzeichen  M 1 K 16.50376

Datum:
8.9.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1 Für die Verlängerung der Überstellungsfrist ist eine Beteiligung des Mitgliedsstaats, in den der Betroffen abgeschoben werden soll, erforderlich. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Ausgestaltung von behördeninternen Organisationsabläufen und -strukturen darf dem Asylsuchenden nicht zum Nachteil gereichen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 6. Dezember 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.
1. Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil alle Beteiligten klar, eindeutig und vorbehaltlos (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2013 – 8 B 91/12 – juris Rn. 3) auf mündliche Verhandlung verzichtet haben. Die Klagepartei hat mit Schriftsatz vom *. März 2017 und die Beklagtenpartei mit genereller (auch den vorliegenden Rechtsstreit umfassender) Prozesserklärung vom 24. Juni 2015 bzw. 25. Februar 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Die Regierung von Oberbayern ist vorliegend zwar gemäß § 63 Nr. 4 VwGO als Vertreter des öffentlichen Interesses (VöI) Verfahrensbeteiligter aufgrund der generellen Beteiligungserklärungen vom 11. Mai 2015 und vom 18. Mai 2015 (vgl. zur Zulässigkeit sog. Generalbeteiligungserklärungen BVerwG, U.v. 27.6.1995 – 9 C 7/95 – BVerwGE 99, 38, juris Rn. 11). In diesen Erklärungen hat der VöI allerdings darum gebeten, ihm ausschließlich die jeweilige Letzt- und Endentscheidung zu übersenden und damit unter anderem auch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Dabei bedurfte es weder einer gesonderten Anordnung des schriftlichen Verfahrens durch einen gerichtlichen Beschluss (BVerwG, B.v. 15.5.2014 – 9 B 57/13 – Rn. 20, NVwZ-RR 2014-657) noch vor der Entscheidung im schriftlichen Verfahren der Bestimmung einer Schriftsatzfrist (BVerwG, B.v. 10.10.2013 – 1 B 15/13 – Rn. 5, Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 72, juris).
2. Die Anfechtungsklage gegen den streitgegenständlichen Bescheid ist zulässig. Sie wurde insbesondere fristgerecht erhoben (§ 74 Abs. 1 AsylG).
3. Die Klage ist auch begründet, da sich der streitgegenständliche Bescheid im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) als rechtswidrig erweist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
3.1. Rechtsgrundlage für den Bescheid sind § 29 Abs. 1 Nr. 1 und § 34a Abs. 1 AsylG. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in diesen zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen diese Voraussetzungen jedoch nicht mehr vor, da die Beklagte nach den Regeln der Dublin-III-VO wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig geworden ist.
3.2. Gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO hat die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten zu erfolgen.
3.2.1. Die Frist beginnt mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder mit der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat (Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO).
Im vorliegenden Fall hat das Bundesamt auf Grund einer EURODAC-Treffermeldung (Eurodac-Nr. BG1* …*) vom 11. Februar 2016 innerhalb der gemäß Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin-III-VO einschlägigen Frist von zwei Monaten am 23. März 2016 ein Wiederaufnahmegesuch an Bulgarien gerichtet. Die zuständige bulgarische Behörde stimmte am 29. März 2016, d.h. binnen der zweiwöchigen Antwortfrist (Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO), der Wiederaufnahme des Klägers zu.
Der Lauf der Frist wurde durch den Eilantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 VwGO) jedoch unterbrochen und mit Ablehnung des Antrags durch gerichtlichen Beschluss neu in Lauf gesetzt, da der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen eine Abschiebungsanordnung wegen § 34 a Abs. 2 AsylG aufschiebende Wirkung entfaltet (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15/15 – juris Rn. 11 f. und Leitsatz). Die Überstellungsfrist begann daher mit Bekanntgabe des ablehnenden gerichtlichen Beschlusses im Verfahren M 1 S. 16.50377 neu zu laufen. Da die Überstellungsfrist der Vorbereitung und Durchführung der Rückführung durch das Bundesamt dient und dem Bundesamt hierfür ein zusammenhängender Zeitraum von sechs Monaten zur Verfügung stehen soll, ist für den Beginn der Frist maßgeblich auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe gegenüber dem Bundesamt am 17. August 2016 abzustellen, die frühere Bekanntgabe an der Kläger bleibt insoweit außer Betracht.
Die Überstellungsfrist endete demnach am 17. Februar 2017 (Art. 42 Buchst. b Dublin-III-VO). Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens ist daher gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO auf die Beklagte übergegangen.
3.2.2. Die Beklagte kann sich nicht auf eine Verlängerung der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO berufen.
Voraussetzung für eine Verlängerung der Überstellungsfrist ist auf der Tatbestandsseite, dass die Überstellung wegen Inhaftierung oder Flucht des Betroffenen nicht erfolgen konnte. Aufgrund der Mitteilung der Landeshauptstadt München vom 23. September 2016, dass der Kläger seit dem 24. August 2016 nicht mehr in seiner ihm zugewiesenen Flüchtlingsunterkunft erschienen sei, und dem Schreiben der …kirche … vom … September 2016, wonach der Kläger „ab sofort“ in das Kirchenasyl aufgenommen worden sei, ist der Kläger für den zwischen dem 24. August 2016 und dem 25. September 2016 liegenden Zeitraum wohl als flüchtig anzusehen.
Hierauf kommt es jedoch streitentscheidend nicht an. Denn auf der Rechtsfolgenseite ist aufgrund des Wortlauts des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO („kann verlängert werden“) zu sehen, dass sich die Frist nicht „von selbst“ verlängert. Vielmehr ist eine Beteiligung des Mitgliedstaates, in den der Betroffene überstellt werden soll, erforderlich. Ob insoweit im Hinblick auf Art. 9 Abs. 2 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 (Dublin-III-DVO) die bloße Unterrichtung des Mitgliedstaates ausreicht (so Filzwieser/Sprung, Dublin-III-Verordnung, Stand 1.2.2014, Art. 29 K13) oder ob es mit Blick auf Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO einer ausdrücklichen (so Funke-Kaiser in GK-Asyl, Stand Nov. 2013, § 27a AsylG, Rn. 232) oder stillschweigenden (so Hailbronner, AuslR, Stand März 2015, § 27a AsylG Rn. 51) Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten bedarf, ist umstritten, kann aber im vorliegenden Fall offen bleiben. Denn vorliegend hat das Bundesamt die zuständige bulgarische Behörde erst am 27. September 2016 und damit nach Kenntnis vom Aufenthaltsort des Klägers im Kirchenasyl am 26. September 2016 von der beabsichtigten Fristverlängerung unterrichtet. Zwar findet sich in der Behördenakte das Schreiben der …kirche … vom 25. September 2016 auf den Seiten 83 bis 85 mehrfach mit unterschiedlichen Eingangsstempeln. Maßgeblich ist insoweit jedoch der früheste Eingangsstempel vom 26. September 2016, da die Ausgestaltung von behördeninternen Organisationsabläufen und -strukturen nicht zum Nachteil des Asylantragstellers gereichen darf. Daher ist der Kläger zum Zeitpunkt der Beteiligung Bulgariens am 27. September 2016 jedenfalls nicht mehr als flüchtig anzusehen.
Eine ordnungsgemäße Verlängerung der Überstellungsfrist bis zum 26. September 2016 scheitert somit an der Beteiligung von Bulgarien, eine Verlängerung am bzw. ab dem 27. September 2017 scheitert bereits auf Tatbestandsebene, da der Kläger zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) flüchtig war.
Damit ist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO die Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen (s. auch BayVGH, B.v. 15.4.2015 – 13a ZB 15.50066 – juris Rn. 4; VG München, U.v. 16.11.2016 – M 24 K15.50836). Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht (mehr) vor. Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig wegen Unzuständigkeit der Beklagten (Ziffer 1 des Bescheids) sowie die darauf gestützte Abschiebungsanordnung (Ziffer 2 des Bescheids) sind rechtswidrig.
Wegen des Zuständigkeitsübergangs auf die Beklagte durch Ablauf der Überstellungsfrist kommt es auf die Frage, ob einer Rückführung nach Bulgarien systemische Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen entgegenstehen (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO), sowie die Frage, ob persönliche Vollstreckungshindernisse vorliegen, nicht an.
3.3. Der Kläger ist durch den streitgegenständlichen Bescheid auch in seinen Rechten i.S.v. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt. Die subjektive Rechtsverletzung des Klägers ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO bzw. Art. 16a Abs. 1 GG. Der Kläger hat nach den Grundstrukturen des gemeinsamen Europäischen Asylsystems jedenfalls einen Anspruch auf die Durchführung eines Asylverfahrens und die Prüfung seines Asylbegehrens in zumindest einem Mitgliedstaat. Dieser Anspruch wird vereitelt, wenn eine Überstellung in den ursprünglich für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat nicht erfolgt und nach Ablauf der Überstellungsfrist auch nicht mehr erfolgen kann und die nunmehr zuständige Beklagte weiterhin von der Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ausgeht (vgl. VGH BW, U.v. 29.4.2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 42; OVG NRW, U.v. 4.2.2016 – 13 A 59/15. A – juris Rn. 64 ff.). In diesem Sinne hat auch das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass sich der Schutzsuchende im gerichtlichen Verfahren gegen die Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr.1 AsylG jedenfalls dann auf die Zuständigkeit des nach den einschlägigen Dublin-Bestimmungen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedsstaates berufen kann, wenn die (Wieder-) Aufnahmebereitschaft eines anderen (unzuständigen) Mitgliedstaates nicht positiv feststeht (BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 20). Anhaltspunkte für eine positive Feststellung im Hinblick auf die Aufnahmebereitschaft Bulgariens sind im vorliegenden Fall weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Der rechtswidrige Bescheid war daher aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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