Europarecht

Eine rein verfahrensbezogene Duldung begründet keinen geduldeten Aufenthalt im Sinne von § 25b Abs. 1 AufenthG

Aktenzeichen  B 4 K 16.584

Datum:
30.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 25b, § 81 Abs. 5

 

Leitsatz

1 Eine rein verfahrensbezogene Duldung, die einen vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet nur für die Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zur Klärung des Bestehens eines Aufenthaltsrechts ermöglichen soll, führt nicht zu einem geduldeten Aufenthalt im Sinne von § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG (vgl. OVG NRW BeckRS 2016, 50358). (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Weist der Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet mehrmonatige Lücken auf, in denen er weder über einen Aufenthaltstitel noch über eine Duldung verfügte bzw. in dem auch keine Duldungsgründe nach § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG vorlagen, besteht kein ununterbrochener Aufenthalt im Sinne von § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AufenthG. (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Besondere Integrationsleistungen eines Ausländers können grundsätzlich zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG führen, da § 25b Abs. 1 S. 2 AufenthG das Vorliegen der dort genannten Tatbestandsvoraussetzungen nur “regelmäßig” voraussetzt, mithin im Ausnahmefall Raum für die Kompensation von deren Fehlen lässt. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Ausländer ein Verhalten wie etwa ein herausgehobenes soziales Engagement gezeigt hat, das eine vergleichbare nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet, auch wenn dafür insbesondere die erforderliche Aufenthaltsdauer noch nicht vollständig den gesetzlichen Anforderungen entspricht. (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Die Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) ist unabhängig von ihrer Zulässigkeit jedenfalls unbegründet. Gemäß § 113 Abs. 5 VwGO ist die Beklagte weder zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis noch zur Bescheidung des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten, weil bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des allein in Betracht kommenden § 25b Abs. 1 AufenthG nur teilweise erfüllt sind.
Auch wenn man davon ausgeht, dass der Kläger zweifelsfrei über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse nach Maßgabe des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG verfügt, seinen Lebensunterhalt im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG überwiegend, sogar vollständig, durch Erwerbstätigkeit sichert sowie gemäß § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet durch einen erfolgreichen Einbürgerungstest nachgewiesen hat (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7, Abs. 5 Satz 1 StAG) und das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland wirksam nachholen kann, scheitert die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG an der Nichterfüllung des § 25b Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AufenthG.
Als Inhaber einer rein verfahrensbezogenen Duldung war der Kläger kein geduldeter Ausländer im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 18/4097, S. 23) ist Zielsetzung des § 25b AufenthG, „nachhaltige Integrationsleistungen, die trotz des fehlenden rechtmäßigen Aufenthaltes erbracht wurden, durch Erteilung eines gesicherten Aufenthaltsstatus zu honorieren“. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass das geltende Recht für ausreisepflichtige Ausländer, deren Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und denen keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, eine Duldung vorsieht (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG), welche die Ausreisepflicht unberührt lässt (§ 60a Abs. 3 AufenthG) und zu widerrufen ist, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfallen (§ 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG). „Die aufenthaltsrechtliche Situation kann derzeit allerdings in vielen Fällen weder durch eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung noch durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verändert werden.“ Diese „gesetzliche Lücke im geltenden Aufenthaltsrecht“ sollte durch eine alters- und stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz – § 25b „Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration“ – geschlossen werden.
Ausgehend von dieser Zielsetzung gehört der Kläger nicht zum begünstigten Personenkreis des § 25b AufenthG, weil seine aufenthaltsrechtliche Situation durch eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung hätte verändert werden können. Mit der ablehnenden Entscheidung der Beklagten vom 20.10.2014 über seinen Verlängerungsantrag vom 07.05.2014 ist der Kläger gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig geworden, weil gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG die dagegen erhobene Klage (B 4 K 14.794) keine aufschiebende Wirkung hatte. Daran änderten auch der mit Beschluss vom 28.01.2015 (B 4 S. 14.793) abgelehnte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage und die mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 27.06.2016 (19 CS 15.629) zurückgewiesene Beschwerde nichts, insbesondere begründeten sie keine Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Die erstmals am 09.06.2015 erteilte und zuletzt bis 31.08.2016 verlängerte Duldung, die der Kläger ausschließlich zum Zweck der Durchführung der beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof anhängigen Verfahren erhielt, stellt gewissermaßen ein Entgegenkommen der Beklagten dar und ist einer nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO ergangenen ausländerbehördlichen Aussetzung der Vollziehung eines die Ausreisepflicht begründenden Verwaltungsaktes vergleichbar, die keine einer Duldung im Sinne des § 25b AufenthG gleichstehende verfahrensrechtliche Position begründet (so zu § 25a AufenthG Hailbronner, AuslR, Stand April 2016, § 25a Rn. 4). Eine solche rein verfahrensbezogene Duldung, die einen vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet nur für die Dauer eines Verfahrens ermöglichen soll, in dem es um die Frage geht, ob dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht zusteht, führt nicht auf einen geduldeten Aufenthalt im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.08.2016 – 18 B 696/16, juris Rn. 3 und 4).
Demzufolge erfüllt der Kläger, nachdem er weniger als sieben Jahre, vom 06.11.2007 bis 28.09.2014, im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war, die vom Zeitpunkt ihres Ablaufs gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nur bis zur Ablehnung des Verlängerungsantrags mit Bescheid vom 20.10.2014 als fortbestehend galt, auch nicht die Regelintegrations-voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG, wonach die nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG regelmäßig voraussetzt, dass der Ausländer sich seit mindestens acht Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Selbst wenn man den Gesetzeszweck außer Acht lässt und sich nur am Wortlaut des § 25b Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AufenthG „geduldet“ orientiert, fehlt es an einem ununterbrochenen geduldeten oder erlaubten Aufenthalt von acht Jahren, weil der Kläger vom 21.10.2014 bis 08.06.2015 weder über eine Aufenthaltserlaubnis noch über eine Duldung verfügte und materielle Duldungsgründe im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wie dargelegt, nicht vorlagen. § 85 AufenthG, wonach bei der Berechnung von Aufenthaltszeiten Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes bis zu einem Jahr außer Betracht bleiben können, hilft nicht weiter, weil diese Vorschrift einen unrechtmäßigen Aufenthalt zwischen zwei Zeiträumen rechtmäßigen Aufenthaltes voraussetzt (Hailbronner, a.a.O. § 85 Rn. 6). Duldungen begründen aber keinen rechtmäßigen Aufenthalt in diesem Sinne, weil gemäß § 60a Abs. 3 AufenthG die Ausreisepflicht des Ausländers unberührt bleibt.
Zwar lässt die Formulierung des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG „setzt regelmäßig voraus“ es zu, dass besondere Integrationsleistungen von vergleichbarem Gewicht ebenfalls zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG führen können, auch wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 2 im Einzelfall nicht vollständig erfüllt sind. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn der Ausländer ein Verhalten wie etwa ein herausgehobenes soziales Engagement gezeigt hat, das eine vergleichbare nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet, auch wenn dafür insbesondere die erforderliche Aufenthaltsdauer noch nicht vollständig den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Es ist eine Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (BT-Drucks. 18/4097, S. 42).
Das insoweit allein geltend gemachte Engagement des Klägers im TSV C* … e.V. seit Juni 2014 ist zwar anerkennenswert, aber nicht als besondere Integrationsleistung von vergleichbarem Gewicht zu werten. Selbst wenn sich der Kläger nach wie vor, worüber die Mitgliedsbestätigung des TSV C* … e.V. vom 12.11.2014 naturgemäß nichts aussagt, in der dort beschriebenen Weise engagiert, erscheint eine vergleichbare nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland angesichts der im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer des Klägers erst kurzen Vereinsmitgliedschaft von gut zwei Jahren noch nicht gewährleistet.
2. Nach alledem ist die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO, wonach der Kläger als der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens trägt, abzuweisen.
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 ZPO.

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