Europarecht

Fehlende Entscheidung über Asylantrag mit zureichendem Grund rechtmäßig

Aktenzeichen  M 12 K 16.30680

Datum:
20.5.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
RL 2005/85/EG RL 2005/85/EG Art. 23 Abs. 2 S. 2
VwGO VwGO § 75
AsylG AsylG § 10 Abs. 1, § 15, § 24 Abs. 4
GG GG Art. 20 Abs. 3
RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 3

 

Leitsatz

1 Eine angemessene Frist nach § 75 S. 1 VwGO ist bei der Entscheidung über einen Asylantrag nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit Antragstellung überschritten. Danach bedarf es regelmäßig bestimmter Gründe, die eine längere Bearbeitungszeit als angemessen erscheinen lassen. Das Verfahren muss nach maximal 21 Monaten nach Antragstellung abgeschlossen sein. (redaktioneller Leitsatz)
2 Fristverlängernd kann sich auch das Verhalten des Antragstellers selbst auswirken. Verletzt er seine Mitwirkungspflicht aus § 15 AsylG und erschwert oder verhindert dadurch die Entscheidung der Behörde, kann dies die Angemessenheit der Frist verlängern. (redaktioneller Leitsatz)
3 Die fehlende Mitteilung einer Adressänderung durch einen Antragsteller nach Zuweisung in eine neue Unterkunft stellt eine Verletzung der Mitwirkungspflicht aus § 10 Abs. 1 AsylG dar. Dies kann einen zureichenden Grund für die Nichtbescheidung gem. § 75 S. 3 VwGO darstellen. (redaktioneller Leitsatz)
4 Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Untätigkeitsklage auf Bescheidung eines Asylantrags fehlt, wenn die Entscheidung durch Mitteilung der Adresse hätte erreicht werden können. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
IIII.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Verwaltungsstreitsache konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil sowohl der Klägerbevollmächtigte (Schreiben vom ….3.2016) als auch die Beklagte (Schreiben vom 25.2.2016) auf eine solche verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Klage gem. § 75 VwGO ist unzulässig.
Zwar ist die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 75 Satz 2 VwGO „angemessene Frist“ gegeben. Bis zu welchem Zeitpunkt die Frist für eine Entscheidung über einen Asylantrag noch als angemessen zu bewerten ist, lässt sich nicht verallgemeinernd beantworten, sondern ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig (BVerwG, U. v.11.7.2013 – 5 C 23/12 D – juris – zur Frage der Unangemessenheit der Dauer eines gerichtlichen Verfahrens).
Bei der Beantwortung dieser Frage ist das, auch im elften Erwägungsgrund zur Richtlinie 2005/85/EG bzw. dem achtzehnten Erwägungsgrund zur Richtlinie 2012/32/EU zum Ausdruck kommende, Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einer schnellen und dem an einer inhaltlich richtigen Entscheidung von maßgeblicher Bedeutung. So liegt es gemäß dem achtzehnten Erwägungsgrund zur Richtlinie 2013/32/EU sowohl im Interesse der Mitgliedsstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird. Es gilt daher im Asylverfahren, wie sich aus den europäischen Vorgaben (Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85/EG bzw. Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU) ergibt, dass über den Antrag so rasch wie möglich entschieden werden soll. Dem gegenüber stehen das öffentliche Interesse (Art. 20 Abs. 3 GG) und das private Interesse des Antragstellers an einer inhaltlich richtigen Entscheidung. Dies kann je nach Einzelfall – abhängig von verschiedenen Einflussfaktoren – dazu führen, dass sich die Verfahrensdauer bis zu einer sachlichen Entscheidung über den Asylantrag verlängert.
Bei der Bewertung, ob eine Frist noch als angemessen i. S. v. § 75 Satz 1 VwGO anzusehen ist, spielt insbesondere der Schwierigkeitsgrad einer Entscheidung eine Rolle. Je komplexer sich die im Rahmen der Entscheidung über den Asylantrag ergebenden Fragen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht darstellen, um so mehr Zeit ist der Behörde für die Entscheidung einzuräumen (vgl. Art. 31 Abs. 3 Satz 3 der Richtlinie 2013/32/EU zu der den Mitgliedsstaaten eingeräumten Möglichkeit der Fristverlängerung um höchstens neun Monate). Fristverlängernd kann sich auch das Verhalten des Antragstellers selbst auswirken. Verletzt er seine Mitwirkungspflicht aus § 15 AsylG und erschwert oder verhindert dadurch die Entscheidung der Behörde, kann dies auch die Angemessenheit einer längeren Frist begründen (vgl. Art. 31 Abs.3 Satz 3 lit.c) der Richtlinie 2013/32/EU).
Einen gesetzlichen Anhaltspunkt für die Bestimmung der Angemessenheit der Frist gem. § 75 Satz 1 VwGO im Bereich des Asylrechts bieten die in § 24 Abs. 4 AsylG in nationales Recht umgesetzte asylrechtliche Regelung des Art. 23 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2005/85/EG sowie die Regelung in Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU. So sieht Art. 23 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2005/85/EG vor, dass der Kläger nach sechs Monaten einen Auskunftsanspruch hat. Art. 31 Abs. 3 Satz 1 und 2 der Richtlinie 2013/32/EU sieht nunmehr vor, dass das Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht wird. Vor diesem Hintergrund geht das Gericht davon aus, dass eine angemessene Frist jedenfalls nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit der Asylantragstellung abgelaufen ist (so auch VG Regensburg, B. v.6.7.2015 -RN 1 K 15.31185 – juris). Ist die Entscheidung über den Asylantrag nicht binnen der vorgenannten Regelbearbeitungszeit von sechs Monaten seit Asylantragstellung getroffen worden, bedarf es regelmäßig bestimmter vom Bundesamt darzulegenden Gründe, die eine längere Bearbeitungszeit als angemessen erscheinen lassen. Gem. Art. 31 Abs. 3 Satz 3 der Richtlinie 2013/32/EU können die Mitgliedsstaaten die Sechsmonatsfrist um höchstens neun weitere Monate verlängern, wenn a) sich in tatsächlicher und/oder rechtlicher Sicht komplexe Fragen ergeben; b) eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, das Verfahren innerhalb von sechs Monaten abzuschließen; c) die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Antragsteller seinen Pflichten nach Art. 13 (der Richtlinie 2913/32/EU) nicht nachgekommen ist. Ausnahmsweise können die Mitgliedsstaaten die Fristen gemäß diesem Absatz in ausreichend begründeten Fällen um höchstens drei Monate überschreiten, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zu gewähren, Art. 31 Abs. 3 Satz 4 der Richtlinie 2013/32/EU. Gem. Art. 31 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32/EU können die Mitgliedsstaaten den Abschluss des Prüfungsverfahrens weiter aufschieben, wenn aufgrund einer aller Voraussicht nach vorübergehenden ungewissen Lage im Herkunftsstaat vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, innerhalb der in Absatz 3 festgelegten Fristen zu entscheiden. Die Mitgliedsstaaten schließen das Prüfungsverfahren in jedem Fall innerhalb einer maximalen Frist von 21 Monaten nach der förmlichen Antragstellung ab, Art. 31 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU.
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes ist im vorliegenden Fall eine angemessene Frist für eine Entscheidung über den Asylantrag des Klägers bereits abgelaufen. Der Kläger hat am 28. Juli 2014, mithin vor 22 Monaten, einen Antrag zur Durchführung eines Asylverfahrens beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gestellt (Bl. 3 BA), über den bis heute nicht entschieden ist. Damit sind die in § 24 Abs. 4 AsylG bzw. Art. 31 Abs. 3 Satz 1 und 2 der Richtlinie 2013/32/EU genannten 6 Monate bei weitem überschritten. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass eine Entscheidungsfrist von 22 Monaten im vorliegenden Fall noch angemessen ist; darüber hinaus ist gem. Art. 31 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU auch die maximale Frist von 21 Monaten abgelaufen.
Es liegt aber gegenwärtig ein zureichender Grund im Sinne von § 75 Satz 2 VwGO für die fehlende Entscheidung über den Asylantrag des Klägers innerhalb einer angemessenen Frist vor, so dass die Klage unzulässig ist.
Das Bundesamt hat mit Schreiben vom 6. Oktober 2015 den Kläger unter seiner Adresse in …, …-straße 17 zu einer Anhörung für den 15. Oktober 2016 geladen und ihm mit Schreiben vom selben Tag den Fragebogen zugesandt (Bl. 41 ff. BA). Im Anschreiben zur Übersendung des Fragebogens wird gebeten, den Fragebogen ausgefüllt innerhalb vier Wochen zuzusenden; es wird darauf hingewiesen, dass das Ausfüllen des Fragebogens zwar freiwillig sei, aber zu einer deutlichen Verkürzung des Asylverfahrens führen könne (Bl. 43 BA).
Das Bundesamt hat die Ladung und den Fragebogen auch richtig adressiert. Gem. § 10 Abs. 1 AsylG hat der Kläger während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn Mitteilungen des Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde und der angerufenen Gerichte stets erreichen können; insbesondere hat er jeden Wechsel seiner Anschrift den genannten Stellen unverzüglich anzuzeigen. Gem. § 10 Abs. 2 Satz 1 muss der Ausländer Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrages oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann. Der Kläger wurde über diese Vorschriften auch gegen Unterschrift belehrt (Bl. 7 BA).
Mit Bescheid der Regierung von Oberbayern vom 11. August 2014 wurde der Kläger dem Landkreis … zugewiesen. Als künftiger Wohnsitz wurde ihm die Unterkunft in der …-strasse 17 in … zugewiesen (Bl. 30 BA). Am 16. Februar 2015 hat der Kläger diese Adresse dem Bundesamt mitgeteilt (Bl. 37 BA). Die Adressenänderung mit Bescheid der Regierung von Oberbayern vom 3. März 2015 (…-strasse 39 in …) hat der Kläger dagegen dem Bundesamt nicht mitgeteilt. Deshalb muss er den Versand der Ladung zur Anhörung und des Fragebogens vom 6. Oktober 2015 gegen sich gelten lassen, da die Adresse …-strasse 17 in … die letzte vom Kläger dem Bundesamt mitgeteilte Adresse war.
Da der Kläger die Adressenänderung dem Bundesamt nicht mitgeteilt hat, hat er gegen seine Mitwirkungspflicht gem. § 10 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylG verstoßen. Da er die Ladung zum Anhörungstermin und den Erhalt des Fragebogens gegen sich gelten lassen muss (§ 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG), hat er durch das Nichterscheinen zum Anhörungstermin am 15. Oktober 2015 und dadurch, dass er den Fragebogen zur Verfahrensbeschleunigung nicht ausgefüllt zurückgesandt hat, seine Mitwirkungspflicht im Asylverfahren nicht erfüllt. Deshalb liegt für die Nichtentscheidung des Bundesamtes ein zureichender Grund gem. § 75 VwGO vor.
Im Übrigen fehlt der Klage auch das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, weil das Ergebnis – Entscheidung über den Asylantrag – auf einfachere Weise durch Mitwirkung des Klägers bei der Behörde erreicht werden kann. Die Behörde hat im Oktober 2015 alles ihr Zumutbare getan, um über den Asylantrag zu entscheiden. Sie hat dem Kläger einen Termin zur Anhörung geschickt und ihm einen Fragebogen zur Verfahrensbeschleunigung übersandt. Dass weder die Ladung noch der Fragebogen den Kläger erreicht haben, liegt in seinem Verantwortungsbereich, weil er entgegen der gesetzlichen Verpflichtung gem. § 10 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG die Änderung seiner Anschrift nicht dem Bundesamt mitgeteilt hat.
Der Klage war daher abzuweisen. Die Kostenentscheidung bestimmt sich nach § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen